Die Führer des Nigeria Labour Congress (NLC) und des Trade Union Congress (TUC) haben den landesweiten Generalstreik für einen höheren Mindestlohn am zweiten Tag „für eine Woche“ ausgesetzt. In aller Eile haben sie Verhandlungen mit der Regierung und dem Arbeitgeberverband aufgenommen.
Die Gewerkschaften sind fest entschlossen, den massiven Widerstand der nigerianischen Arbeiterklasse gegen die grauenhaften Lebensbedingungen zu unterdrücken. Diese haben sich durch die Reaktion der herrschenden Klasse auf die Corona-Pandemie, die steigenden Preise wegen des Ukrainekrieges und die katastrophale Austeritätspolitik der Regierung noch verschlimmert. Die Gewerkschaften haben sich entschieden, das kapitalistische Regime, das mit der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten konfrontiert ist, zu stützen.
Am 3. Juni begannen Arbeiter in ganz Nigeria einen unbefristeten Streik im Rahmen ihres seit langem andauernden Kampfs für einen existenzsichernden Mindestlohn. Ein solcher würde allerdings nur für diejenigen gelten, die reguläre Arbeitsverhältnisse haben (92 Prozent arbeiten im „informellen Sektor“, wo die Löhne noch weitaus niedriger sind). Ein besonderes Anliegen des Streiks war der Kampf gegen die steigenden Strompreise.
Durch den Streik kam kurz nach 2 Uhr morgens die Stromversorgung zum Erliegen; das ganze Land versank in Dunkelheit. Zahlreiche Flüge von Lagos, dem verkehrsreichsten Flughafen, und der Hauptstadt Abuja wurden storniert. Schulen, Büros und Krankenhäuser blieben geschlossen.
Der für 2019 vereinbarte Mindestlohn von 30.000 Naira (rund 18 Euro) pro Monat war im April ausgelaufen. Daraufhin forderten die Gewerkschaften 494.000 Naira (etwa 300 Euro) pro Monat, um den starken Anstieg der Lebenshaltungskosten infolge von Präsident Bola Tinubus Marktreformen auszugleichen. Berichten zufolge zogen die Regierung und der Arbeitgeberverband 62.000 Naira (37 Euro) im Monat in Betracht. Zu diesem Hungerlohn hatte der NLC zuvor erklärt: „Das Gegenangebot der Regierung ist angesichts des schrecklichen Leids, verursacht durch die unsensible und repressive Wirtschaftspolitik der Regierung, ein Hohn.“
Informationsminister Mohammed Idris erklärte, die Forderung der Gewerkschaften würde die Lohnkosten der Regierung um 9,5 Billionen Naira (5,81 Milliarden Euro) erhöhen, was „die Wirtschaft destabilisieren könnte“.
Die Forderung von 494.000 Naira lag bereits niedriger als die 600.000 Naira, welche die Gewerkschaften in öffentlichen Reden erhoben hatten, und die Regierung hatte sich bei ihrem Angebot kaum bewegt. Shittu Lawal, ein Beschäftigter des öffentlichen Dienstes in der nordnigerianischen Stadt Kano, erklärte gegenüber der BBC, er erwarte mindestens 100.000 Naira (60 Euro) pro Monat: „Sogar 100.000 Naira werden nicht ausreichen, weil die Preise auf dem Markt gestiegen sind, aber es wird besser sein als das, was wir jetzt haben. Ich gebe täglich 500 Naira [30 Cent] aus, um zur Arbeit zu kommen, was nicht leicht ist. Wir werden jetzt an die Arbeit zurückkehren und weiter für mehr kämpfen.'
Die Gewerkschaften weigern sich, den Streik wieder aufzunehmen, und behaupten, die Regierung prüfe ihre neueste Forderung von 250.000 Naira (etwa 150 Euro) pro Monat. Das ist weniger als die Hälfte dessen, was die Arbeiter erwartet haben. Gleichzeitig weisen die Bürokraten auf die „große Kluft“ hin, die zwischen dieser Forderung und den 62.000 Naira (37 Euro) pro Monat besteht, die der Präsident offenbar angeboten hat. Früheren Medienberichten zufolge sollen die Gewerkschaften diesem Betrag schon zugestimmt haben, aber die Gouverneure der Bundesstaaten hätten ihn abgelehnt.
Der Streik ist die vierte größere Aktion seit Bola Tinubu (All Progressives Congress) im letzten Mai Präsident wurde. Tinubu hatte mit weniger als 50 Prozent der Stimmen gewonnen, und die Wahl, an der sich nur 27 Prozent beteiligten, war von Betrug und anderen Unregelmäßigkeiten geprägt. Das hatte wütende Proteste und eine ganztägige Ausgangssperre im Bundesstaat Kano zur Folge. Es herrscht weit verbreitete Wut über die Massenarbeitslosigkeit, allgegenwärtige Armut – etwa 87 Millionen der 229 Millionen überwiegend jungen Einwohner Nigerias leben in Armut – und die beispiellose soziale Ungleichheit im einwohnerreichsten Land Afrikas.
Tinubus Amtsvorgänger Muhammadu Buhari, der nach acht Jahren zurückgetreten war, hat Tinubu eine leere Staatskasse und einen riesigen Schuldenberg hinterlassen. Daher machte sich Tinubu schnell daran, die Forderungen der Gläubiger Nigerias umzusetzen, darunter die Abschaffung der Benzinpreissubvention, die vor Jahrzehnten eingeführt worden war. Nigeria ist zwar der größte Ölförderer Afrikas, aber verfügt nur über geringfügige Raffineriekapazitäten.
Die nigerianische Zentralbank (CBN) gab den Kurs der Naira frei, der zuvor an den US-Dollar gebunden war, um die Wechselkurse auf dem offiziellen und dem Schwarzmarkt zu vereinheitlichen. Bis Februar dieses Jahres war der Naira um 70 Prozent gefallen, was die CBN dazu zwang, bewaffnete Razzien an Devisenbörsen im ganzen Land anzuordnen und zwei Vorstände der Kryptowährungsbörse Binance zu verhaften. Außerdem sah sich die Regierung gezwungen, weitere Kredite zu beantragen. Auf Bundes- als auch auf Landesebene gibt die Regierung mehr für Schuldentilgung aus als für die öffentliche Infrastruktur und für Dienstleistungen.
Da Nigeria bei den meisten lebenswichtigen Gütern, einschließlich Nahrungsmitteln und Medizin, von Importen abhängig ist, führte die Geldentwertung zu einem sprunghaften Anstieg der Inflation: Im April lag sie mit 34 Prozent auf dem höchsten Stand seit März 1996, und bei Lebensmittelen stieg sie von 25 Prozent vor einem Jahr auf 41 Prozent.
Der Internationale Währungsfonds erklärte: „Das Pro-Kopf-Einkommen stagniert. Das reale BIP-Wachstum verlangsamte sich im Jahr 2023 auf 2,9 Prozent, mit einer schwachen Landwirtschaft und einem schwachen Handel (...) trotz der Steigerung der Ölförderung und der Finanzdienstleistungen.“ Der IWF rechnet damit, dass Nigeria, das einmal die größte Wirtschaft Afrikas war, auf den vierten Platz hinter Ägypten und Algerien abrutschen wird.
Nigerias monatlicher Mindestlohn von 30.000 Naira, der im Mai 2019 noch 77,46 Euro und im Mai 2023, als Tinubu Präsident wurde, 59,94 Euro betrug, ist heute auf nur 18,34 Euro gesunken. Kinder gehen hungrig zu Bett, und die Kranken müssen auf Medikamente verzichten. Bei der Verteilung von kostenlosen Reissäcken kam es zu Massenanstürmen mit Todesopfern.
Da 75 Prozent der nigerianischen Stromversorgung aus diesel- und benzingetriebenen Generatoren kommt, hat die Abschaffung der Subventionen die Treibstoffkosten verdreifacht. Strom und Verkehrsmittel sind unerschwinglich geworden, und die Produktionskosten wurden in die Höhe getrieben.
Ethnische und religiöse Konflikte, darunter bewaffnete Konflikte mit Dschihadisten-Gruppen im Nordosten und biafranischen Separatisten im Südosten, Konflikte zwischen Viehzüchtern und Ackerbauern im Norden und der Mitte des Landes, die weit verbreiteten Aktivitäten krimineller Banden sowie Entführungen zur Erpressung von Lösegeld haben die Landwirtschaft stark mitgenommen. Nigeria, das einmal ein großer Nettoexporteur von Nahrungsmitteln war, muss mittlerweile einen Teil seiner Nahrungsmittel importieren.
Im Juli letzten Jahres verhängte Tinubu den Ausnahmezustand. Seither hat sich die Lage weiter verschlechtert. Die Zentralbank hat mehrfach die Zinssätze auf beispiellose 26,25 Prozent angehoben, um den Naira zu stabilisieren und die steigende Inflation einzudämmen.
Jedes Jahr kommen vier bis fünf Millionen junge Nigerianer auf den Arbeitsmarkt und haben Schwierigkeiten, eine Stelle zu finden. Laut offiziellen Statistiken lag die Arbeitslosenquote im Jahr 2020 bei 33,3 Prozent, und die Unternehmensberatungsfirma KPMG schätzt sie mittlerweile auf etwa 40 Prozent, was zu einem sprunghaften Anstieg der Zahl junger Nigerianer geführt hat, die auswandern wollen.
In einigen Bundesstaaten kam es zu Protesten und Straßenblockaden gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Im Bundesstaat Kano gab Gouverneur Alhaji Abba Kabir Yusuf Anfang des Jahres zu, dass die Menschen hungern.
Die Krise der Lebenshaltungskosten hat in mindestens zwölf weiteren afrikanischen Staaten große Proteste ausgelöst, u.a. in Kenia, Südafrika, Tunesien, der Demokratischen Republik Kongo, Algerien, Sudan und Uganda. Das Armed Conflict Location and Data Project hat etwa 59.000 Berichte über Proteste in Afrika zwischen Januar 2016 und Mai 2024 ausgewertet, laut denen es bei mehr als 7.000 Protesten – die meisten davon fanden nach dem März 2020 statt – um Nahrungsmittel, Löhne und Gehälter oder steigende Preise ging.
Dies verdeutlicht die Unfähigkeit der nationalen Bourgeoisie, seit der Unabhängigkeit die Probleme der imperialistischen Unterdrückung für die Arbeiterklasse zu lösen. Es bestätigt Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, die erklärt, dass in kolonialen und unterdrückten Ländern nur der Kampf der Arbeiterklasse um die Macht den Kampf gegen den Imperialismus voranbringen sowie wirkliche nationale Befreiung und demokratische und soziale Rechte für die Arbeiterklasse und die unterdrückten Massen gewährleisten kann.
Die Arbeiterklasse muss sich über alle Grenzen von Rasse, Ethnie, Geschlecht und Nationalität hinweg zusammenschließen und den Kampf für den Sozialismus aufnehmen. Die extremen Bedingungen befeuern eine mächtige revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse, nicht nur in Nigeria, sondern in ganz Afrika und auf der ganzen Welt. Die wichtigste Aufgabe besteht darin, dieser Bewegung eine politische Richtung zu geben und in allen Ländern Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale aufzubauen.