1968 – Generalstreik und Studentenrevolte in Frankreich

Dieser Artikel erschien erstmals im Mai und Juni 2008 zum vierzigsten Jahrestag des Generalstreiks in Frankreich auf der WSWS. Wir geben sie hier unverändert wieder. Lediglich die Einleitung haben wir unter Berücksichtigung seitheriger Ereignisse überarbeitet.

Eine revolutionäre Situation entsteht

Einleitung

Vor fünfzig Jahren, im Mai/Juni 1968, brachte ein Generalstreik Frankreich an den Rand der proletarischen Revolution. Rund zehn Millionen Arbeiter legten spontan die Arbeit nieder, besetzten die Fabriken und brachten die Wirtschaft des Landes zum Erliegen. Der französische Kapitalismus und das Regime von General de Gaulle überlebten nur dank der Unterstützung der Kommunistischen Partei und der von ihr dominierten Gewerkschaft CGT, die alles daran setzten, die Lage unter Kontrolle zu bringen und den Generalstreik abzuwürgen.

Dem Generalstreik in Frankreich war eine weltweite Radikalisierung von Jugendlichen vorangegangen, die sich gegen den imperialistischen Krieg in Vietnam, das Schah-Regime in Persien, die repressive gesellschaftliche Atmosphäre und andere Missstände richtete. Er bildete den Auftakt zur größten Offensive der internationalen Arbeiterklasse seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie dauerte bis Mitte der siebziger Jahre, zwang Regierungen zum Rücktritt, brachte Diktaturen zu Fall und stellte die bürgerliche Herrschaft insgesamt in Frage. In Deutschland kam es 1969 zu den Septemberstreiks, in Italien zum „heißen Herbst“. In Polen und der Tschechoslowakei (dem Prager Frühling) rebellierten Arbeiter gegen die stalinistische Diktatur. In Großbritannien stürzten die Bergarbeiter 1974 die konservative Heath-Regierung. In Griechenland, Spanien und Portugal fielen die rechten Diktaturen. Die US-Armee musste sich geschlagen aus Vietnam zurückziehen.

Ein halbes Jahrhundert später sind die Lehren aus dieser revolutionären Periode von größter Bedeutung. Nachdem der Klassenkampf lange Zeit unterdrückt wurde, haben die Klassengegensätze ein Ausmaß erreicht, das sich nicht mehr unter Kontrolle halten lässt. Der Kapitalismus befindet sich weltweit in einer tiefen Krise. Während der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten sinkt, bereichern sich die Spitzen der Gesellschaft über alle Maßen. Die herrschende Klasse aller imperialistischen Länder reagiert auf die wachsenden sozialen und internationalen Spannungen mit Krieg, Militarismus und dem Angriff auf demokratische und soziale Rechte. Weltweit mehren sich die Anzeichen von Widerstand und heftigen Klassenkämpfen – die streikenden Lehrer in den USA, die streikenden Eisenbahner in Frankreich, die hohe Beteiligung an den Warnstreiks in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst Deutschlands sind lediglich die ersten Anzeichen.

1968 bis 1975 verdankte der Kapitalismus sein Überleben den stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften, die ihren Masseneinfluss nutzten, um die Kämpfe zu zügeln und in Niederlagen zu führen. Die Offensive der Arbeiterklasse schwächte zwar den Einfluss dieser bürokratischen Apparate, doch eine Vielzahl von Organisationen, die sich als „sozialistisch“, „marxistisch“ oder sogar als „trotzkistisch“ bezeichneten, blockierten den Aufbau einer neuen revolutionären Führung und wandten sich sozialdemokratischen Parteien zu. In Frankreich war dies die Sozialistische Partei François Mitterrands, die für drei Jahrzehnte zum wichtigste Instrument der bürgerlichen Herrschaft werden sollte; in Deutschland die SPD unter Willy Brandt, die in den siebziger Jahren den Zenit ihres Einflusses erreichte.

Leo Trotzki hatte in den 1930er Jahren die Initiative zur Gründung der Vierten Internationale ergriffen, weil die Dritte, Kommunistische Internationale unter dem Einfluss der stalinistischen Bürokratie unwiderruflich ins Lager der bürgerlichen Konterrevolution übergegangen war. Doch bald nach ihrer Gründung im Jahr 1938 meldeten sich auch innerhalb der Vierten Internationale kleinbürgerliche Tendenzen zu Wort, die für die historischen Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse – 1927 in China, 1933 in Deutschland, 1939 in Spanien – nicht den Bankrott oder Verrat der politischen Führung verantwortlich machten, sondern die angebliche Unfähigkeit des Proletariats, seinen revolutionären Auftrag zu erfüllen.

Der Angriff auf die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse zog sich über eineinhalb Jahrzehnte hin und gipfelte 1953 im Versuch einer von Michel Pablo und Ernest Mandel geführten revisionistische Tendenz, die Sektionen der Vierten Internationale in die stalinistischen, sozialdemokratischen und bürgerlich nationalistischen Bewegungen zu liquidieren, die, wie sie behaupteten, unter dem Druck objektiver Ereignisse revolutionäre Maßnahmen ergreifen würden. Sie verherrlichten stalinistische und nationalistische Führer, wie Ben Bella in Algerien und Fidel Castro in Kuba, als angebliche „Alternativen“ zum Trotzkismus. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) wurde damals gegründet, um den Aufbau unabhängiger revolutionärer Parteien der Arbeiterklasse, die sich auf das Programm der Vierten Internationale stützen, gegen den pablistischen Revisionismus zu verteidigen.

Die Teile 3 und 4 dieser Serie zeigen auf, welche Rolle der französische Ableger des pablistischen Vereinigten Sekretariats, die Jeunesse communiste révolutionnaire von Alain Krivine, während der Ereignisse von 1968 spielte. Die JCR deckte den Verrat der KPF und der CGT und verschmolz nahtlos mit anarchistischen, maoistischen und anderen kleinbürgerlichen Studentengruppen. Heute sind ihre verbliebenen Mitglieder im Nouveau parti anticapitaliste (NPA) organisiert, das den Trotzkismus explizit zurückweist, eng mit den Stalinisten, Sozialisten und anderen bürgerlichen Parteien zusammenarbeitet und „humanitäre“ imperialistische Militärinterventionen in Libyen und Syrien propagiert. Viele Mitglieder der pablistischen JCR, die sich ab 1974 LCR nannte, machten später auch Karriere in der Sozialistischen Partei und anderen bürgerlichen Organisationen.

Das IKVI kämpfte 1968 als einzige Tendenz gegen den politischen Einfluss des Stalinismus, der Sozialdemokratie und des bürgerlichen Nationalismus. Es führte diesen Kampf allerdings unter Bedingungen einer starken Isolation, zu der nicht nur die großen bürokratischen Organisationen, sondern auch die üble Rolle des Pablismus beitrug. Unter dem sozialen und ideologischen Druck, unter dem es arbeitete, entwickelten sich auch in seinen eigenen Reihen Tendenzen der Anpassung.

Die französische Organisation communiste internationaliste (OCI), die das IKVI 1953 mit gegründet hatte, verfolgte 1968 einen zentristischen Kurs. Als tausende unerfahrene Mitglieder in ihre Reihen strömten, wandte sie sich offen nach rechts. 1971 brach die OCI mit dem Internationalen Komitee und sandte ihre Mitglieder in die Sozialistische Partei (PS) von François Mitterrand. Zu den OCI-Mitgliedern, die damals in die Sozialistische Partei eintraten, gehören der spätere PS-Vorsitzende und französische Ministerpräsident Lionel Jospin, der PS-Vorsitzende Jean-Christophe Cambadélis und der Gründer der französischen Linkspartei und heutige Führer der Bewegung La France insoumise, Jean-Luc Mélenchon. Mélenchon, ein „linker“ Nationalist, verteidigt die französische Atomstreitmacht und tritt für die Wiedereinführung der Wehrpflicht ein.

Die letzten vier Teil dieser Serie befassen sich ausführlich mit der Rolle der OCI während des Generalstreiks von 1968, mit ihrer Vorgeschichte und mit den politischen und theoretischen Problemen, die zu ihrer Verwandlung in eine Stütze der bürgerlichen Herrschaft führten. Ein Studium und Verständnis dieser Erfahrungen ist von großer Bedeutung, um die kommenden revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse vorzubereiten.

Die Entwicklung der Pablisten und der OCI war Bestandteil eines Rechtsrucks des akademischen Kleinbürgertums. Während sich viele 68er Studentenführer eines scheinbar marxistischen Vokabulars bedienten, waren ihre Vorstellungen von der Frankfurter Schule, dem Existenzialismus und anderen antimarxistischen Strömungen geprägt, die die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse zurückwiesen. Unter „Revolution“ – einem Begriff, den sie inflationär verwendeten – verstanden sie nicht die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse, sondern die soziale, persönliche oder sexuelle Emanzipation des kleinbürgerlichen Individuums.

Das Eingreifen der Arbeiterklasse im Mai 1968 war „für breite Teile der französischen Intellektuellen eine traumatische Erfahrung“, schreibt David North im Essay „Die theoretischen und historischen Wurzeln der Pseudolinken“.(1) „Ihre Tuchfühlung mit der Revolution löste eine scharfe Rechtswendung aus.“ Die sogenannten „neuen Philosophen“, darunter Jean-François Revel und Bernard-Henri Lévy, „wandten sich unter dem heuchlerischen Banner der ‚Menschenrechte‘ dem Antikommunismus zu“. Eine andere Gruppe von Philosophen, angeführt von Jean-François Lyotard, „rechtfertigte ihre Zurückweisung des Marxismus mit den nihilistischen Formeln der Postmoderne“. Der linke Theoretiker André Gorz verfasste ein Buch unter dem provokativen Titel „Abschied vom Proletariat“!

Diese Intellektuellen sprachen für Vertreter der Mittelklasse, für die 1968 nur eine Etappe ihres eigenen sozialen Aufstiegs war und die später die Chefetagen von Ministerien, Redaktionen und selbst Unternehmen bevölkern sollten. Im vierten Teil dieser Serie zitieren wir Edwy Plenel, ein langjähriges LCR-Mitglied, das schließlich zum Chef der renommierten bürgerlichen Tageszeitung Le Monde avancierte und 2001 schrieb: „Ich war nicht der einzige: wir sind sicher einige Zehntausende, die, nachdem wir in den sechziger und siebziger Jahren mehr oder weniger auf der extremen Linken engagiert waren, die kämpferischen Lehren zurückgewiesen haben und unsere damaligen Illusionen zum Teil kritisch betrachten.“

Die deutschen Grünen, deren Führung sich aus ehemaligen 68ern rekrutierte, verkörpern diesen Prozess. Sie mutierten von einer kleinbürgerlichen Protest-, Umwelt- und Friedenspartei zu einer verlässlichen Stütze des deutschen Militarismus. Daniel Cohn-Bendit, der – zumindest in den Medien – bekannteste Führer der französischen Studentenrevolte, ist der Mentor und ein persönlicher Freund von Joschka Fischer, dem grünen deutschen Außenminister, der 1999 den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr in Jugoslawien verantwortete. Cohn-Bendit selbst hat als grüner Europaabgeordneter den Libyenkrieg unterstützt, er verteidigt die Europäische Union und bewundert den französischen Präsidenten Emmanuel Macron.

Die Klassenkonfrontation, die sich nun anbahnt, findet unter anderen Bedingungen statt als jene der Jahre 1968 bis 1975.

Erstens verfügt die Bourgeoise nicht mehr über den ökonomischen Spielraum für soziale Zugeständnisse. Die Bewegung von 1968 war zwar auch durch die erste größere Rezession der Nachkriegszeit im Jahr 1966 ausgelöst worden, der 1971 die Auflösung des Weltwährungssystems von Bretton Woods und 1973 eine weitere Rezession folgte. Doch der Nachkriegsboom hatte in dieser Zeit erst seinen Höhepunkt erreicht. Die Bourgeoisie erkaufte sich den Abbruch der Streiks und Proteste mit erheblichen Verbesserungen der Löhne und Arbeitsbedingungen. Die Universitäten wurden stark ausgebaut, um die rebellierende Jugend von der Straße zu holen. Heute sind derartige Reformen im nationalen Rahmen nicht mehr möglich. Der weltweite Konkurrenzkampf und die Dominanz der globalen Finanzmärkte über jeden Aspekt der Produktion haben einen gnadenlosen Unterbietungswettlauf in Gang gesetzt.

Zweitens sind die sozialdemokratischen und stalinistischen Organisationen, die vor fünfzig Jahren noch Millionen Mitglieder zählten und dem Kapitalismus das Überleben sicherten, weitgehend diskreditiert. Die Sowjetunion existiert nicht mehr, sie wurde von der stalinistischen Bürokratie aufgelöst. China wurde von der maoistischen KP in ein kapitalistisches Eldorado verwandelt. Die Sozialistische Partei Frankreichs ist, wie andere sozialdemokratische Parteien, zusammengebrochen, die SPD befindet sich im freien Fall. Die Gewerkschaften sind zu Co-Managern geworden, die den Arbeitsplatz- und Lohnabbau organisieren und von den Arbeitern gehasst werden.

Die pseudolinken Organisationen, die 1968 das Internationale Komitee der Vierten Internationale isolierten, haben sich in den bürgerlichen Staat und seine Institutionen integriert. Sie unterstützen die Angriffe auf die Arbeiterklasse und die imperialistische Kriegspolitik. Am deutlichsten zeigt sich das in Griechenland, wo die „Koalition der Radikalen Linken“ (Syriza) die Aufgabe übernommen hat, im Auftrag der internationalen Banken den Lebensstandard der Arbeiterklasse zu dezimieren. Die kommenden Klassenkämpfe werden sich in einer Rebellion gegen die bürokratischen Apparate und ihre pseudolinken Anhängsel entwickeln, die zu einer Fessel für die Arbeiterklasse geworden sind.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale und sein historischer Kampf gegen Sozialdemokratie, Stalinismus, pablistischen Revisionismus und andere Formen pseudolinker Politik sind entscheidend, um die Arbeiterklasse für diese Kämpfe zu bewaffnen. Seine Fähigkeit, die Rechtsentwicklung dieser Strömungen vorauszusehen und ihre Rolle zu entlarven, beweist, dass es die marxistische Partei ist, die jetzt aufgebaut werden muss. Das IKVI und seine französische Sektion, die Parti de l’égalite socialiste, vertreten als einzige Tendenz ein sozialistisches Programm, das in der Lage ist, die internationale Arbeiterklasse im Kampf gegen Kapitalismus und Krieg zu vereinen.

Frankreich vor 1968

Das Frankreich der 1960er Jahre ist von einem tiefen Widerspruch geprägt. Das politische Regime ist autoritär und zutiefst reaktionär. Es findet seine Verkörperung in der Person General de Gaulles, der aus einer anderen Epoche zu stammen scheint und die Verfassung der Fünften Republik ganz auf seine Person zugeschnitten hat. De Gaulle ist 68 Jahre alt, als er 1958 zum Präsidenten gewählt wird, und 78, als er 1969 zurücktritt. Doch unter dem verknöcherten Regime des alten Generals vollzieht sich eine rasante wirtschaftliche Modernisierung, die die soziale Zusammensetzung der französischen Gesellschaft gründlich verändert.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren große Teile Frankreichs noch ländlich geprägt. 37 Prozent der Bevölkerung lebten von der Landwirtschaft. In den folgenden zwanzig Jahren verlassen zwei Drittel der Bauern das Land und ziehen in die Städte, wo sie – zusammen mit immigrierten Arbeitern – die Arbeiterklasse um eine junge, militante und von der Gewerkschaftsbürokratie nur schwer zu kontrollierende Schicht erweitern.

Insbesondere nach dem Ende des Algerienkriegs im Jahr 1962 setzt ein starkes wirtschaftliches Wachstum ein. Der Verlust der Kolonien zwingt die französische Bourgeoisie, sich wirtschaftlich verstärkt auf Europa zu konzentrieren. Schon 1957 unterzeichnet Frankreich die Römischen Verträge, das Gründungsdokument der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Vorgängerin der Europäischen Union. Die wirtschaftliche Integration Europas begünstigt den Aufbau neuer Industriezweige, die den Niedergang des Kohlebergbaus und anderer alten Industrien mehr als wettmachen. Im Auto-, Flugzeug-, Waffen-, Raumfahrt- und Nuklearbereich entstehen mit staatlicher Unterstützung neue Konzerne und Fabriken. Sie stehen oftmals außerhalb der alten Industriezentren und zählen 1968 zu den Hochburgen des Generalstreiks.

Typisch in dieser Hinsicht ist die Stadt Caen in der Normandie. Die Zahl ihrer Einwohner steigt zwischen 1954 und 1968 von 90.000 auf 150.000, von denen die Hälfte jünger als dreißig Jahre sind. Unter anderem beschäftigt Saviem, ein Ableger des Autobauers Renault, in Caen 3000 Arbeiter. Die Belegschaft von Saviem tritt schon im Januar 1968, vier Monate vor dem Generalstreik, in den Ausstand, besetzt zeitweilig die Fabrik und liefert sich heftige Schlachten mit den Ordnungskräften.

Auch innerhalb der Gewerkschaften macht sich die Radikalisierung bemerkbar. Die alte, katholische Gewerkschaft CFTC bricht auseinander. Die Mehrheit reorganisiert sich als CFDT auf säkularer Grundlage, bekennt sich zum „Klassenkampf“ und vereinbart Anfang 1966 eine Aktionseinheit mit der CGT.

Mit der Entstehung neuer Industrien geht der fieberhafte Ausbau des Bildungssektors einher. Es werden dringend Ingenieure, Techniker und ausgebildete Arbeiter benötigt. Allein zwischen 1962 und 1968 verdoppelt sich die Zahl der Studenten. Die Universitäten sind überfüllt, schlecht ausgestattet und werden – wie die Fabriken – von einer patriarchalischen, im Gestern verhafteten Leitung beherrscht.

Die Opposition gegen die schlechten Studienbedingungen und das autoritäre Universitätsregime – der Zugang zu Studentenheimen ist beispielsweise Mitgliedern des anderen Geschlechts strikt verboten – ist ein wichtiger Grund für die Radikalisierung der Studenten. Sie verbindet sich bald mit internationalen politischen Fragen. Im Mai 1966 findet in Paris die erste Versammlung gegen den Vietnam-Krieg statt. Ein Jahr später finden die Studentenproteste in Deutschland, wo am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wird, ein Echo in Frankreich.

Im selben Jahr machen sich die Auswirkungen der internationalen Rezession bemerkbar und die Arbeiter radikalisieren sich. Lebensstandard und Arbeitsbedingungen halten seit Jahren nicht mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Schritt. Die Löhne sind niedrig, die Arbeitszeiten lang und die Arbeiter in den Betrieben rechtlos. Nun kommen steigende Arbeitslosigkeit und wachsender Arbeitsdruck hinzu. Bergbau, Stahl-, Textil- und Bauindustrie stagnieren.

Die Gewerkschaften ordnen von oben Aktionstage an, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Doch von unten häufen sich lokale Proteste. Sie werden von den Ordnungskräften brutal unterdrückt. Im Februar 1967 besetzt die Belegschaft des Textilherstellers Rhodiacéta in Besançon als erste ihren Betrieb. Sie protestiert auf diese Weise gegen Entlassungen und fordert mehr Freizeit.

Auch die Bauern kämpfen gegen sinkende Erträge. Im Westen des Landes kommt es 1967 bei mehreren Bauerndemonstrationen zu Straßenschlachten. Laut einem damaligen Polizeibericht bieten die Bauern immer dasselbe Bild, sie sind „zahlreich, aggressiv, organisiert und mit verschiedenen Wurfgeschossen ausgerüstet: Bolzen, Pflastersteinen, Metallsplitter, Flaschen und Kieselsteinen.“

Zu Beginn des Jahres 1968 erscheint Frankreich an der Oberfläche relativ ruhig, aber darunter brodelt es. Das Land gleicht einem Pulverfass. Es bedarf nur noch eines zufälligen Funkens, um es zur Explosion zu bringen. Diesen Funken liefern die Studentenproteste.

Studentenrevolte und Generalstreik

Die Universität von Nanterre gehört zu den neuen, in den sechziger Jahren errichteten Hochschulen. Gebaut auf einem ehemaligen Militärgelände fünf Kilometer außerhalb von Paris wird sie 1964 eröffnet. Sie ist von Elendsquartieren, so genannten Bidonvilles, und Fabrikgelände eingesäumt. Am 8. Januar prallen hier protestierende Studenten mit Jugendminister François Missoffe zusammen, der zur Eröffnung eines Schwimmbads erschienen ist.

Der Zwischenfall selbst ist relativ unbedeutend, aber Disziplinarmaßnahmen gegen die Studenten und das wiederholte Eingreifen der Polizei verschärfen den Konflikt und machen Nanterre zum Ausgangspunkt einer Bewegung, die schnell auf Universitäten und Gymnasien im ganzen Land übergreift. Im Mittelpunkt stehen Forderungen nach besseren Studienbedingungen, freiem Zugang zu den Universitäten, mehr persönlichen und politischen Freiheiten, der Freilassung inhaftierter Studenten sowie der Protest gegen den Krieg in Vietnam, wo Ende Januar die Tet-Offensive begonnen hat.

In einigen Städten, wie in Caen und Bordeaux, gehen Arbeiter, Studenten und Gymnasiasten gemeinsam auf die Straße. In Paris findet am 12. April eine Solidaritätsdemonstration für den deutschen Studentenführer Rudi Dutschke statt, der am Vortag in Berlin von einem aufgehetzten Rechten auf offener Straße niedergeschossen worden ist.

Am 22. März besetzen 142 Studenten das Verwaltungsgebäude der Universität Nanterre. Die Hochschulleitung reagiert, indem sie die gesamte Universität für einen Monat schließt. Nun verlagert sich der Konflikt in die Sorbonne, die älteste Universität Frankreichs im Pariser Quartier Latin. Dort versammeln sich am 3. Mai Mitglieder verschiedener Studentenorganisationen, um das weitere Vorgehen zu beraten. Draußen demonstrieren rechtsextreme Gruppen. Der Rektor ruft die Polizei und lässt die Sorbonne räumen. Es kommt zu einer spontanen Großdemonstration. Die Polizei reagiert mit äußerster Brutalität. Die Studenten errichten Barrikaden. Die Bilanz der Nacht sind hundert Verletzte und mehrere Hundert Festnahmen. Schon am nächsten Tag verhängt ein Gericht, gestützt ausschließlich auf Zeugenaussagen von Polizisten, gegen 13 Studenten drakonische Strafen.

Regierung und Medien bemühen sich, die Kämpfe im Quartier Latin als Werk radikaler Grüppchen und Unruhestifter darzustellen. Auch die Kommunistische Partei stimmt in diesen Chor ein. Deren Nummer zwei, der spätere Generalsekretär Georges Marchais, feuert auf der Titelseite des Parteiblatts Humanité eine Breitseite gegen die studentischen „Pseudorevolutionäre“ ab. Er wirft ihnen vor, sie begünstigten „faschistische Provokateure“. Er zeigt sich äußerst beunruhigt darüber, dass die Studenten „in wachsender Zahl vor den Toren der Fabriken und in den Wohnorten der Gastarbeiter Flugblätter und anderes Propagandamaterial verteilen“, und fordert: „Diese falschen Revolutionäre müssen entlarvt werden, denn sie dienen objektiv den Interessen der gaullistischen Macht und den großen kapitalistischen Monopolen.“

Doch die Hetze greift nicht. Das Land ist schockiert über das brutale Vorgehen der Polizei, das durch Radiosender übertragen wird. Nun überschlagen sich die Ereignisse. Die Demonstrationen in Paris werden von Tag zu Tag größer und greifen auf andere Städte über. Sie richten sich gegen die polizeiliche Repression und fordern die Freilassung verhafteter Studenten. Auch die Gymnasiasten treten in den Streik. Am 8. Mai findet im Westen Frankreichs ein erster, eintägiger Generalstreik statt.

Vom 10. auf den 11. Mai kommt es im Quartier Latin zur „Nacht der Barrikaden“. Zehntausende verschanzen sich im Universitätsviertel, das ab zwei Uhr früh von der Bereitschaftspolizei unter massivem Einsatz von Tränengas gestürmt wird. Hunderte Verletzte sind die Folge.

Regierungschef Georges Pompidou, soeben von einem Iranbesuch zurückgekehrt, kündigt zwar am nächsten Tag die Wiederöffnung der Sorbonne und die Freilassung der inhaftierten Studenten an, doch er kann die Lage nicht mehr beruhigen. Die Gewerkschaften, einschließlich der KP-dominierten CGT, rufen für den 13. Mai zu einem eintägigen Generalstreik gegen die Polizeirepression auf. Sie fürchten, andernfalls die Kontrolle über die empörten Arbeiter zu verlieren.

Der Aufruf findet große Resonanz. Zahlreiche Städte erleben die größten Massendemonstrationen seit dem Zweiten Weltkrieg. Allein in Paris gehen 800.000 auf die Straße. Politische Forderungen treten nun in den Vordergrund. Viele fordern die Ablösung der Regierung. Abends werden die Sorbonne und andere Universitäten von den Studenten besetzt.

Der Plan der Gewerkschaften, den Generalstreik auf einen Tag zu beschränken, geht nicht auf. Am folgenden Tag, dem 14. Mai, wird das Werk von Sud-Aviation bei Nantes besetzt. Es bleibt einen Monat lang unter der Kontrolle der Arbeiter. Über der Verwaltung flattern rote Fahnen. Der Regionaldirektor Duvochel wird 16 Tage lang von den Besetzern festgehalten. Generaldirektor von Sud-Aviation ist zu dieser Zeit Maurice Papon, Nazikollaborateur, Kriegsverbrecher und 1961 als Polizeipräfekt von Paris für ein Massaker an Demonstranten gegen den Algerienkrieg verantwortlich.

Das Beispiel von Sud-Aviation macht Schule. Zwischen dem 15. und dem 20. Mai breitet sich eine Welle von Betriebsbesetzungen über das ganze Land aus. Überall werden rote Fahnen gehisst, nicht selten wird das Management festgehalten. Hunderte Betriebe und Verwaltungen sind betroffen, auch die größte Fabrik des Landes, das Stammwerk von Renault in Billancourt, das schon bei der Streikwelle von 1947 eine zentrale Rolle gespielt hat.

Anfangs werden betriebliche Forderungen aufgestellt, die sich von Ort zu Ort unterscheiden: Gerechtere Entlohnung, Verkürzung der Arbeitszeit, keine Entlassungen, mehr Rechte im Betrieb. In den besetzten Betrieben und um sie herum entstehen Arbeiter- und Aktionskomitees, an denen sich neben streikenden Arbeitern auch technische und Verwaltungsangestellte, örtliche Anwohner sowie Studenten und Schüler beteiligen. Die Komitees nehmen die Organisation der Streiks in die Hand und entwickeln sich zu Foren intensiver politischer Debatten. Dasselbe gilt für die Universitäten, die größtenteils von den Studenten besetzt sind.

Am 20. Mai steht das ganze Land still. Es befindet sich faktisch im Generalstreik, obwohl weder die Gewerkschaften noch andere Organisationen dazu aufgerufen haben. Betriebe, Büros, Universitäten und Schulen sind besetzt, Produktion und Verkehr sind gelähmt. Auch Künstler, Journalisten und sogar Fußballer schließen sich der Bewegung an. Zehn der insgesamt 15 Millionen Lohnabhängigen befinden sich im Ausstand. Spätere Untersuchungen haben diese Zahl zwar leicht nach unten korrigiert, auf sieben bis neun Millionen, doch es bleibt der umfassendste Generalstreik der französischen Geschichte. 1936 hatten sich „nur“ drei und 1947 2,5 Millionen Arbeiter am Generalstreik beteiligt.

Ihren Höhepunkt erreicht die Streikwelle zwischen dem 22. und dem 30. Mai, doch sie dauert bis in den Juli hinein. Mehr als vier Millionen Streikende bleiben länger als drei, zwei Millionen länger als vier Wochen im Ausstand. Nach Schätzung des französischen Arbeitsministeriums gehen im Jahr 1968 insgesamt 150 Millionen Arbeitstage durch Streik verloren. In Großbritannien sind es 1974 – im Jahr des Bergarbeiterstreiks, der die konservative Regierung Edward Heath zu Fall bringt – lediglich 14 Millionen.

Am 20. Mai hat die Regierung die Kontrolle über das Land weitgehend verloren. Die Forderung nach dem Rücktritt de Gaulles und seiner Regierung – „Zehn Jahre sind genug“ – ist allgegenwärtig. Am 24. Mai versucht de Gaulle, die Lage mit einer Fernsehansprache wieder in den Griff zu bekommen. Er verspricht ein Referendum über ein Mitspracherecht in Universitäten und Betrieben. Doch sein Auftritt demonstriert nur seine Ohnmacht. Die Rede verpufft ohne jede Wirkung.

In Frankreich hat sich in den ersten drei Maiwochen eine revolutionäre Situation entwickelt, wie es in der Geschichte nur wenige gegeben hat. Hätte die Bewegung eine entschlossene Führung gehabt, sie hätte das politische Schicksal de Gaulles und seiner Fünften Republik besiegelt. Die Sicherheitskräfte standen zwar noch hinter dem Regime, doch einer systematischen politischen Offensive hätten sie kaum standgehalten. Das schiere Ausmaß der Bewegung hätte auch ihre Reihen erfasst und zersetzt.

Anmerkungen

1) David North, Die Frankfurter Schule, die Postmoderne und die Politik der Pseudolinken, Essen 2016, S. 290 f.

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