Anfang August hat die niederländische Ministerin für Ausländerfragen und Integration Rita Verdonk in Ter Apel ein "Abreisezentrum" eröffnet, mit dem die Umsetzung des zu Jahresbeginn beschlossenen so genannten "Amnestiegesetzes" unmittelbar bevorsteht.
Der Name des Gesetzes ist allerdings trügerisch. Es wurde für die 28.500 Asylbewerber geschaffen, die vor dem 1. April 2001 ein Asylgesuch gestellt haben, deren Verfahren aber bis dato nicht abgeschlossen ist. Mit dem Gesetz wurde vorab eine Quote von 2.334 Asylbewerbern fest geschrieben, deren Asylgesuch stattgegeben wird. Die restlichen mehr als 26.000 Flüchtlinge werden in den nächsten dreieinhalb Jahren gnadenlos abgeschoben, unabhängig davon, ob ihnen im Heimatland politische Verfolgung, Folter und/oder Tod droht.
Das so genannte Amnestiegesetz trüge daher besser den Namen Abschiebe- oder Deportationsgesetz.
Die meisten Betroffenen sind dabei sogar nach den Kriterien der zuständigen Behörde für Integration und Einbürgerung von Einwanderern (IND) längst integriert. Sie haben Arbeit, sprechen Niederländisch, sind teilweise mit Niederländern verheiratet und ihre Kinder wurden in den Niederlanden geboren. Viele dieser Kinder besuchen bereits die Schule und sprechen nur Niederländisch. Doch nun erhalten Eltern wie Kinder nach und nach ihre behördliche Anweisung zur Ausreise. Wer dieser innerhalb von acht Wochen nicht nachkommt, wird in Gefängnislagern wie dem in Ter Apel inhaftiert und hat weitere acht Wochen für die "freiwillige Ausreise". Nach dieser Frist folgt die Zwangsdeportation.
In dem Barackenlager nahe der Stadt Groningen sollen bis zu 400 Ausländer gleichzeitig gefangen gehalten werden. Auf dem flachen Land stehen vier Wohnblocks für je 100 Menschen. Jeweils acht Menschen sollen in einer "Wohneinheit" mit Eisenetagenbetten und Metallspinden untergebracht werden. "Im Aufenthaltsraum stehen orangefarbene Plastikstühle und ein Fernseher", so die t-online Nachrichten. Hier sollen die Insassen die Zeit bis zu ihrer Deportation totschlagen.
Die Wärter der Deportationslager kontrollieren zweimal täglich die Anwesenheit der Häftlinge. Dazu werden jedes Mal die Fingerabdrücke genommen und mit den Karteikarten des IND verglichen. Sollte ein Inhaftierter vermisst werden, wird umgehend eine polizeiliche Fahndung eingeleitet.
Die niederländische Regierung will die erhobenen Fingerabdrücke in einer europaweiten Datei allen EU-Mitgliedsstaaten zur Verfügung stellen und setzt damit als eine der Ersten entsprechende Beschlüsse der EU um.
Das "Amnestiegesetz" markiert den derzeitigen Höhepunkt der von allen im Parlament vertretenen Parteien getragenen Repressalien gegen Ausländer und Flüchtlinge in den Niederlanden, die bereits vor dem Aufstieg des rechten Populisten Pim Fortuyn und seiner LPF (Liste Pim Fortuyn) begannen.
Auch die links von der Sozialdemokratie stehende Sozialistische Partei (SP) forderte die konsequente Anwendung der bestehenden Gesetze, da Nachsicht und Milde nur noch mehr Flüchtlinge anziehen würden, "viel mehr als die niederländische Gesellschaft auf natürliche Weise integrieren könnte", wie der Amsterdamer SP-Vorsitzende in einem Interview von 1998 sagte.
Die sozialdemokratische Regierung unter Wim Kok (Partei von der Arbeit, PvdA) hatte bis zur ihrer Abwahl im Mai 2002 die Abriegelung der Grenzen für Flüchtlinge und erste Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern oder illegal im Land lebenden Ausländern durchgesetzt. Der zuständige sozialdemokratische Staatssekretär wurde nach dem Regierungswechsel vor zwei Jahren Bürgermeister von Amsterdam. Dort erklärte er Stadtteile mit hohem Ausländeranteil zu Gefahrenzonen, in denen demokratische Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden. Die Polizei wurde ermächtigt, verdachtsunabhängige Leibesvisitationen und Hausdurchsuchungen vorzunehmen.
Die Liste Pim Fortuyn diente dann während ihres Aufstiegs und ihrer kurzen Regierungsbeteiligung als Feigenblatt, hinter dem das politische Establishment der Niederlande noch weiter nach rechts rückte.
Die tiefe Verankerung dieser fremdenfeindlichen Politik in allen Parteien des niederländischen Parlaments zeigte sich dann auch in dem Wahlkampf zu den Parlamentswahlen vom Januar 2003, der dem Ende der Koalition aus CDA (Christlich Demokratischer Appell), VVD (Volkspartei für Freiheit und Demokratie) und LPF folgte. Unverblümt hetzte beispielsweise der Vorsitzende der PvdA, Wouter Bos, gegen alle Fremden, indem er eine härtere Gangart gegen Immigranten, die sich angeblich nicht integrieren wollten, forderte. Auf nicht erfolgreich durchgeführte Sprachkurse sollten Strafen folgen.
Die ehemaligen Regierungsparteien CDA und VVD verwiesen auf die gesteckten Ziele der vorangegangenen Regierung. Die Ausweispflicht, um illegal im Land lebende Menschen besser verfolgen zu können, oder die Aufstockung der Mittel der Ausländerpolizei und die Ausweitung ihrer Befugnisse sollten auch von einer neuen Regierung ohne Beteiligung der LPF durchgesetzt werden.
Die Folgen der Ausländerpolitik
Im Juni 2003 formierte sich dann die neue Koalitionsregierung aus CDA, VVD und D'66 (Demokraten '66). Die Ausländerpolitik dieser Regierung geht noch über die Ziele der vorangegangenen Koalition mit LPF-Beteiligung hinaus. Sie zielt darauf ab, Flüchtlingen, niedrigqualifizierten Arbeitsmigranten und Familienangehörigen von seit Jahren im Land lebenden Ausländern die Einreise zu verweigern oder extrem zu erschweren.
So wurde die Prüfung von Asylanträgen, die Abschiebung von abgelehnten Bewerbern, sowie die Überwachung der Sprachkurse und der anschließenden Sprachprüfungen unter dem Dach des IND vereint. Dieser ist nun auch zuständig für das Ausstellen der Aufenthaltsgenehmigungen und von Personalausweisen für Ausländer - eine Maßnahme der Regierung, die vor ihr nur die Nazis im besetzten Holland durchführten.
Für das Ausstellen der Personalausweise haben Ausländer enorme Gebühren zu zahlen. Eine kroatische Familie aus Arnheim musste beispielsweise 1290 Euro für ihren Personalausweis bezahlen. Den Ausweis, der bis Mitte August dieses Jahres gültig sein sollte, hatte sie bis Anfang Juli 2004 noch nicht erhalten. Gleichzeitig musste die dreiköpfige Familie weitere 855 Euro für die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsgenehmigung zahlen.
Für Familienzusammenführungen, auf die durch die Europäische Menschenrechtskonvention ein international geltender Rechtsanspruch besteht, wurden schier unüberwindliche Verwaltungshürden aufgebaut. Die Gebühren für die Aufenthaltsgenehmigungen bei Familienzusammenführungen wurden drastisch um 505 Euro angehoben. Außerdem muss ein bereits in den Niederlanden wohnender Ausländer ein Einkommen nachweisen, dass um 20 Prozent über dem Durchschnittseinkommen liegt.
Der nachkommende Angehörige muss den obligatorischen Sprachkurs erfolgreich absolvieren, der bis zu 3000 Euro kosten kann. Davon wird nur dann etwas erstattet, wenn der Kurs erfolgreich abgeschlossen wird. Die Fortschritte seiner Integration muss das Familienmitglied nach sechs Monaten im Land bei den Behörden nachweisen, die diese Nachweise beliebig oft einfordern können. Auch für 450.000 seit Jahren im Land lebende Ausländer, bei denen die Regierung "Integrationsdefizite" ausgemacht hat, soll der teure Sprachkurs zur Pflicht werden.
Des Weiteren plant die Regierung die Sprachkurse ins Heimatland des Einreisenden zu verlegen, wo der Antragsteller selbst für seine Sprachausbildung sorgen muss und nur noch die - rund 300 Euro teure - Abschlussprüfung im Konsulat abgelegt wird. Dieser Gesetzesentwurf steht vor seiner Verabschiedung im Parlament und soll 2005 in Kraft treten, womit die Niederlande das erste Land in Europa wären, das die in der ganzen EU geplanten "pre-arrival" Sprachkurse einführt.
Bei den Asylverfahren wird ein offener Bruch mit der Genfer Flüchtlingskonvention vollzogen, und selbst die erst vor kurzem von der Europäischen Union beschlossenen Mindeststandards für Asylverfahren werden noch unterlaufen.
Dem Asylbewerber bleibt nur noch ein 48-stündiges Schnellverfahren, das im Zuge der "Entbürokratisierung" das alte Asylverfahren ersetzt. Während der Antragsteller früher genügend Zeit hatte, um sich juristisch beraten zu lassen, bleibt den Asylbewerbern seit der Einführung des Schnellverfahrens zwar die theoretische Möglichkeit einen Anwalt hinzuzuziehen, doch kaum jemand der größtenteils sprachunkundigen und mit der Fluchtsituation überforderten Menschen weiß um dieses Recht - und dies ist sicherlich die Intention des neuen Verfahrens.
Innerhalb der 48 Stunden werden zwei Interviews genannte Verhöre durch Mitarbeiter des IND durchgeführt. Verstoßen Angaben des Flüchtlings gegen die formalen Regeln des IND, oder treten nach Ansicht des Verhörenden Widersprüche auf, oder kann der Flüchtling zu Punkten keine Angaben machen, die der IND als relevant für die Anerkennung sieht, folgt die Ablehnung. Die Interviews werden mit jedem Flüchtling gemacht, unabhängig von Gesundheitszustand oder Alter. Auch Kinder, Kranke und Verwirrte werden dem Verfahren unterzogen. Derzeit wird praktisch kein Asylantrag mehr anerkannt; volles Asyl erhalten weniger als 2 Prozent der Flüchtlinge.
Den Verwaltungen der Großstädte wurden weitere Vollmachten gewährt, sich vor Fremden abzuschotten. Neben der Erklärung ganzer Stadtteile zu Gefahrenzonen können diese Städte nun selbst ebenfalls nach Gutdünken Mindesteinkommen festlegen, die ein Ausländer nachweisen muss, bevor er die Erlaubnis bekommt, eine Wohnung in der betreffenden Stadt zu beziehen.
Diese Abschottungspolitik zeigt erwartungsgemäß Wirkung: Die Zahl der Asylanträge sinkt kontinuierlich. Im ersten Halbjahr dieses Jahres gingen nur noch 4.832 Anträge ein, gegenüber 7.466 im ersten Halbjahr des vergangenen Jahres. Damit scheint die Anzahl der Flüchtlinge, die in den Niederlanden Schutz suchen in diesem Jahr unter 10.000 zu fallen - entgegen noch 43.560 im Jahr 2000.
Die bisher letzte Stufe dieser menschenverachtenden Politik ist die gesetzlich angeordnete Abschiebung der 26.000 Flüchtlinge, deren Asylverfahren vor dem 1. April 2001 gestellt und noch nicht abgeschlossen waren. Die zuständige Ministerin Rita Verdonk feierte die Eröffnung des Deportationslagers in Ter Apel nun als "Triumph" ihrer Politik, ein "Triumph", der auf dem Rücken der Schwächsten Mitglieder der Gesellschaft ausgetragen wird.
Widerstand in der Bevölkerung
Trotz der Hetze gegen Ausländer von offizieller Seite ist die Mehrheit der Bevölkerung gegen diese Politik. Über 60 Prozent gaben bei einer der letzten Umfragen an, dass sie das "Amnestiegesetz" und die daraus resultierenden Deportationen ablehnen.
Seit der Annahme des Gesetzes durch das Parlament gab es mehrmals Demonstrationen, um dieser Opposition Ausdruck zu verleihen, zuletzt während der Eröffnung des Lagers Ter Apel. Die Demonstranten verglichen dabei die Politik der niederländischen Regierung mit den Maßnahmen und Methoden der Nazis gegen Juden und politische Gegner. Im Februar entrollten Demonstranten im Parlament ein Banner, auf dem die Asylpolitik der Ministerin Verdonk (VVD) mit den Holocaustdeportationen verglichen wurde, ein Vergleich, der auf keiner der folgenden Demonstrationen fehlte.
Ein auf Asylrecht spezialisierter Anwalt verteilte auf einer Tagung Sticker mit der - an die Warnungen auf Zigarettenpackungen angelehnten - Aufschrift: "Achtung, der IND kann erhebliche Beeinträchtigung der Gesundheit oder schleichenden Tod auslösen." Eine Rapband, die während der Protestveranstaltung in Ter Apel spielte, hatte eigens Songs geschrieben, in denen die Lagerangestellten mit den Aufsehern der Nazi-Konzentrationslager verglichen wurden.
Es ist kein Wunder, dass sich die Bevölkerung angesichts der menschenverachtenden Politik gegen Flüchtlinge und der anwachsenden Repressionen gegen die gesamte Bevölkerung an das dunkelste Kapitel der niederländischen Geschichte erinnert fühlt.
Doch die Gegner dieser Politik finden keine prinzipielle Unterstützung durch die etablierten Organisationen. Die im Parlament vertretenen Parteien unterstützen die fremdenfeindliche Politik seit Jahren - unabhängig von welcher Koalition sie durchgeführt wurde. Erschrocken über die breite Opposition in der Bevölkerung forderten Vertreter der PvdA, von Groenlinks und der Sozialistischen Partei, es sollten mehr als die 2.334 anerkannten Anträge bewilligt werden. Das Gesetz selbst stellten sie jedoch zu keiner Zeit in Frage.
Ebenso heuchlerisch erwies sich der Widerstand der niederländischen Städte-Vereinigung (VNG). Diese hatte das "Amnestiegesetz" zuerst rundweg abgelehnt und sich im Namen der Stadtverwaltungen geweigert, auf dem Boden der Kommunen Deportationszentren zu errichten.
Doch im Laufe der Diskussion wurde deutlich, dass sich der Widerstand der Kommunalpolitiker nicht gegen das unmenschliche Gesetz an sich richtete. Vielmehr entsprang es der Angst davor, die neuen Lagergefängnisse würden ebenso betrieben wie die zwischen 1992 und 2000 bestehenden Gefängnisse für Asylbewerber und abgelehnte Flüchtlinge. Dort war es die Regel, dass Flüchtlinge, die sich mehrmals erfolgreich der Abschiebung widersetzt hatten oder die in körperlich oder geistig desolatem Zustand waren, einfach auf die Straße gesetzt oder am nächsten Bahnhof ausgesetzt wurden, mit der Anweisung, das Land binnen 48 Stunden zu verlassen.
Nun fürchteten die Bürgermeister der Kommunen, dass eine neue Welle Obdachloser auf sie zukommen und die Anzahl illegal in ihrer Gemeinde lebender Ausländer steigen könnte. Die Versicherung von Ministerin Verdonk, diesmal würde rigoros abgeschoben und wer nicht abgeschoben werden könne, bliebe inhaftiert, änderte ihre Meinung. In einer öffentlichen Erklärung stellte sich die VNG hinter das "Amnestiegesetz".
Obwohl sie sich der Solidarität des Großteils der Bevölkerung sicher sind, sehen sich die Betroffenen ohne Unterstützung im etablierten Apparat und greifen zu drastischen Mitteln. Ein mit einer Niederländerin verheirateter und nun von Abschiebung bedrohter Flüchtling nähte sich selbst den Mund und die Augenlider zu und trat in den Hungerstreik, in der Hoffnung, dadurch sein Bleiberecht zu erkämpfen.
Schätzungen niederländischer Betreuer früherer Hungerstreikaktionen zufolge könnten bis zu 300 Betroffene in den Hungerstreik treten. Ihnen wurde geraten, sich zusammen zu tun und einen möglichst öffentlichkeitswirksamen Ort zu suchen. Ihr Vorschlag sich an die Kirche zu wenden, die schon früher Hungerstreikaktionen von Flüchtlingen unterstützt hatte, wurde von dieser jedoch postwendend negativ beschieden.