Nach der Katastrophe von New Orleans: Menschliches Elend und Profitprinzip

Von dem französischen Romanautor Balzac stammt der berühmte Satz: "Hinter jedem großen Vermögen steht ein großes Verbrechen". In den letzten anderthalb Jahrhunderten hat ihn niemand widerlegt. Im Gegenteil, im heutigen Amerika wird man jeden Tag eindrucksvoll an diese Worte erinnert. Nirgendwo sonst hat die herrschende Elite so erfolgreich das ganze öffentliche Leben an dem Ziel ausgerichtet, die Anhäufung persönlichen Reichtums um jeden Preis zum Leitprinzip der Gesellschaft zu machen. Zur Zeit zahlt die amerikanische Bevölkerung einen schrecklichen Preis für diesen ‚Erfolg’.

Die Katastrophe von New Orleans, bei der ein Gemisch aus Kurzsichtigkeit, Gier, Inkompetenz und Korruption Zehntausenden den Tod gebracht hat, ist nur ein konzentrierter Ausdruck dessen, was täglich in den Vereinigten Staaten vor sich geht.

Die Plünderung der Wirtschaft und der Staatskassen durch die Wirtschaftselite hat ein furioses Tempo erreicht. Dutzende Milliarden Dollar werden auf unterschiedlichen Wegen legal oder illegal abgezweigt: mittels Steuergeschenken für Konzerne und die Reichen, der Zerstörung von Sozialprogrammen, deren Ziel es ist, die Lage der Arbeiterklasse und der Armen zu erleichtern, der Einführung von Gesetzen, die direkt auf die Interessen der Großindustrie zugeschnitten sind (und die oft von ihren eigenen Vertretern entworfen werden), der Beschneidung von staatlichen Behörden und Dienstleistungen, der Plünderung von Wirtschaftsbetrieben auf Kosten der Beschäftigten und Kleinaktionäre.

Das Vermögen der Superreichen wird auf Kosten und zum Schaden der Gesellschaft angehäuft. Die Vorstellung, die von den Verteidigern des amerikanischen Kapitalismus propagiert und von viel zu vielen seiner Opfer akzeptiert wird, dass das Vermögen der Superreichen gesellschaftlich neutral, sozusagen ‚ohne Opfer’ erworben werde, dass im Verlauf seiner Anhäufung ‚niemandem Schaden zugefügt werde’, ist eine Fiktion.

Die Quelle des Reichtums ist die Arbeiterklasse. Profite werden in erster Linie durch ihre Ausbeutung angehäuft.

Aber im heutigen Amerika, wo die Grenze zwischen Kapitalismus und offenem Gangstertum so sehr verschwimmt, werden Vermögen auf besonders parasitäre und gesellschaftlich zerstörerische Weise erworben. Während die Katastrophe von New Orleans die große Mehrheit der Bevölkerung bestürzt und entsetzt, sind die Freibeuter der amerikanischen Wirtschaft schon damit beschäftigt, sie in klingende Münze umzusetzen. Das Gedächtnis ist manchmal zu kurz, besonders in den USA. Niemand sollte vergessen, dass die Energiehändler von Enron "Brenn Baby, brenn" sangen, als Kalifornien sich unter einer Energiekrise wand.

New Orleans nach der Flut bietet neue Chancen für einen Raubzug. Schließlich besteht eines der größten Probleme der amerikanischen Stadtzentren darin, dass in ihnen normalerweise die ärmsten Teile der Bevölkerung wohnen. Vom Standpunkt der Bankiers, der Immobilienhaie und Hotelkettenbesitzer sind diese Menschen nur eine Belastung für den Sozialetat, eine Brutstätte für Verbrechen und Krankheiten, sie sind ganz einfach nur lästig.

New Orleans könnte zu einem großen sozialen Experiment werden. Der überlebende Teil der Bevölkerung der Innenstadt ist evakuiert worden, und das Militär patrouilliert in den Straßen. Das Schicksal derer, die es nach Baton Rouge, Houston, San Antonio, Atlanta und in andere weit entfernte Gegenden verschlagen hat, ist noch nicht entschieden, aber man kann sicher sein, dass die politischen und Finanzinteressen der Region nicht die Absicht haben, sie in diese so wertvollen Immobilien zurückkehren zu lassen. Nicht jedenfalls, wenn sich die Möglichkeit ergeben sollte, die Stadt ohne sie wieder aufzubauen.

Die Diskussionen und Planungen, darauf kann man wetten, sind schon im Gange. Nach allem, was wir über die Reichen in den USA und ihre Vorlieben wissen, kann man sich vorstellen, was für ein ‚neues’ New Orleans sie sich ausmalen: ein Las Vegas der Golfküste, "kreolischen" Kitsch von gigantischem Ausmaß. Künstliche Fassaden für den Tourismus haben in New Orleans schon weit um sich gegriffen, aber jetzt, was für neue Möglichkeiten... eine simulierte Bourbon Street auf der Bourbon Street selbst! Die ehemaligen Bewohner können ja als Zimmermädchen und Croupiers zurückkommen.

Das Wall Street Journal steht, wie es ihm zusteht, an der Spitze dieser Bewegung. Es empfiehlt George Bush und den Republikanern im Kongress, nicht "Geld an alles zu verschwenden", zum Beispiel an die Schaffung von Arbeitsplätzen und den Bau von anständigen Häusern für Hunderttausende obdachlos gewordener Menschen. Nein, das Journal empfiehlt: "Eine Alternative könnte sein, das ganze betroffene Gebiet für einige Zeit zu einer Sonderwirtschaftszone zu machen, in der sowohl Steueranreize wie auch die Aussetzung staatlicher Vorschriften die Investitionen stimulieren könnten."

Eine solche Operation würde ganz New Orleans in eine riesige Billiglohnzone verwandeln, die den räuberischsten und rücksichtslosesten Geschäftemachern zum Fraß vorgeworfen wird. Die leidende und so gut wie wehrlose Bevölkerung wäre ihrer Gnade ausgeliefert. Die "Aussetzung staatlicher Vorschriften" würde als erstes bedeuten, das Bacon-Davis-Gesetz außer Kraft zu setzen, dass von Firmen, die Bauaufträge von der Regierung erhalten, Lohnzahlung nach Tariflöhnen verlangt.

Das Szenario des Journal würde zweifellos Steuerstundungen für Banken und andere Finanzinstitute beinhalten, die Kredite an Kapitalisten geben, die in den Wiederaufbau investieren. Im Kern würde die Regierung den Konzernen, die Bewohner zu Billiglöhnen beschäftigen, eine bestimmte Profitrate garantieren - und alles mit dem Geld der Steuerzahler. Jeder Cent würde auf die eine oder andere Weise in den Taschen der Kapitalisten landen.

Das städtebauliche Ergebnis wäre die oben erwähnte Monstrosität. Die Herausgeber des Journal verraten ihre Absichten, wenn sie hinzufügen: "Es besteht zwar die Gefahr, dass schwimmende Kasinos steuerlich gefördert werden, aber das größere Risiko besteht darin, zwanzig Milliarden Dollar oder mehr allein für die Prioritäten von Kommunalpolitikern zu verschleudern." Wir verteidigen nicht die Politiker von New Orleans, aber was das Journal offensichtlich befürchtet und verabscheut, sind solche Dinge wie Wohnungsbau, Sozialleistungen, Nahverkehr usw..

Es ist jetzt schon klar, dass die Katastrophe in Louisiana, Mississippi und Alabama - bei der Tausende umgekommen sind und Hunderttausende ruiniert wurden - für einige lediglich ein Tunnel mit Licht am Ende ist, wobei das sogar ein ziemlich helles Licht sein könnte. Sie geben sich kaum Mühe, diese Tatsache zu verbergen. Das ist Amerika im Jahre 2005. Ist nicht auch so schon alles im Sinne der Reichen organisiert? Warum sollten sie ihre Freude über neue Möglichkeiten, sich zu bereichern, verstecken?

So bringt die New York Times einen dreisten Artikel mit dem Titel "Auf Houston kommt nach Katrina ein Wirtschaftsboom zu", in dem einige aus der Elite der Stadt recht offen mit den guten Zeiten prahlen, die auf die Zerstörung von New Orleans folgen werden. Der Artikel stellt fest, dass "Unternehmen hier schon aufgeregt darauf warten, nach dem Hurrikan Geschäfte zu machen".

Die Lieferanten der Ölindustrie "drängeln sich nach den Aufträgen zur Reparatur der beschädigten Ölförderplattformen", so z.B. Halliburton und Baker Hughes. Der Aktienkurs dieser beiden Firmen "schoss vergangene Woche auf ein 52-Wochen-Hoch". Halliburton hat enge und berüchtigte Beziehungen zur Bush-Regierung. Vizepräsident Dick Cheney (der letzte Woche seinen Urlaub in Wyoming fortsetzte, als New Orleans im Meer versank) war früher der Vorstandsvorsitzende der Firma.

Auch den Besitzern von Büroraum in Houston geht es gut, weil Firmen aus New Orleans "eilig ihre Firmenzentralen nach Houston verlegen wollen und dadurch den lahmenden Immobilienmarkt dort beleben. Mit einer Fanfare, die manchen Ambulanzfahrer neidisch machen könnte, preist eine Firma, National Realty Investments, spezielle Finanzierungsmodelle ‚nur für Hurrikan-Überlebende’, ohne Anzahlungen und zu herabgesetzten Endpreisen an."

Schamlos fährt der Artikel fort: "All das ist natürlich der Kapitalismus, wie er leibt und lebt, immer bereit, die Mittel schnell dahin zu transferieren, wo sie am meisten benötigt werden." Wohl eher: wo sie den größten Profit versprechen. Wo "sie am meisten benötigt werden", ist dabei völlig uninteressant.

Der Manager von Tetra Technologies, eine Firma, die alte Ölförderplattformen repariert oder verschrottet, sagte der Zeitung: "In einer solchen Situation spreche ich nicht gern über Positives, aber es sieht sicher danach aus, dass dies in den nächsten sechs bis zwölf Monaten ein Wachstumsmarkt sein wird."

Der Vorstandsvorsitzende von CB Richard Ellis, Stephen D. DuPlantis, kommentierte: "So tragisch es für New Orleans ist, für Houston ist es ein Segen."

Selbst für die Versicherungswirtschaft, der die Katastrophe Milliarden kosten wird, hat die Lage offenbar eine freundliche Seite. USA Today berichtet: "Das Licht am Ende des Tunnels ist, dass große Stürme normalerweise den Kauf von Versicherungspolicen hochtreiben und Versicherern die Möglichkeit geben, die Prämien zu erhöhen."

Ein Artikel auf der Web Site Forbes.com ist mit der hoffnungsfrohen Überschrift versehen: "Sind die Verluste in New Orleans ein Gewinn für Detroit?" der Autor gibt zu, dass die Bilder von in den Fluten versunkenen Autos und Trucks erschütternd sind, fährt dann aber fort: "Aber werden die Tausende Autos, die als Folge des Sturms ersetzt werden müssen, zu dem dringend benötigten Aufschwung der Nachfrage und der Verkäufe bei den Autoherstellern führen? Die Menschen in den verwüsteten Staaten Louisiana, Mississippi und Alabama werden nicht nur neue Autos und Trucks kaufen müssen, auch der Gebrauchtwagenmarkt in der Region ist vernichtet. Es sieht so aus, als ob das ein unverhoffter Segen für Detroit wäre."

(Mit "Detroit" meint Forbes natürlich nicht die weitgehend verarmte Arbeiterklasse der Stadt, die sich nicht viel von der gestrandeten und im Endeffekt vertriebenen Bevölkerung von New Orleans unterscheidet, sondern die Mogule der Autoindustrie.)

Betrübt stellt der Artikel fest, dass New Orleans keine übermäßig bedeutende Metropole sei, und dass die Auswirkungen auf die Autoindustrie wohl nur geringfügig sein werden. "Louisiana, Mississippi und Alabama sind wirtschaftlich schwach. Sie stehen zusammen nur für drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts der USA. Der mögliche Gewinn für die Autoindustrie und die Autohändler in diesen Staaten wird wohl vergleichsweise gering sein und erst nach umfangreichem Wiederaufbau eintreten." Ach, hätte doch eine solche Katastrophe Chicago oder San Francisco getroffen...

Doch Forbes sieht einen Lichtblick: "Aber vielleicht untertreiben ja die Leute, die solche Berichte erstellen, den Nutzen, den Katrina für Detroit bedeuten wird, um nicht als gierig dazustehen."

Schließlich weisen die Dallas Morning News darauf hin: "Nach Katastrophen gehört die amerikanische Wirtschaft zu den ersten, die den Opfern und ihren Familien Hilfe anbietet.... Aber irgendwann kommt der Moment, da man wieder an die Arbeit gehen muss: ans Geldverdienen."

Die schrecklichen Verwüstungen, die Katrina hinterlassen hat, haben einige harte Wahrheiten über das heutige Amerika ans Licht gebracht: eine unüberbrückbare Kluft - in diesem Fall im wahrsten Sinne des Wortes eine ‚Kluft auf Leben und Tod’ - zwischen den Reichen und allen anderen, ein beispielloses Ausmaß an persönlicher Bereicherung - ein durchschnittlicher amerikanischer Vorstandschef verdient 500mal soviel wie ein durchschnittlicher Arbeiter -, die Unvereinbarkeit dieser Zustände mit einem anständigen Leben für die überwiegende Mehrheit der Menschen und die alltägliche Barbarei des amerikanischen Kapitalismus.

Das Leben in diesem Land kann nicht auf diese schändliche und schmerzhafte Weise weitergehen. Eine komplexe Gesellschaft darf nicht länger dieser reaktionären, brutalen und ignoranten Mannschaft überlassen bleiben. Eine breite politische Diskussion über eine sozialistische Alternative muss jetzt begonnen werden.

Siehe auch:
Washington stiehlt sich aus der Verantwortung für Hurrikan-Opfer
(6. September 2005)
Hurrikan Katrina: Von der Naturkatastrophe zur Demütigung der USA
( 5. September 2005)
Bush schließt größere Bundeshilfe für Hurrikan-Opfer aus
( 3. September 2005)
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