Corbyn ruft Projekt „Frieden und Gerechtigkeit“ ins Leben, um den Kampf gegen den rechten Labour-Flügel abzublocken

Dank meiner gleichzeitigen umfassenden Gelegenheit zur Beobachtung der Mittelklasse, eures Gegners, bin ich sehr schnell zu dem Schluß gelangt, daß ihr im Recht, völlig im Recht seid, wenn ihr von ihnen keinerlei Hilfe erwartet. Ihre Interessen sind den euren diametral entgegengesetzt, obgleich sie immer versuchen werden, das Gegenteil zu behaupten und in euch den Glauben zu wecken an ihr herzlichstes Mitgefühl mit eurem Schicksal. Ihre Taten strafen sie Lügen... Was haben sie getan, um ihre vorgeblichen guten Absichten euch gegenüber zu beweisen? Haben sie euren Leiden jemals irgendwie ernste Beachtung geschenkt? Haben sie mehr getan, als die Kosten zu bewilligen für ein halbes Dutzend Untersuchungskommissionen, deren umfangreiche Berichte verurteilt sind, ewig unter Haufen von Makulatur auf den Regalen des Home Office zu schlummern?“

Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 1845

Die Ankündigung von Jeremy Corbyns geplantem „Projekt für Frieden und Gerechtigkeit“ (Project for Peace and Justice), das er im neuen Jahr ins Leben rufen will, ruft die Worte von Friedrich Engels ins Gedächtnis. Obwohl 175 Jahre vergangen sind, seit der große Revolutionär – dessen Geburt sich heuer zum 200. Mal jährt – in seinen Schriften mit der abstoßenden Perfidie der englischen Mittelschicht abgerechnet hat, treffen seine Beobachtungen heute noch immer ins Schwarze.

Der gestürzte Labour-Chef tritt in einem vierminütigen Video auf, das er als „Kostprobe“ für sein neues Projekt bezeichnete. In diesem Video, das wie ein Werbevideo für eine Wohltätigkeitsaktion von Christian Aid oder die neueste Initiative der Vereinten Nationen wirkt, erklärt Corbyn in mildtätigem Tonfall, er sei „sehr aufgeregt“ und wolle „Menschen in Großbritannien und der ganzen Welt für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechte“ zusammenbringen.

Vor dezentem Hintergrund und dem biblisch anmutenden „PJ“-Logo intoniert er: „Es war ein schweres Jahr für uns alle“, Covid-19 habe „das Ausmaß der Ungerechtigkeit und Ungleichheit in unserer Gesellschaft entlarvt und verschärft“.

„Schwierig“ ist eine Untertreibung. Aufgrund des Profitstrebens der globalen Oligarchie ist die Corona-Pandemie außer Kontrolle geraten, die Folgen sind eine stetig wachsende Zahl an Opfern sowie wirtschaftliches und soziales Elend. Doch Corbyn wirkt bemerkenswert unberührt, eigentlich wirkte er noch nie so entspannt und selbstsicher.

Falls er Erhabenheit und eine fast frömmlerische Entrückung vom menschlichen Leiden vermitteln wollte, so ist der tatsächliche Eindruck Selbstzufriedenheit und Selbstgefälligkeit.

Weiter erklärt er, der „unsachgemäße Umgang“ mit der Pandemie habe die „Unfähigkeit unseres privatisierten, ausgehöhlten Systems gezeigt, die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen“. Darauf folgt eine kurze Auflistung der diversen Unzulänglichkeiten „unserer politischen und wirtschaftlichen Systeme“, beginnend mit einer Hommage an die Bewegung Black Lives Matter, die „die Geißel des Rassismus“ enthüllt habe, „Waldbrände in ganz Australien, Russland und den USA“ und die „jahrelangen endlosen Kriege und Wirtschaftskrisen“. Dies alles habe gezeigt, „wie verbunden wir alle sind“, und wie dringend wir „Solidarität“ brauchen, um „unsere gemeinsamen Probleme“ zu lösen.

Allerdings geht Corbyn nicht darauf ein, welches System gescheitert ist. Das Wort „Kapitalismus“ kommt ihm ebenso wenig über die Lippen wie eine genaue Schilderung dessen, was denn so dringend notwendig ist, um die Pandemie aufzuhalten, Menschenleben zu retten, den Planeten zu schützen und soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Auch die wachsende Gefahr von Faschismus und autoritärer Herrschaft erwähnt er nicht. Stattdessen erklärt er, sein Ziel sei es „Raum, Hoffnung und Gelegenheit“ zu schaffen, „Erfahrungen zu teilen und Ideen zu entwickeln“ sowie „Forschung und Analyse“ zur Verfügung zu stellen.

Dann kommt er zum Kleingedruckten: „Dieses Projekt wird kein Ersatz für eine andere Kampagne oder Organisation sein“.

Corbyns Suspendierung als Abgeordneter der Labour Party und sein möglicher Parteiausschluss bilden die Speerspitze einer Hexenjagd im Stile der McCarthy-Ära unter der Führung des derzeitigen Parteichefs Sir Keir Starmer mit Unterstützung durch die Geheimdienste Großbritanniens, der USA und Israels. Ziel dieser Kampagne ist es, alle Reste von linker Gesinnung aus der Labour Party zu vertreiben.

Um dieses Ziel zu erreichen, wurde in der Labour Party ein Regime wie in den früheren stalinistischen Parteien errichtet. Hunderte von Ortsgruppen wurden zensiert, führende Mitglieder wegen des „Verbrechens“ ausgeschlossen, sich mit Corbyn solidarisiert zu haben. Labour-Generalsekretär David Evans erklärte, die Gewährleistung eines „sicheren Raums“ für diejenigen, die sich bei Parteiveranstaltungen „unerwünscht und unsicher fühlen“, sei „momentan wichtiger als die Rechte [unserer Mitglieder]“.

Diese Säuberungsaktion dient zwar vorgeblich dem Ziel, „jüdische Mitglieder“ zu unterstützen, doch die Disziplinaraktionen gegen Mitglieder richten sich in zunehmendem Maße gegen antizionistische Juden wie Moshé Machover und Naomi Wimborne-Idrissi, die Kritik an der Hexenjagd geäußert haben.

Dass es sich bei der Behauptung, all das hätte etwas mit einem Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus zu tun, um eine groteske Farce handelt, verdeutlicht Starmers beschwichtigende Antwort auf einen Anruf bei einer LBC-Radiosendung. Die Anruferin vertrat offen die unter Faschisten populäre Theorie des „großen Austauschs“, laut der Weiße in Großbritannien „bis 2066 eine Minderheit werden“. Auf die Frage, warum sie als „weiße britische Frau“ nicht das „gleiche Recht auf Selbstbestimmung“ habe wie israelische Juden, versicherte Starmer ihr: „Wir alle haben diese Rechte.“ Die Anruferin bezog sich auf ein Gesetz, das in Israel 2018 erlassen wurde, laut dem dort nur Juden das Recht auf Selbstbestimmung haben.

In den letzten Monaten sind mehr als 50.000 Mitglieder aus der Labour Party ausgetreten. Doch Corbyn erwähnt Starmer oder die Hexenjagd in seinem Video mit keinem Wort. Er behauptet lediglich, sein Projekt werde „auf der populären sozialistischen Politik aufbauen, die in den letzten fünf Jahren in der Labour Party entwickelt wurde“.

Die Corbyn-nahe Website Canary erklärte: „Es mag eine Enttäuschung sein, dass Corbyn keine neue Partei gegründet hat [...] Aber sein neues Projekt wird hoffentlich über Parteilinien hinweg funktionieren und Zusammenarbeit und Veränderungen außerhalb des etablierten demokratischen Prozesses hervorbringen“.

Auch das Magazin Jacobin, das Sprachrohr der Democratic Socialists of America, berichtete umfassend über Corbyns Projekt. In einem Interview mit dem Magazin erklärte Corbyn zu seinem jüngsten Vorhaben: „Das ist keine neue Partei, sondern ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen können“.

Die DSA haben sich bemüht, radikalisierte Arbeiter und Jugendliche den Demokraten unterzuordnen, anfänglich durch ihre uneingeschränkte Unterstützung für den Präsidentschaftswahlkampf von Bernie Sanders. Nach dessen Niederlage schwenkten sie auf begeisterte Unterstützung für Biden um und spielten vorsätzlich die Gefahr von Trumps faschistischen Putschplänen herunter.

Auch Corbyns Initiative soll als politische Internierung fungieren, um eine Rebellion gegen die Labour- und Gewerkschaftsbürokratie zu verhindern. An der offiziellen Gründung werden u.a. die ehemalige Chefin der Gewerkschaft National Education Union und heutige Labour-Abgeordnete im Oberhaus, Christine Bowler, teilnehmen, daneben Unity-Generalsekretär Len McCluskey, der ehemalige Geheimdienstminister des ANC und heutige Angehörige der Kommunistischen Partei Südafrikas, Ronnie Kasrils, sowie Yannis Varoufakis, ehemaliger Minister in der griechischen Syriza-Regierung.

Die Behauptung, die Labour Party – die seit mehr als einem Jahrhundert die wichtigste politische Gegnerin des Sozialismus in Großbritannien ist – könne durch den „Corbynismus“ geändert werden, war schon immer eine Lüge. Das Vorhaben wurde von den Pseudolinken gesteuert, und als Vorbild dienten ihnen Syriza und andere antimarxistische pseudolinke Tendenzen wie die Neue Antikapitalistische Partei in Frankreich, die Linkspartei in Deutschland, Podemos in Spanien oder die DSA.

Die britische SEP erklärte in der Resolution ihres Parteitags von 2020: „Verwurzelt in wohlhabenden Teilen der Mittelschicht, beharren sie darauf, dass die Arbeiterklasse keine revolutionäre Kraft mehr ist, sondern von einer Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen abgelöst wurde, die ihre Identität nach Nation, Hautfarbe, Geschlechtszugehörigkeit oder Lebensstil definieren [...] Um die Rolle dieser Parteien zu identifizieren und zu erklären, prägte das IKVI den Begriff ,Pseudolinke‘: Sie unterstützen den Kapitalismus, stellen sich dem Klassenkampf entgegen, vertreten philosophischen Irrationalismus und befürworten neokoloniale Kriege.“

Im Rahmen dieser Initiativen „neuer linker Parteien“ sind Syriza und Podemos in Regierungen der herrschenden Elite eingetreten oder haben sich zu Geburtshelfern von Starmers Labour Party und Bidens künftiger Regierung aus Bankern und Kriegsverbrechern gemacht.

Nach dem Scheitern ihrer früheren Vorhaben schlagen die Pseudolinken jetzt „Projekte“, „Forschung und Analyse“ und den „Austausch von Ideen“ vor. Gleichzeitig verdoppeln sie ihre Anstrengungen, die revolutionären Implikationen des Zusammenbruchs des Kapitalismus hinter der ideologischen Tarnfarbe von Identitätspolitik, eines „Green New Deal“ oder anderen Begriffen zu verbergen. Das Gerede von „Solidarität“ ohne eindeutigen Klasseninhalt oder Klasseninteressen, die geschützt werden sollen, ist ein Codewort für die Organisierung einer bürgerlichen „progressiven Koalition“, die „über parteipolitische Linien hinweg“ arbeitet, um den unabhängigen sozialistischen Klassenkampf der Arbeiterklasse abzuwürgen, zu verwirren und abzulenken.

Nur die Sozialistische Gleichheitspartei kämpft für Aktionskomitees zur Eindämmung der Pandemie, die bedingungslose Verteidigung von Immigranten und Asylsuchenden, den Widerstand gegen Militarismus und Krieg sowie für die Verteidigung demokratischer Rechte als integralem Bestandteil des sozialistischen Internationalismus und für den Aufbau des Internationalen Komitees der Vierten Internationale zur Weltpartei der sozialistischen Revolution. Arbeiter und Jugendliche müssen dieser Partei beitreten und sie aufbauen.

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