1. Mai 2017

Krise der Europäischen Union

An dieser Stelle veröffentlichen wir die Rede von Peter Schwarz, dem Sekretär des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, auf der internationalen Online-Maikundgebung der WSWS am 30. April.

Im letzten Jahrhundert war Europa der Ausgangspunkt und das wichtigste Schlachtfeld zweier imperialistischer Weltkriege. 1945 lag der Kontinent, einst Zentrum der industriellen Revolution und des kulturellen Fortschritts, in Trümmern. Zwischen achtzig und hundert Millionen Menschen waren in den beiden Kriegen getötet worden. Deutschland, das einst auf seine Kultur, seine Schriftsteller und seine Komponisten so stolz gewesen war, war zum Zentrum der barbarischsten Verbrechen geworden, die die Menschheit erlebt hat.

Peter Schwarz‘ Beitrag zum Ersten Mai 2017

„Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ – Diese Parole wurde am Ende des Kriegs von Millionen unterstützt. Die meisten verstanden damals, dass der Kapitalismus Faschismus und Krieg hervorgebracht hatte. Besonders in Italien und Frankreich, wo die kommunistischen Parteien Massenunterstützung genossen, und wo – trotz des stalinistischen Verrats – die Erinnerung an die Oktoberrevolution noch lebendig war, waren die Arbeiter entschlossen, mit der Bourgeoisie abzurechnen und den Sozialismus aufzubauen. In Deutschland waren antikapitalistische Einstellungen so stark, dass sich sogar die konservative CDU veranlasst sah, in ihr Programm zu schreiben, der Kapitalismus sei gescheitert.

Die stalinistischen und reformistischen Führer der Arbeiterbewegung blockierten jedoch alle sozialistischen Bestrebungen und arbeiteten eng mit ihren jeweiligen Regierungen zusammen, um das kapitalistische System wieder funktionsfähig zu machen. Sie warben für Maßnahmen, von denen sie behaupteten, sie könnten die nationalen und sozialen Widersprüche, die zu Faschismus und Krieg geführt hatten, aus der Welt schaffen.

Soziale Reformen – und nicht eine soziale Revolution – würden die soziale Ungleichheit nach und nach beseitigen und Wohlstand und Chancengleichheit für alle schaffen. Die wirtschaftliche Integration des Kontinents auf kapitalistischer Grundlage – die Europäische Union – würde die nationalen Antagonismen, die Europa zerstört hatten, überwinden.

Siebzig Jahre später liegen all diese Verheißungen in Trümmern.

Die soziale Ungleichheit ist sowohl auf ganz Europa bezogen als auch in jedem einzelnen Land heute größer denn je. Der Durchschnittslohn in Bulgarien beträgt weniger als ein Zehntel des Durchschnittslohns in Dänemark; und selbst in reichen Ländern wie in Deutschland leben Millionen in Armut, verdienen weniger als den Mindestlohn oder arbeiten in prekären Jobs. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. In einigen europäischen Ländern sind mehr als fünfzig Prozent der jungen Menschen ohne Arbeit.

Die Kriegsgefahr war seit 1945 nie größer. Jedes europäische Land stockt seinen Militärhaushalt massiv auf. Europäische Truppen beteiligen sich an imperialistischen Kriegen im Nahen Osten und in Afrika. Zum ersten Mal seit der Invasion der Nazis in die Sowjetunion entsenden westliche imperialistische Mächte wieder Truppen an die russische Grenze.

Eine militärische Konfrontation zwischen den beiden größten Atommächten der Welt, den Vereinigten Staaten und Russland, ist nicht mehr bloß eine hypothetische Möglichkeit, sondern eine reale Gefahr. Sie würde Europa in ein nukleares Schlachtfeld verwandeln.

Nicht nur die Gefahr eines Kriegs mit Russland nimmt zu, sondern auch das Risiko von Kriegen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten sowie innerhalb Europas selbst. Die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa (besonders Deutschland) haben sich über lange Zeit aufgebaut. Aber mit der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten erreichen sie eine neue Dimension.

Deutschland reagiert darauf mit einer aggressiven Außen- und Militärpolitik. Es vergrößert seinen Militärhaushalt massiv und versucht, die EU – oder zumindest ihren Kern – von einer wirtschaftlichen in eine militärische Allianz zu verwandeln, die von Deutschland dominiert wird und den USA ebenbürtig ist.

Die Europäische Union, einst als Mittel zur Einigung Europas gepriesen, ist zum Nährboden für Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, sozialem Rückschritt, Law-and-order-Politik und Krieg geworden.

Von Brüssel und Berlin diktierte Sparprogramme haben ganze Länder zerstört – wie beispielsweise Griechenland. Die Festung Europa, die Flüchtlinge brutal zurückweist, hat Zustände geschaffen, in denen mehr als 5000 Menschen in nur einem Jahr im Mittelmeer ertrunken sind. Der einzige Bereich, in dem die EU wirklich „Fortschritte“ macht, ist der Aufbau eines gigantischen Polizei- und Überwachungsapparates.

Europa gleicht einer tickenden Zeitbombe. Unter der Oberfläche entwickeln sich explosive soziale Spannungen. Die Kluft zwischen den Eliten und der großen Bevölkerungsmehrheit ist riesig. Dies drückt sich im Zusammenbruch politischer Parteien aus, die jahrzehntelang am Ruder waren, wie kürzlich der Sozialistischen Partei in Frankreich.

Aber die soziale Unzufriedenheit, Empörung und Wut finden keinen fortschrittlichen politischen Ausdruck. Der Grund dafür ist die reaktionäre Politik der Parteien und Gewerkschaften, die einst für sich beanspruchten, die sozialen Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen. Auch die pseudolinken Organisationen der Mittelklasse sind verantwortlich. Sie spielen eine zentrale Rolle beim Angriff auf die Arbeiterklasse und bei der Förderung von Militarismus und Krieg.

In Griechenland kann man dies am deutlichsten sehen: Damit konfrontiert, entweder das Spardiktat der EU anzunehmen oder die griechische und europäische Arbeiterklasse dagegen zu mobilisieren, entschied sich die Koalition der Radikalen Linken (Syriza) klar für die erste der beiden Möglichkeiten. Die wohlhabenden kleinbürgerlichen Schichten, die Syriza repräsentiert, sind den Konzernen und Finanzeliten der EU viel stärker verbunden als der Arbeiterklasse.

Der vollständige Bankrott der reformistischen und pseudolinken Organisationen hat Bedingungen geschaffen, unter denen rechtsextreme Kräfte von der sozialen Unzufriedenheit und der Ablehnung der EU profitieren können: der Front National in Frankreich, die Freiheitlichen in Österreich, die AfD in Deutschland, UKIP in Großbritannien oder Geert Wilders in Holland.

Sie vertreten eine fremdenfeindliche, chauvinistische oder sogar faschistische Politik und sind eine große Gefahr. Sie können jedoch nicht gestoppt werden, indem man ihre bürgerlichen Rivalen unterstützt. Sich beim Kampf gegen nationalistische Rechtsextremisten auf Parteien zu verlassen, die für die EU eintreten, ist dasselbe, als würde man sich beim Feuerlöschen auf einen Brandstifter verlassen.

Das Anwachsen rechtsradikaler Parteien bedeutet nicht, dass in der Bevölkerung keine linke Stimmung vorhanden wäre. Aber soweit sie im gegenwärtigen politischen Rahmen Ausdruck findet, wird sie umgehend verraten. In Griechenland wurde Syriza in die Regierung gewählt, weil sie versprochen hatte, die Kürzungsmaßnahmen zu stoppen. Doch Syriza führte als Regierungspartei noch brutalere Angriffe auf die Arbeiterklasse durch.

In Frankreich haben sich die Stimmen für Jean-Luc Mélenchon seit Jahresbeginn mehr als verdoppelt, weil er sich gegen Krieg und Austerität geäußert hat. Schließlich trennten ihn nur 1,7 Prozent von Marine Le Pen, der Kandidatin des Front National. Aber als erfahrener bürgerlicher Politiker, der schon über vierzig Jahre im Geschäft ist, wird Mélenchon keine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse tolerieren.

In Europa, wie auf der ganzen Welt, stellt sich die dringende Aufgabe, Sektionen des IKVI aufzubauen, um der Arbeiterklasse in den bevorstehenden sozialen Explosionen eine internationalistische sozialistische Orientierung zu vermitteln.

Unsere Antwort auf die Krise der EU sind die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa. Dies ist keine rhetorische Phrase, sondern eine politische Perspektive.

Wir kämpfen für eine Massenbewegung der Arbeiterklasse gegen Krieg, Diktatur und soziale Ungleichheit, die von allen Parteien der Bourgeoisie und ihren pseudolinken, kleinbürgerlichen Agenten politisch unabhängig ist.

Wir kämpfen für die Einheit der europäischen und internationalen Arbeiterklasse gegen jede Form von Nationalismus.

Und wir kämpfen für die Abschaffung des Kapitalismus und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, für die die sozialen Bedürfnisse zählen, aber nicht der private Profit.

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