Die iranisch-deutsche Fotografin Shirin Abedi wurde aufgefordert wurde, sich zu entschuldigen, weil sie bei einer Preisverleihung der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh) die Parole „Free Palestine“ (Freiheit für Palästina) geäußert hat. Das Vorgehen gegen sie ist beschämend.
Abedi ist eine angesehene Fotojournalistin, deren Arbeiten in Deutschland, Frankreich, Finnland, Estland und Bangladesch ausgestellt wurden. Im Laufe ihrer Karriere hat sie für führende deutsch- und englischsprachige Medien gearbeitet.
Am 12. Oktober veranstaltete die DGPh ihre jährliche Preisverleihung, bei der u.a. Abedi für ihr geplantes Projekt ausgezeichnet wurde, die Folgen des Diebstahls und des illegalen Handels von kulturellen Artefakten aus Südwestasien zu erforschen.
Als Abedi, die eine arabische Kufiya trug, ihren Preis entgegennahm, erklärte sie in einer einminütigen Rede, dass „während wir hier feiern, gerade ein Völkermord für plausibel erklärt ist, und an den Leuten in Gaza und Palästina passiert.“ Sichtlich bewegt, fügte sie hinzu, dass „im letzten Jahr 126 meiner Kolleg/innen in Palästina getötet wurden“. Sie fuhr fort mit dem Appell: „Bleibt widerständig und bildet euch weiter.“ Daraufhin machte sie ein Friedenszeichen und beendete ihre Ausführungen mit dem Aufruf: „Free Palestine!“
Nur zwei Tage später erhielt Abedi einen skandalösen Brief vom Vorsitzenden der DGPh-Sektion Kunst, Markt und Recht, Thomas Gerwers. Er warf ihr „politische Propaganda“, „dogmatischen Fanatismus“ und „anti-israelische Agitation“ vor. Und das angesichts der Ermordung zehntausender palästinensischer Männer, Frauen und Kinder in Gaza – einem Kriegsverbrechen von beispiellosem Ausmaß.
Gerwers erklärte in seinem Brief weiter: „Als deutsche Kulturgesellschaft stehen wir in einer besonderen Verantwortung für das Existenzrecht des Staates Israel. Ohne wenn und ohne Aber. … Wir sind hier von Dir missbraucht worden, nicht mehr und nicht weniger.“ „Missbraucht“ wurden der arme Gerwers und seine Kollegen also von Abedi!
Er stellte fest, Abedis Rede habe ihn „sprachlos“ gemacht, und forderte die Künstlerin auf, sich zu entschuldigen. Man reibt sich angesichts dieser Heuchelei, Dummheit und Blindheit gegenüber menschlichem Leid erneut die Augen.
Ahmed Zidan, der stellvertretende Direktor für Publikum bei der „Freedom of the Press Foundation“, kommentierte gegenüber Hyperallergic Gerwers widerwärtige Reaktion mit den Worten, sein Brief sei „beispielhaft dafür, was wir im vergangenen Jahr von verschiedenen deutschen Kultureinrichtungen, der Bundes- und den Landesregierungen gegenüber pro-palästinensischen Stimmen und ihren Verbündeten erlebt haben“.
Er fügte hinzu: „Shirins Arbeit veranschaulicht den Kolonialismus, und der Brief der deutschen Institution, die sie angeblich für dieses Werk ausgezeichnet hat, bekräftigt genau das, was sie kritisiert.“
Abedi wehrte sich gegen die Versuche, sie mundtot zu machen, und erklärte gegenüber Hyperallergic, sie habe mit ihren Äußerungen bei der DGPh auf die israelische Gewalt in Gaza und dem Westjordanland aufmerksam machen wollen. Diese Gewalt entfalte sich zudem unter Bedingungen, in denen die Bundesregierung weiterhin Waffen an Israel liefert, die von den Steuerzahlern finanziert werden. „Wenn Ihr zu faul seid, um die Geschichte zu studieren oder Euch ein Verständnis des Kolonialismus anzueignen, schaut einfach nach Palästina und zum zionistischen Apartheidsstaat Israel, der in Palästina einen Völkermord begeht.“
Weiter erklärte Abedi: „Ich mache mir Sorgen über meine Branche [Fotojournalismus und Dokumentarfotografie], weil ich den Eindruck habe, dass die Institution ihre Macht missbraucht.“
„Wenn wir nicht über Menschenrechtsverletzungen und die Gesellschaft, die wir aufbauen, diskutieren, streiten und debattieren... wer soll es sonst tun?“, erklärte Abedi weiter. „Wir sind diejenigen, die visuelle Geschichten erzählen und mit Darstellungen von Gemeinschaften arbeiten. Dieses Schweigen ist beängstigend.“
Die verstärkten Bemühungen, Kritiker des israelischen Massenmords im Nahen Osten zum Schweigen zu bringen, gehen direkt auf die Politik der Bundesregierung zurück.
Die Netanjahu-Regierung weitet derzeit, mit voller Unterstützung der imperialistischen Mächte, ihre Völkermord-Offensive in Gaza auf das Westjordanland und auf den Libanon aus und plant einen Krieg gegen den Iran. Die deutsche Bundesregierung verstärkt unterdessen massiv ihre Unterstützung für Israel.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wies die jüngsten Medienberichte zurück, Deutschland würde seine Waffenlieferungen an Israel einschränken, und betonte, die Unterstützung für Israel werde unvermindert fortgesetzt.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ergänzte diese Äußerungen mit einer reaktionären Hetztirade im Bundestag am 10. Oktober, in der sie Israels Massaker an palästinensischen Zivilisten befürwortete und erklärte, sie habe bei den Vereinten Nationen deutlich gemacht, dass zivile Gebiete ihren Schutzstatus verlieren könnten, weil sie von Terroristen missbraucht werden.
An der Kampagne zur Unterdrückung jeglichen Widerstands gegen Israel beteiligen sich alle deutschen Parteien. In Berlin forderte der CDU-Senator für Kultur, Joe Chialo, allen israelkritischen Künstlergruppen die öffentlichen Gelder zu streichen, vor allem denjenigen, die angesichts des Konflikts in Gaza Boykotte unterstützen.
Um Unterstützung für die Palästinenser im Keim zu ersticken, kündigte das Innenministerium Ende September außerdem an, Deutschlands ohnehin schon restriktives Staatsbürgerschaftsrecht zu verschärfen. Schon jetzt müssen Personen, die die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen, in ihren Anträgen mehrere Fragen zum Staat Israel beantworten.
Laut dem NDR geht das Innenministerium jetzt noch weiter und hat verfügt, dass ausländische Staatsbürger, die pro-palästinensische Parolen wie „From the River to the Sea“ in den sozialen Medien posten, die deutsche Staatsbürgerschaft verweigert wird.
Im letzten August wurde ein Demonstrant, der diese völlig legitime Parole bei einer Berliner Kundgebung gerufen hatte, von einem deutschen Gericht zu einer Geldstrafe von 600 Euro verurteilt.
Innenministerin Nancy Faesar (SPD) kommentierte im März das neue Staatsbürgerschaftsgesetz und drohte im Magazin Der Spiegel: „Wer unsere Werte nicht teilt, kann keinen deutschen Pass bekommen. Hier haben wir eine glasklare rote Linie gezogen.“
Abedis Rede bei der DGPh war mutig und verdient Beifall. Doch wie die Ereignisse des letzten Jahres deutlich gezeigt haben, reagiert die politische Elite Deutschlands auf solche prinzipiellen Äußerungen, indem sie ihre Kampagne verschärft, um jede Opposition gegen Israels Terrorkampagne im Nahen Osten zum Schweigen zu bringen.