Brendan McGeever
„Antisemitism and the Russian Revolution“ [Antisemitismus und die russische Revolution]
Cambridge University Press 2019, 260 Seiten.
Alle Seitenangaben (wenn nicht anders vermerkt) beziehen sich auf dieses Buch.
Der britische Soziologe Brendan McGeever erhebt den Anspruch, mit seinem Werk „Antisemitism and the Russian Revolution“ eine „Geschichte des Antisemitismus in der russischen Revolution“ vorzulegen. Doch das Buch verfälscht die wirkliche Geschichte, um für Identitätspolitik zu argumentieren und gegen eine marxistisch geführte sozialistische Revolution als Vorbedingung für die Überwindung von Rassismus und Antisemitismus.
McGeever behauptet, er möchte der „politischen Linken“ in ihrem Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus „mehr Möglichkeiten an die Hand geben“. Zu Beginn seines Buchs weist er auf den starken Einfluss hin, den der Kampf der Bolschewiki gegen Antisemitismus auf das Bewusstsein der unterdrückten Massen auf der ganzen Welt hatte, insbesondere auf die afroamerikanischen Intellektuellen in den Vereinigten Staaten. Er zitiert den führenden farbigen Künstler und Intellektuellen der Harlem Renaissance, Claude McKay, aus dem Jahr 1919:
„Jeder Schwarze … sollte den Bolschewismus studieren und den farbigen Massen seine Bedeutung erklären. Er ist die bedeutendste wissenschaftliche Idee, die sich heute auf der Welt ausbreitet … Der Bolschewismus hat Russland für die Juden sicher gemacht. Er hat den slawischen Bauern von Priestern und Bürokraten befreit, die ihn nicht mehr zum Judenmord aufhetzen können, um ihre überkommenen Institutionen zu schützen. Er könnte die Vereinigten Staaten von heute sicher für die Farbigen machen … Sollte die russische Idee die weißen Massen in der westlichen Welt ergreifen … dann würden die schwarzen Arbeiter automatisch frei sein“ (S. 1, aus dem amerikanischen Englisch).
Das „politische“ Angebot McGeevers besteht darin, diese Konzeption – eine marxistisch geführte soziale Revolution als Weg vorwärts im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus – bewusst zu untergraben.
Um dieses Ziel zu erreichen, bringt er vornehmlich zwei Behauptungen vor: Erstens versucht er zu zeigen, dass der Antisemitismus der „sozialen Basis“ des Bolschewismus (der Arbeiterklasse und den ländlichen Armen) inhärent sei, indem er unterstellt, die Hauptschwierigkeit für das „sowjetische Projekt“ sei der Antisemitismus innerhalb der Roten Armee gewesen. Zweitens behauptet er, dass der Kampf des jungen sowjetischen Staates gegen Antisemitismus politisch nicht in den „internationalistischen und assimilatorischen Strömungen des Marxismus“ gründete, sondern in der nationalen Orientierung einer Gruppe nichtbolschewistischer jüdischer Sozialisten.
Die Theorie des Klassenkampfs, so McGeever, sei auf keinen Fall die Basis für den Kampf gegen Antisemitismus gewesen, sondern habe diesem Kampf sogar geschadet.
Ursprung und Rolle des Antisemitismus in der russischen Revolution
Weit entfernt davon, eine objektive Darstellung der Ursprünge und der Rolle des Antisemitismus in der Revolution anzustreben, greift McGeever bestimmte Fakten und Ereignisse heraus und lässt andere unerwähnt, um seine Behauptung, „der Antisemitismus konnte innerhalb der revolutionären Politik festen Fuß fassen“, zu stützen.
Bevor wir auf die Ursprünge des Antisemitismus eingehen, müssen wir konstatieren, dass McGeevers ausschließliche Konzentration auf Pogrome der Roten Armee, welche seinen eigenen Worten zufolge „Randerscheinungen “ waren, historisch nicht haltbar und, offen gesagt, politisch unredlich ist. Sein Buch enthält mehrere grauenerregende Darstellungen von Pogromen der Roten Armee, doch keine einzige eines Pogroms der konterrevolutionären Kräfte.
Dabei geht die große Mehrheit der ermordeten 50.000–200.000 und schwer verletzten 200.000 Menschen, die im russischen Bürgerkrieg Opfer antijüdischer Gewalt wurden, auf das Konto der Weißen und ukrainischen nationalistischen Kräfte. Pogrome der Roten Armee machten weit unter zehn Prozent der Gesamtzahl der Pogrome im Bürgerkrieg aus und geschätzte 2,3 Prozent der durch antisemitische Gewalt Getöteten. Zwischen 1918 und 1920 fanden in 1.300 Städten und Dörfern in der Ukraine, dem zentralen Schauplatz antijüdischer Gewalt im Bürgerkrieg, über 1.500 Pogrome statt.
Es waren die Rote Armee und die Gründung der Sowjetunion im Jahr 1922, die dem bis dahin größten Massaker an Juden in der Geschichte ein Ende setzten. Dies war vor dem Genozid der Nazis während des Zweiten Weltkriegs, dem sechs Millionen Juden zum Opfer fielen. McGeever geht es in erster Linie darum, diese historische Leistung herabzumindern und ein falsches Bild ihrer politischen Grundlage zu vermitteln. Dazu muss er Ursprung und Charakter des modernen politischen Antisemitismus in grober Weise verzerren.
Zur Erläuterung seines Antisemitismus-Verständnisses zitiert McGeever Moishe Postones Behauptung, dass Antisemitismus „in Krisenmomenten antihegemonial erscheinen kann“ (zitiert auf S. 7). Postone, ein Anhänger der Frankfurter Schule, stellte diese These 2006 auf, ausgehend von seiner Einschätzung des Antisemitismus als einer „antikapitalistischen“ Bewegung.
Postone hatte seine Positionen im Zuge des französischen Generalstreiks des Jahres 1968 entwickelt, als Schichten der akademischen Intelligenz eine scharfe Wende nach rechts vollzogenund immer offener den Marxismus und die Konzeption der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse angriffen. In einem Artikel aus dem Jahr 1980 wandte sich Postone ausdrücklich dagegen, bei der Diskussion über den Aufstieg von Nazismus und Antisemitismus den Fokus auf die Arbeiterklasse zu legen, und er wies generell die marxistische Auffassung zurück, der Faschismus erwachse aus dem Kapitalismus.
Er postulierte, dass der Antisemitismus eigentlich eine Form von Antikapitalismus sei. Diese völlige Fehlorientierung gipfelte in der reaktionären Behauptung, dass Auschwitz „die wahre deutsche Revolution“ gewesen sei, und ein Verbrechen, das nicht daraus resultierte, dass die Nazis den Kapitalismus verteidigten, sondern aus revolutionären Veränderungen der gesellschaftlichen Beziehungen, die die Nazis durchsetzten. [1]
Diese Einschätzung des Antisemitismus stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Der moderne politische Antisemitismus appellierte zwar an verwirrte und rückständige antikapitalistische Stimmungen in der Mittelklasse, entpuppte sich aber als ideologische Waffe, die gegen die sozialistische Arbeiterbewegung gerichtet war und die kapitalistische Ordnung verteidigte. Diese Dynamik trat im russischen Zarenreich wahrscheinlich klarer und früher als irgendwo sonst hervor, und McGeevers Argumentation stützt sich ganz und gar darauf, dass er eine ernsthafte Erörterung dieser Geschichte unterschlägt.
Der politische Antisemitismus im russischen Zarenreich war beträchtlich beeinflusst von der Reaktion des Adels und der orthodoxen Kirche auf die Französische Revolution von 1789, mit der die feudale Herrschaft gestürzt und den Juden Bürgerrechte gewährt wurden. Der Zarenhof, die orthodoxe Kirche und Teile des Adels begannen, die Juden mit „auswärtigen“ Elementen und sozialer Revolution in Verbindung zu bringen.
Die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung wurde sowohl aus politischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen zur Staatspolitik. Ein Dekret des Zaren aus dem Jahr 1791 zwang die Juden des Russischen Reiches dazu, sich ausschließlich im sogenannten Ansiedlungsrayon dauerhaft niederzulassen. Dieses Gebiet, das bis 1917 bestand, erstreckte sich auf die heutige Ukraine, die baltischen Staaten, Weißrussland und einen Großteil des heutigen Polen. In erster Linie sollte damit die Konkurrenz jüdischer Händler eingedämmt werden, die als Bedrohung für die Moskauer Kaufleute betrachtet wurde. Den Juden wurden von da an besondere „Ansiedlungsbezirke“ zugewiesen, und seit 1794 wurden sie doppelt so stark besteuert wie der Rest der Bevölkerung.
Mit dem Auftreten eines multiethnischen und multireligiösen Proletariats im Russischen Reich sowie einer marxistischen Arbeiterbewegung in den beiden letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts nahm der offizielle Antisemitismus immer offener eine konterrevolutionäre und antisozialistische Orientierung an.
Die jüdische Bevölkerung stellte den am stärksten verstädterten Bevölkerungsteil im russischen Zarenreich und machte rasch einen beträchtlichen Anteil des neu entstandenen Proletariats aus. Am Ende des Jahrhunderts waren 52 Prozent der gesamten Stadtbevölkerung Weißrusslands und Litauens Juden, und jüdische Handwerker machten zwei Drittel bis drei Viertel der gesamten Klasse der Handwerker aus, die sich ihrerseits zu einem beträchtlichen Teil aus dem Gesamtproletariat innerhalb des Ansiedlungsrayons (außer Polen) zusammensetzte. [2]
Karl Kautsky, der führende deutsche Marxist der Zweiten Internationale, beschrieb die Bedingungen, denen jüdische Arbeiter zu dieser Zeit ausgesetzt waren, folgendermaßen: „Wenn das russische Volk mehr leidet als andere Völker, wenn das russische Proletariat mehr ausgebeutet wird als ein anderes Proletariat, so gibt es doch noch eine andere Klasse von Arbeitern, die noch mehr unterdrückt, ausgebeutet und geschunden werden als andere; dieser Paria unter den Parias ist das jüdische Proletariat in Russland.“ [2a]
Ein Hauptziel der staatlichen Diskriminierung der Juden und der Unterstützung für den Antisemitismus bestand darin, die sich entwickelnde Arbeiterbewegung zu spalten und die wachsenden antikapitalistischen und antizaristischen Stimmungen in der Arbeiterklasse und Bauernschaft in reaktionäre Kanäle zu lenken. Das wichtigste Feindbild des russischen Antisemitismus war der „jüdische Revolutionär“ bzw., nach 1917, der „jüdische Bolschewik“ und „jüdische Kommunist“.
Der deutsche Historiker Ulrich Herbeck schreibt:
„In dem Maße, in dem sich ab Ende der 90er-Jahre eine neue revolutionäre und demokratische Bewegung in Russland entwickelte, war die Reaktion dagegen antisemitisch aufgeladen, wohingegen die revolutionäre Bewegung die Gleichstellung der Nationalitäten und das Ende der religiösen Diskriminierung zu ihren Forderungen zählte. Spätestens ab Anfang des 20. Jahrhunderts war damit ein Rechts-links-Schema in der russischen Politik festgelegt, das den Antisemitismus eindeutig bei der Rechten einordnete … Der Verlauf der Revolution von 1905 etablierte endgültig die antirevolutionäre Ausrichtung des russischen Antisemitismus. Zum einen nahm die antisemitische Agitation im Laufe des Jahres sprunghaft zu, des Weiteren entstanden antirevolutionäre Organisationen, die extrem antisemitisch ausgerichtet waren. Höhepunkt dieser Entwicklung aber war die antijüdische Pogromwelle, die als konterrevolutionärer Backlash auf das Zarenmanifest vom 17. Oktober 1905 wirkte …
Die abermalige Zunahme und Radikalisierung des Antisemitismus ab 1911–12 ist eng mit der Unsicherheit der Antisemiten über den Fortbestand des zaristischen Systems verknüpft. Vertreter der parlamentarischen Rechten begründeten ihre Ablehnung der Juden, selbst wenn dieser Antisemitismus sich restaurativ gegen Lockerungen der Judengesetzgebung richtete, immer mit der drohenden revolutionären Gefahr, die von den Juden ausgehe. So äußerte sich Markov II auf dem siebten Kongress des Vereinigten Adels im Februar 1911 folgendermaßen: ‚Wir kämpfen und alle Staaten der Welt kämpfen gegen den Sozialismus … Uns erwartet eine soziale Revolution, die wieder von den Juden vorbereitet wird.‘“ [3]
Der russische Staat finanzierte und unterstützte planmäßig antisemitische, rechtsextreme Publikationen und Organisationen. Zwischen 1905 und 1916 wurden 14.327 Millionen (!) Ausgaben von 2.873 antisemitischen Büchern und Flugblättern publiziert. Alle passierten die staatliche Zensur, und viele von ihnen erhielten eine Finanzierung durch das Innenministerium. [4] Während des Ersten Weltkriegs wurde der Antisemitismus gezielt von der Führung der russischen Armee gefördert.
McGeever bespricht nichts davon. Seine Arbeit erwähnt mit keinem Wort die politischen und sozialen Kräfte, die vor der Revolution den Antisemitismus aktiv unterstützten. Nach einem kurzen und fehlerhaften Überblick über die Stellung der sozialistischen Bewegung zum Antisemitismus springt er unvermittelt ins Jahr 1917 und die Zeit des Bürgerkriegs, als die größten Pogrome in der Ukraine stattfanden. Er behauptet, sein Material liefere die Grundlage, das bislang ungekannte Ausmaß antisemitischer Stimmungen in der Roten Armee zu erkennen, in der, in seinen Worten, „der Antisemitismus grassierte“ (S. 105).
Antisemitische Stimmungen in der Roten Armee, die sich großenteils aus Bauern zusammensetzte, sowie die von einigen Abteilungen verübten Pogrome sind jedoch bereits ausführlich untersucht und beschrieben worden. Die bekanntesten Zeugnisse von Zeitgenossen finden sich in Isaak Babels Roman „Die Reiterarmee“. Die Führung der Bolschewiki und der Roten Armee wussten über sie sehr genau Bescheid und führten eingehende Diskussionen darüber. Auch Historiker wie Matthias Vetter, Ulrich Herbeck und Oleg Budnizki haben sie ausführlich dargestellt.
Ebenfalls gut bekannt ist, dass antisemitische Traditionen in der Bauernschaft in jenen Gebieten besonders ausgeprägt waren, die heute Bestandteil der Ukraine sind, wo sie von einem starken Zusammenfallen von ethnischer und Klassenspaltung befeuert wurden. Jahrhundertelang machten Ukrainer den überwiegenden Teil der Bauern aus, während der Adel zumeist aus Polen und Russen bestand und Juden oft als Geldverleiher für den Adel fungierten.
Daher resultierten seit dem 17. Jahrhundert mehrere Bauernaufstände gegen den Adel häufig in mörderischen antijüdischen Pogromen. Die berüchtigtsten Beispiele sind die Pogrome der Jahre 1648–1649 unter Führung von Bohdan Chmelnyzkyj, die unter der Bezeichnung „Khurbn“ (Katastrophe) Eingang in die jüdische Geschichte gefunden haben.
Als der Kapitalismus in diese Regionen eindrang, waren es zumeist Russen und Juden, aus denen sich die neue Arbeiterklasse formierte. Der russische Staat und die ukrainische nationalistische Bewegung versuchten deshalb bewusst, diese antisemitischen Stimmungen zu schüren, innerhalb der Arbeiterklasse wie auch zwischen Bauern und Arbeitern.
McGeevers Darstellung indessen reißt die Pogrome von Bauern und Einheiten der Roten Armee aus dem größeren Zusammenhang der Geschichte des Antisemitismus heraus. Damit bleiben nicht nur ihre wirklichen Wurzeln unverständlich, auch der Charakter des Antisemitismus in der Revolution insgesamt erfährt dadurch eine verzerrte Darstellung, und die Rolle, die der Antisemitismus als politische Waffe der Konterrevolution gegen die Bolschewiki und die Sowjetmacht spielte, wird verschleiert.
Den Weißen (die die Restauration von Autokratie und Kapitalismus unterstützten) und den ukrainischen Nationalisten, die den unterdrückten Bauern nichts anzubieten hatten außer der Wiedereinführung der verhassten Autokratie oder der Bildung eines bürgerlichen Marionettenstaats des Imperialismus, blieb nur der Antisemitismus, um an die unterdrückte Landbevölkerung zu appellieren. Wann immer die konterrevolutionären Kräfte eine Niederlage gegen die Bolschewiki einstecken mussten, machten sie die jüdische Bevölkerung dafür verantwortlich, indem sie das Feindbild des „jüdischen Bolschewiken“ beschworen. Ein Historiker beschrieb eines dieser Pogrome, das im Februar 1919 in Proskurow in Podolien (heute Ukraine) stattfand:
„Ein besonders drastisches Beispiel sind hierfür die Ereignisse vom Februar 1919 in Proskurow in Podolien. Auch dort wurden die Juden, die die Hälfte der 50.000köpfigen Bevölkerung der Stadt bildeten, für einen bolschewistischen Aufstand verantwortlich gemacht. Der Ataman Semesenko erklärte, dass die Juden die größten Feinde des ukrainischen Volkes seien und abgeschlachtet und bis zum letzten vernichtet werden müssten. Die Kosaken mussten einen Eid ablegen, dass sie die Juden töten, aber nicht berauben werden, was auch eingehalten wurde. Das folgende dreieinhalbstündige Massaker forderte 1500 Menschenleben.“ [5]
Da sich die Rote Armee überwiegend aus Bauern rekrutierte, von denen große Teile ihre politische Einstellung mehrmals während des Bürgerkrieges wechselten, war es unvermeidlich, dass antisemitische Vorurteile, die jahrzehntelang von der Autokratie und bürgerlichen Kräften geschürt worden waren und sich durch Analphabetentum und Unwissenheit verfestigt hatten, in der sowjetischen Armee ihren Niederschlag fanden.
Wie der russische Historiker Oleg Budnizki jedoch feststellte: „Anders als die Weißen schwiegen die Roten dieses Problem nicht tot; vielmehr bemühten sie sich ernsthaft, die judenfeindliche Gewalt zu stoppen und waren willens, dazu alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen.“ [6]
Der Kampf gegen den Antisemitismus war für den sowjetischen Staat wie für die Rote Armee eine grundsätzliche Frage. 1918 und 1919 erließen die Sowjetregierungen Russlands und der Ukraine (unter Christian Rakowski) mehrere Dekrete gegen den Antisemitismus. Im Jahr 1919, während des Bürgerkriegs, inmitten wirtschaftlicher Zerstörung und Chaos, finanzierte die Sowjetregierung drei Aufklärungsfilme über Antisemitismus und die Tonaufnahme einer Rede Lenins.
In der Roten Armee wurden Flugblätter gegen den Antisemitismus verteilt. An Pogromen Beteiligte wurden schwer bestraft. Beispielsweise wurden die Einheiten, die an den Pogromen von Budjonnys Erster Roter Reiterarmee in Polen im Jahr 1920 beteiligt waren, aufgelöst, und bis zu 400 Reiter wurden exekutiert. (Vgl. „Antisemitismus und Russische Revolution“).
Dagegen förderten die Armeen der Weißen und der ukrainischen Nationalisten, die Priester der orthodoxen Kirche sowie die deutschen und österreichischen Besatzungsbehörden systematisch den Antisemitismus – vor allem in Form von Anschuldigungen gegen die „jüdischen Bolschewiken“.
Da McGeever diese Fakten nicht bestreiten kann, versucht er, sie herunterzuspielen, und überflutet seine Leser mit erschütternden Beschreibungen von Pogromen – nicht um Erklärungen zu liefern, sondern um zu schockieren.
Wenngleich sie fraglos grauenvoll waren, fanden die meisten der schauerlichen Pogrome der Roten Militärkräfte, die McGreever am Anfang seines Buches beschreibt, zu einer Zeit statt, als diese Einheiten praktisch keiner militärischen Disziplin unterstanden. Der noch junge Arbeiterstaat, dessen Macht kaum über Petrograd und Moskau hinausreichte (und auch dort kämpfte er ums Überleben), hatte alle Mühe, seine Kräfte für den Kampf gegen 19 Invasionsarmeen mächtiger imperialistischer und kapitalistischer Staaten, die nach Russland eindrangen, zu sammeln.
McGeever spricht dies an einer Stelle an und gibt zu, dass der Mangel an Disziplin unter den Roten Garden und der Armee in der Frühphase des Krieges „vielleicht zur Erklärung des Charakters und des Ausmaßes des Antisemitismus in der Roten Armee beiträgt“. (S. 45)
Außerdem wurde die große Mehrzahl antisemitischer Gewalttaten in der Roten Armee von Einheiten verübt, die zuvor für die Weißen oder ukrainische Nationalisten gekämpft hatten. Wie ein deutscher Historiker schrieb, wurden „von allen 106 erfassten antijüdischen Ausschreitungen ‚roter‘ Truppen 72 eindeutig von ehemaligen ukrainischen oder weißen Einheiten verübt“. [7]
McGeever verwirrt seine Leser noch weiter, indem er die antisemitischen Pogrome zitiert, die im Frühling 1919 unter der Führung des ukrainischen Atamans Grigorjew verübt wurden, und diese als Beispiel anführt, wie „sich bolschewistischer revolutionärer Diskurs und antisemitische Konzeptionen des Jüdischseins überlappen konnten“. Diese Bemerkung ist einfach nur irreführend.
Grigorjew hatte im Jahr 1918 kurze Zeit für die Bolschewiki gekämpft, ebenso wie zahlreiche andere Atamane, die später die Seiten wechselten. Tatsächlich waren die antijüdischen Pogrome, wie McGeever eingesteht, Teil eines antibolschewistischen Aufstandes, in welchem Grigorjew seine Anhänger dazu aufrief, die „‘Juden‘-Sowjet-Regierung“ anzugreifen.
Die Bolschewiki mobilisierten die Rote Armee, um den Aufstand zu unterdrücken, und konnten deshalb der belagerten ungarischen Sowjetrepublik nicht zu Hilfe eilen. Alle offiziellen Dokumente verurteilten die antijüdische Gewalt aufs Schärfste. In diesem Sinn veröffentlichte das Odessaer Komitee der Kommunistischen (bolschewistischen) Partei der Ukraine im Sommer 1919 folgenden Appell gegen Pogrome:
„DIE SCHWARZHUNDERTER UND DIE GRIGORJEW-BANDE IM BUNDE MIT DER WELTBOURGEOISIE VERSUCHEN, DIE KOMMUNISTISCHE REVOLUTION IM BLUT UNSCHULDIGER OPFER ZU ERTRÄNKEN, IM BLUTE ARMUTGEPLAGTER JUDEN. JUDENPOGROME SIND DER STROHHALM, AN DEN DIE ABSTERBENDE ALTE WELT SICH KLAMMERT, UM IHR KAPITAL ZU RETTEN.“ [8]
Fraglos hatte die Rote Armee objektive Probleme zu bewältigen, doch McGreevers verleumderische Darstellung, sie sei eine regelrechte Brutstätte für Rückständigkeit und Antisemitismus gewesen, verzerrt und verfälscht die geschichtliche Wahrheit vollkommen. Die Rote Armee war ein machtvolles Werkzeug zur Verteidigung und Ausdehnung der sozialistischen Revolution sowie der politischen und kulturellen Erziehung von Millionen von Arbeitern und Bauern.
Wie Trotzki im September 1918 betonte, hatte die Rote Armee nicht nur eine militärische, sondern zugleich „eine große kulturelle und moralische Mission“. Sie erbte, in den Worten des Historikers Mark von Hagen, „die Vision der Armee als authentische Kraft zur Verbreitung aufklärerischer Werte“. [9]
Die dringlichste Aufgabe im kulturellen Bereich war die Alphabetisierung: Die große Mehrheit der Bevölkerung, und folglich auch der Armee, war des Lesens und Schreibens unkundig. Im Januar 1919 startete der sowjetische Volkskommissar für Volksaufklärung, Anatoli Lunatscharski, eine große Alphabetisierungskampagne, die sich an jeden zwischen acht und fünfzig Jahren richtete, „damit Lesen und Schreiben auf Russisch oder in der eigenen Landessprache, je nach Wunsch, gelernt werden kann“. [10]
In der Roten Armee wurden Alphabetisierungskurse als Pflichtveranstaltungen für Soldaten eingeführt. Das erste Emblem der Roten Armee enthielt die Symbole Hammer, Sichel, Gewehr und ein Buch. Trotz erheblichen Papiermangels wurden allein in der zweiten Jahreshälfte 1919 mehr als sechs Millionen Druckerzeugnisse unter den Soldaten verteilt, darunter Broschüren, Poster, Bücher und Journale. Diese Hebung des Bewusstseins der Massen in politischer und kultureller Hinsicht war ein unverzichtbarer Bestandteil des Kampfs gegen den Antisemitismus.
McGeevers Gleichgültigkeit gegenüber diesen historischen Bemühungen um politische und kulturelle Bildung (die er nicht einmal erwähnt) wurzelt in seiner Annahme, dass rassische, ethnische und nationale Trennungen unüberwindbar seien und das Verhalten und Denken des Einzelnen bestimmten. Auf diese Weise leugnet er nicht nur den Klassenursprung des Antisemitismus, sondern auch die Möglichkeit, ihn durch eine revolutionäre Veränderung der sozialen Beziehungen und eine systematische Erziehung der Massen zu bekämpfen. Diese Positionen sind auch die treibende Kraft hinter seinen vehementen Angriffen auf die Bolschewiki und insbesondere Lenin.
Marxismus und der Kampf gegen Antisemitismus
McGeevers ständige Verweise darauf, der Antisemitismus sei der „sozialen Basis des Bolschewismus“ inhärent, sollen die Grundorientierung des Marxismus in Misskredit bringen. Dieser besteht darauf, dass der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus sich auf den Klassenkampf und besonders auf die Arbeiterklasse stützen muss.
Nachdem er seine Leser durch erschreckende Beschreibungen von Pogromen eingestimmt hat, widmet McGeever einen Großteil seiner politischen und theoretischen Argumentation im zweiten Teil seines Buches expliziten Angriffen auf den Marxismus und den Bolschewismus. Er prangert vor allem Lenin an, der angeblich versucht habe, die Beteiligung von Arbeitern und Bauern an antisemitischer Gewalt herunterzuspielen, und dessen Betonung der Verbindung zwischen Antisemitismus und den Interessen der Bourgeoisie Ausdruck einer „beschränkten und vereinfachenden“ Sichtweise gewesen sei.
McGeever schreibt:
„Klassenkonzepte wie ‚Bourgeoisie‘ beinhalteten häufig ethnische (und manchmal spezifisch antisemitische) Überdeterminierungen. Nach landläufiger Meinung stand „der Jude“ häufig für eine dem ‚arbeitenden Volk‘ (trudjaschtschiesja oder trudowoj narod) feindlich gegenüberstehende Klasse … die Kategorien des Klassenkampfs waren anfällig für antisemitische Verwendung und Interpretation, insbesondere im früheren Ansiedlungsrayon … Wie konnte die bolschewistische Führung sicher sein, dass ein so schwammiger und dehnbarer Begriff wie ‚Spekulant‘ im marxistischen und nicht im antisemitischen Sinne verstanden wurde? Oder wenn im Jahr 1919 im Zentrum Kiews Poster der Roten Armee aufforderten: ‚Schlagt die Bourgeoisie!‘ (‘burschujew bit!’) – wie konnten die Bolschewiki sicher sein, dass diese Botschaft nicht die Erinnerung an den uralten und berüchtigtsten aller antisemitischen Slogans in Russland wachrufen würde: ‚Schlagt die Juden!‘?“ (S. 183–184)
Gemäß dieser Logik würde jeder, der als Marxist argumentiert, den Antisemitismus „stärken“, nur weil Menschen mit antisemitischen Vorurteilen Klassenterminologie als antisemitische Begriffe missdeuten könnten. Ein solches Argument ist unhaltbar und unseriös. Es kann leicht zur Denunzierung jeglicher Politik benutzt werden, die von Rassisten und Antisemiten missverstanden und rassistisch und antisemitisch gedeutet werden könnte. Tatsächlich wird dieses Argument heute (unter dem Vorwand, das leiste dem Antisemitismus Vorschub) eingesetzt, um die marxistische Kritik am Kapitalismus und ihre Betonung der Mobilisierung der Arbeiterklasse zum Sturz der bürgerlichen Herrschaft pauschal zu diskreditieren.
In Wirklichkeit konnte einzig das Beharren des Marxismus auf dem Klassenverständnis die verhängnisvolle Vorstellung untergraben, es gäbe ein geeintes Volk oder eine geeinte Rasse, die im Gegensatz zu den Juden und anderen Nationalitäten und Ethnien stehen würde. Das war umso wichtiger, weil die antisemitische Argumentation behauptete, „reiche Juden“ stünden „armen“ „Ukrainern“ oder „Russen“ gegenüber. In seiner berühmten Ansprache „Über die Pogromhetze gegen die Juden“ aus dem Jahr 1919 – dem einzigen offenen Angriff eines Staatsoberhaupts auf den Antisemitismus in der damaligen Zeit und für lange Zeit danach – verurteilte Lenin diesen nachdrücklich:
„Feindschaft gegen die Juden hält sich zäh nur dort, wo die Knechtung durch die Gutsbesitzer und Kapitalisten die Arbeiter und Bauern in stockfinsterer Unwissenheit gehalten hat … Nicht die Juden sind die Feinde der Werktätigen. Die Feinde der Arbeiter sind die Kapitalisten aller Länder. Unter den Juden gibt es Arbeiter, Werktätige: sie bilden die Mehrheit. Was die Unterdrückung durch das Kapital anbelangt, sind sie unsere Brüder, im Kampf für den Sozialismus sind sie unsere Genossen. Unter den Juden gibt es Kulaken, Ausbeuter, Kapitalisten; wie es sie unter allen Nationen gibt. Die Kapitalisten sind bemüht, zwischen den Arbeitern verschiedenen Glaubens, verschiedener Nation, verschiedener Rasse Feindschaft zu säen und zu schüren. Die Nichtarbeitenden halten sich durch die Stärke und die Macht des Kapitals. Die reichen Juden, die reichen Russen, die Reichen aller Länder unterdrücken und unterjochen im Bunde miteinander die Arbeiter, plündern sie aus und entzweien sie. Schande über den verfluchten Zarismus, der die Juden gequält und verfolgt hat. Schmach und Schande über den, der Feindschaft gegen die Juden, Hass gegen andere Nationen sät. Es lebe das brüderliche Vertrauen und das Kampfbündnis der Arbeiter aller Nationen im Kampf für den Sturz des Kapitals.“ [11]
McGeever weist diesen klassenbasierten Ansatz für den Kampf gegen den Antisemitismus zurück und beharrt energisch darauf, dass die „sowjetische Antwort auf den Antisemitismus“ nicht in den „assimilatorischen und internationalistischen Strömungen“ im Marxismus begründet war (S. 8). Vielmehr seien lediglich jüdische Sozialisten, die eine „Nähe zu einem jüdischen sozialistisch–nationalen Projekt“ aufwiesen, konsequente Kämpfer gegen den Antisemitismus gewesen, weil sie einem „ethischen Imperativ“ folgten (S. 171).
Den Beweis für diese Behauptung, so McGeever, liefere die entscheidende Rolle der Jewsekzija (jüdische Parteisektion) und der Jewkom (Jüdisches Kommissariat) im Kampf gegen den Antisemitismus. Beide Institutionen bestanden überwiegend aus sozialistischen Zionisten, die der Linken Poale Zion (LPZ) oder dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund angehörten und an einer spezifischen Form jüdisch-kulturellen Nationalismus‘ festhielten. Ihre Politik, schreibt McGeever, „wirkte den Fallstricken eines rassenblinden Klassenreduktionismus entgegen“.
In Wirklichkeit ist die wichtige Rolle, die diese Institutionen im Kampf gegen den Antisemitismus spielten, wohlbekannt, und McGeevers Argument macht, historisch gesprochen, keinen Sinn. Diese Institutionen hatte die bolschewistische Regierung geschaffen, und die ihnen zugewiesene Aufgabe bestand ausdrücklich darin, ihre Aufmerksamkeit auf die Bedingungen der jüdischen Massen zu richten und sie für die Revolution zu gewinnen. Wenn sie den Kampf gegen den Antisemitismus anführten, dann taten sie genau das, womit sie beauftragt waren.
Die staatliche und politische Macht indessen, die für die Institutionalisierung des Kampfes gegen den Antisemitismus und seine Erhebung zur Staatspolitik notwendig war, ist erst durch die bolschewistische Machtergreifung und die Errichtung eines Arbeiterstaates geschaffen worden.
Diese Einschätzung bestätigt McGeever nur, wenn er die entscheidende Rolle des Sowjets (Rates) der Arbeiter- und Soldatendeputierten als „Dreh- und Angelpunkt der sozialistischen Antwort auf den Antisemitismus im Jahr 1917“ thematisiert. Damit konterkariert er seinen eigenen Versuch, die angeblich „nichtbolschewistische“ Grundlage des sowjetischen Kampfs gegen den Antisemitismus nachzuweisen.
Die Sowjets, die im Jahr 1917 im Russischen Reich entstanden, schufen bewaffnete Einheiten, um die lokale jüdische Bevölkerung zu schützen, und bildeten Kommissionen für den Kampf gegen den Antisemitismus. Bereits wenige Tage nach seiner Gründung bildete der Petrograder Sowjet am 3. März 1917 eine Kommission unter Führung des Bundisten Mische Rafes und beauftragte sie damit, die „Schwarzhunderter“ daran zu hindern „nationalen Hass in der Bevölkerung“ zu säen (S. 22). Nur wenige Tage, nachdem er ins Leben gerufen worden war, begann der Moskauer Sowjet damit, antisemitische Vorfälle zu registrieren. „In dem ehemaligen Ansiedlungsrayon“, schreibt McGeever, „trugen die lokalen Sowjets maßgeblich dazu bei, antisemitische Pogrome zu verhindern.“ (S. 26)
Selbst McGeever muss zugeben, dass die hauptsächlichsten Dokumente von führenden Bolschewiki verfasst wurden. So beauftragte der Erste Sowjetkongress im Juni 1917 Jewgeni Preobraschenski, einen engen Genossen Leo Trotzkis, mit der Ausarbeitung einer Resolution gegen den Antisemitismus, die einstimmig angenommen wurde. McGeever selbst nennt sie die „bis dahin fraglos bedeutendste Erklärung der sozialistischen Bewegung zum Antisemitismus“. (S. 25) Eine zweite Resolution gegen den Antisemitismus verabschiedete der historische Zweite Sowjetkongress (7.–9. November 1917), auf dem der Sturz der Provisorischen Regierung und die Errichtung der Sowjetmacht verkündet wurde.
Die Rolle, die die Sowjets im Jahr 1917 im Kampf gegen den Antisemitismus übernahmen, unterstreicht nur die Richtigkeit der Forderung der Bolschewiki: „Alle Macht den Sowjets“. Diese Forderung wurde sowohl von den Menschewiki als auch den Bundisten zurückgewiesen. Beide passten sich an bürgerliche Kräfte an und waren überzeugt, dass es ohne eine vorherige lange Periode bürgerlich-demokratischer Entwicklung „verfrüht“ sei, die Arbeitermacht zu errichten.
Welche Absichten diese politischen Organisationen auch verfolgten, und wie aufrichtig sie den Antisemitismus bekämpfen wollten – hätte sich die opportunistische Linie der Menschewiki und Bundisten durchgesetzt, wäre die Staatsmacht an die Konterrevolution gefallen. Dann hätten rabiat antisemitische und faschistische Figuren vom Schlage General Kornilows in der neuen Regierung den Ton angegeben. Die Geschichte liefert genügend Beispiele für konterrevolutionäre Gräuel von der Art, wie sie dann die Folge gewesen wären. Dazu zählen etwa die Gewaltorgien, die diese Kräfte gegen Juden und die Zivilbevölkerung im russischen Bürgerkrieg entfesselten, oder die Barbarei der Nazis, die für ihren Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und ihren Genozid an den Juden viele Veteranen der ukrainischen Nationalisten und der Weißen mobilisieren konnten.
McGeevers Behauptung ist nicht nur historisch unbegründet, sie stellt auch eine Verleumdung gegen Marxisten als Rassisten dar. Diese schlossen sich in Wirklichkeit ungeachtet ihrer jeweiligen Herkunft dem revolutionären Kampf gegen Antisemitismus, Nationalismus und Rassismus an. Indem McGeever das marxistische Kriterium der Klasse zurückweist, folgt er faktisch der reaktionären Logik von Rassismus und Nationalismus – namentlich der Vorstellung, dass nur Juden allein sich wirklich um die Interessen und das Überleben von Juden kümmern könnten.
Die schlagkräftigste historische Widerlegung dieser Auffassung ist die tatsächliche Bilanz der Oktoberrevolution und der Kampf der Bolschewiki gegen Antisemitismus. McGeevers Interpretation wirft zudem eine andere Frage auf: Wie will er die Politik eines rechten Zionisten wie Wladimir Jabotinsky erklären, der sich im Jahr 1925 anerkennend über einen der schlimmsten Pogromtäter des russischen Bürgerkriegs, den ukrainischen Nationalisten Symon Petljura, äußerte? Oder die Rolle antibolschewistischer russisch–jüdischer Politiker wie Maxim Winawer, der bei Imperialisten um Unterstützung für die Koltschak- und Denikin-Regierungen warb und diese als Hort der Demokratie und Toleranz darstellte, selbst als sie grauenvolle Pogrome durchführten. [12]
Der Kampf gegen Antisemitismus war letztlich eine Klassenfrage, und die Betonung dieses Aspekts durch die Sowjetregierung und die Bolschewistische Partei war untrennbar verbunden mit ihrer Orientierung auf eine internationale sozialistische Revolution der Arbeiterklasse. In einem Artikel, den Leo Trotzki unmittelbar vor der Machteroberung schrieb, beharrte er darauf, dass der Kampf gegen den Antisemitismus von einem revolutionären Wandel in den sozialen Beziehungen und der Verbesserung der sozialen Lage der arbeitenden Bevölkerung als Ganzer abhing:
„Worauf stützt sich die Pogrom-Agitation? Auf die Unwissenheit, und vor allem auf die Armut, den Hunger und die Verzweiflung der unteren Schichten der Arbeitermassen … Natürlich müssen wir mit Wort und Überzeugung gegen die Pogrom-Agitation kämpfen. Aber das allein ist sehr wenig. Wir brauchen eine Revolution, die ihr Gesicht den Armen zuwendet, und nicht umgekehrt. Es ist notwendig, dass der unwissendste, am meisten in die Enge getriebene und betäubte Arbeiter in seinem Innersten fühlt, dass die revolutionäre Macht ihn beschützt und nicht den Reichen … Der einzige ernstzunehmende Weg, den Einfluss der Schwarzhunderter auf die Unterdrückten zu bekämpfen, ist die Übertragung aller Macht an die Sowjets. Je länger ein solcher Übergang dauert, desto verheerender wird die Pogrombewegung sein.“ [13]
Wie Trotzki in seiner Theorie der Permanenten Revolution nachgewiesen hatte, war eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in Russland ohne eine internationale Ausweitung der Revolution, vor allem in Europa, undenkbar. Letztlich war das Schicksal der Juden, eine der unterdrücktesten Bevölkerungsgruppen, untrennbar mit der Entwicklung der internationalen sozialistischen Revolution verbunden. Die jüdischen Sozialisten, die McGeever hervorhebt, verstanden das. Ihre aktive Rolle in der Sowjetregierung war das Ergebnis einer Linksentwicklung bedeutender Teile der jüdischen Arbeiterbewegung, die sich später, in den Jahren 1918–1919, wegen unterschiedlichen Bewertungen der Oktoberrevolution spaltete.
Ihre Annäherung an die Bolschewiki wurde durch den Ausbruch der Revolution in Deutschland 1918 beschleunigt, der als Bestätigung der bolschewistischen Machtergreifung und Ausrichtung auf eine Weltrevolution angesehen wurde. Mitglieder der LPZ und des Bundes spielten weiterhin eine wichtige Rolle im Bürgerkrieg und später im frühen Sowjetstaat.
Das Wiederaufleben des Antisemitismus in der Sowjetunion war nicht, wie McGeever am Ende behauptet, das Ergebnis einer Art „sowjetischen Antisemitismus‘“, der nie überwunden wurde und „den Stalinismus überlebte“ (S. 215). Ursächlich dafür, und untrennbar damit verbunden, war die stalinistische Reaktion gegen das Programm der sozialistischen Weltrevolution, das die Grundlage für den Oktoberumsturz gebildet hatte.
In ihrem Bestreben, das konterrevolutionäre Programm des „Sozialismus in einem Land“ gegen die Linke Opposition unter Führung Leo Trotzkis zu verteidigen, bediente sich die Sowjetbürokratie des alten konterrevolutionären Feindbildes des „jüdischen“ und „internationalen Revolutionärs“, um in Teilen der Bauernschaft und der Intelligenz antisemitische Gefühle gegen die authentischen Marxisten und Verteidiger der bolschewistischen Prinzipien zu mobilisieren.
McGeevers Darstellung, die darauf basiert, den konterrevolutionären Charakter des Antisemitismus explizit zu leugnen, macht es unmöglich, die tatsächliche Rolle des Antisemitismus in der sozialistischen Revolution in Russland zu verstehen. Damit untergräbt sie auch jedes Verständnis dafür, wie er heute bekämpft werden kann.
Es handelt sich um eine Darstellung, die nicht auf historischen Daten und Tatsachen beruht, sondern ein politisches und ideologisches Ziel verfolgt: die Förderung einer antimarxistischen Identitätspolitik. Letztlich dient sein Buch als pseudohistorischer Deckmantel für die verlogenen Kampagnen gegen „Antisemitismus“, die kapitalistische Regierungen in Großbritannien (die Anti-Corbyn-Hexenjagd), Deutschland (die Kampagne gegen den „Linksextremismus“) und anderswo führen. Diese Regierungen, die rechtsextreme Kräfte aktiv fördern, versuchen gleichzeitig, jede linke Kritik am politischen Establishment als antisemitisch zu diskreditieren.
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Anmerkungen:
[1] Moishe Postone: “Anti-Semitism and National Socialism. Notes on the German Reaction to ‘Holocaust’,” [Antisemitismus und Nationalsozialismus. Anmerkungen zur deutschen Reaktion auf den ‚Holocaust‘] in New German Critique, Nr. 19, 1980, S. 114 [aus dem Englischen]. Erwähnenswert ist, dass Postone in seinem Essay aus dem Jahr 2006, den McGeever zitiert, die Behauptung, dass Antisemitismus „antikapitalistisch“ und „antihegemonial“ sei, dazu nutzt, um die Gegner der US-Invasion des Irak 2003 für ihre „zum Fetisch erhobene ‚antiimperialistische Position‘“ und ihre angebliche Anpassung an den Antisemitismus der arabischen Bourgeoisie zu verurteilen. Moishe Postone: “History and Hopelessness. Mass Mobilization and Contemporary Forms of Anticapitalism” [Geschichte und Hoffnungslosigkeit. Massenmobilisierung und zeitgenössische Formen des Antikapitalismus] in Public Culture, Bd. 18, Nr. 1, 2006, S. 93–110 [aus dem Englischen].
[2] Ezra Mendelsohn: Class Struggle in the Pale. The Formative Years of the Jewish Workers’ Movement in Tsarist Russia [Klassenkampf im Rayon. Die Gründungsjahre der jüdischen Arbeiterbewegung im zaristischen Russland], Cambridge University Press 1970, S. 5.
[2a] Ebd., S. 1 [aus dem Englischen]
[3] Ulrich Herbeck: Das Feindbild vom „jüdischen Bolschewiken“: Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Russischen Revolution, Berlin 2009, S. 55. Herbecks Buch ist bis heute die umfassendste Studie zum russischen Antisemitismus. McGeever weiß von der Existenz dieses Buches, aber er zitiert nie daraus.
[4] Ebd., S. 59–62.
[5] Matthias Vetter: Antisemiten und Bolschewiki. Zum Verhältnis von Sowjetsystem und Judenfeindschaft 1917–1939, Berlin 1995, S. 34.
[6] Oleg Budnizki: Russian Jews Between the Reds and the Whites, 1917–1920, University of Pennsylvania Press 2012, S. 368 [aus dem Englischen].
[7] Vetter, S. 43–44.
[8] „Ein Appell gegen Pogrome“, Sommer 1919, in: Rex Wade (Hg.): Documents of Soviet History [Dokumente der sowjetischen Geschichte], Bd. 1, The Triumph of Bolshevism, 1917–1919 [Der Sieg des Bolschewismus, 1917-1919], Academic International Press 1991, S. 384 [Großbuchstaben im Original].
[9] Mark von Hagen: Soldiers in the Proletarian Dictatorship. The Red Army and the Soviet Socialist State, 1917–1930 [Soldaten in der Diktatur des Proletariats. Die Rote Armee und der sowjetische sozialistische Staat, 1917-1930], Cornell University Press 1990, S. 93.
[10] Dekret „Die Eliminierung des Analphabetentums“, in: Wade: Documents, S. 304
[11] Wladimir I. Lenin, Werke, Bd. 29, Berlin 1961, S. 239–240.
[12] Vgl. Budnizki, Russian Jews Between the Reds and the Whites, S. 296–332.
[13] Leo Trotzki, „Pogromnaja agitazija“ [Pogrom-Agitation], in: Rabotschij i Soldat, Nr. 2, 18. Oktober 1917, S. 31. Online einsehbar hier: http://www.1917.com/Marxism/Trotsky/CW/Trotsky-1917-II/6-0-D.html (aus dem Russischen).