Nach der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse früh am letzten Mittwochmorgen hat die Übergangsregierung des verarmten Karibikstaats um eine ausländische Militärintervention zum Schutz der wichtigsten Infrastruktur gebeten. Gleichzeitig mehren sich die Beweise, dass die 28 Söldner, die mutmaßlich in Moïses Haus eingedrungen und Dutzende Schüsse auf den Präsidenten und seine Frau abgegeben haben, die Unterstützung mächtiger Teile der herrschenden Elite genossen.
Der Mordanschlag ereignete sich am 7. Juli um 1 Uhr morgens Ortszeit. Daran beteiligt waren 26 Kolumbianer und zwei haitischstämmige Amerikaner. Siebzehn Verdächtige wurden verhaftet, drei getötet, acht sind noch auf der Flucht. Folgende Fakten erhärten den Verdacht, dass der Anschlag aus dem Landesinneren unterstützt wurde: Die bewaffnete Bande konnte sich Zugang zu Moïses Anwesen in Petionville, einem Vorort der Hauptstadt Port-au-Prince, verschaffen. Berichten zufolge besaßen die Täter Pläne von Moïses Haus, zudem wurde während des Anschlags kein Angehöriger von Moïses Personenschutztruppe verwundet.
Der Botschafter Haitis in Washington, Bocchit Edmond, verfasste einen Brief an US-Außenminister Antony Blinken, in dem er um die Anwesenheit amerikanischer Truppen bat: „Wir freuen uns darauf, mit der amerikanischen Botschaft in Port-au-Prince zusammenzuarbeiten, da wir Wahrheit und Gerechtigkeit für die Familie von Präsident Moïse und die Bevölkerung von Haiti wollen.“
Die Vorstellung, dass eine Militärintervention der USA oder sonst einer imperialistischen Macht wie Kanada oder Frankreich die Lage stabilisieren könnte, ist absurd. In Wirklichkeit hat gerade die jahrzehntelange imperialistische Vorherrschaft über Haiti, das ärmste Land der westlichen Hemisphäre, die katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen geschaffen, die die derzeitigen politischen Konflikte hervorbringen.
Nach der letzten Ermordung eines haitianischen Staatsoberhaupts im Jahr 1915 wurde das Land zwei Jahrzehnte lang von den USA besetzt. In der jüngeren Vergangenheit hat der US-Imperialismus mit Unterstützung durch Truppen aus Kanada und der Vereinten Nationen im Jahr 2004 den gewählten Präsidenten Jean Bertrand Aristide durch eine Regimewechseloperation gestürzt, die zynisch als „Befreiung“ dargestellt wurde. Die amerikanischen und kanadischen Truppen arbeiteten mit ultrarechten Kräften zusammen, um eine Regierung einzusetzen, die Washingtons Interessen bereitwilliger entgegenkam. Das Ergebnis war ein Regime, das von privat finanzierten Todesschwadronen unterstützt wurde, die nahezu ungestraft in den verarmten Slums des Landes wüten konnten. Während der Militäroperationen der nächsten 13 Jahre unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen gab es immer wieder Berichte über Menschenrechtsverletzungen gegen die haitianischen Massen. Zudem kam es zu einer verheerenden Cholera-Epidemie, die Zehntausende Todesopfer forderte.
Moïse, ein allgemein verachteter rechter Politiker, war der handverlesene Nachfolger des Präsidenten und ehemaligen Sängers Michel Martelly. Martelly war aufgrund der direkten Einmischung des US-Außenministeriums unter Hillary Clinton in die haitianischen Wahlen 2010 und 2011 eingesetzt worden. Sowohl Martelly als auch sein Nachfolger pflegten enge Beziehungen zu Vertretern der von den USA unterstützten Duvalier-Diktatur, die das verarmte Land bis 1986 drei Jahrzehnte lang mit eiserner Faust regiert hatte. Washington unterstützte Martelly und Moïse, weil sie Diktate des Internationalen Währungsfonds umsetzten und die Interessen der imperialistischen Mächte verteidigten.
Unabhängig davon, wie eine Militärintervention gerechtfertigt würde, wäre ihr Ziel die Verschärfung der ohnehin furchtbaren Ausbeutung der haitianischen Massen durch die lokale herrschende Elite und ihre imperialistischen Hintermänner. Die Washington Post hat bereits mit einer Propagandakampagne für eine neue militärische Besetzung begonnen. Gleich nach Moïses Ermordung forderte sie in einem Leitartikel eine „schnelle und kräftige internationale Intervention“. Weiter schrieb sie, Haiti drohe Anarchie und damit „unmittelbar eine humanitäre Katastrophe für Millionen von Haitianern sowie eine akute Gefahr für die diplomatische und die Sicherheitslage der USA und der großen internationalen Organisationen“.
Die Biden-Regierung hat zwar noch keine unmittelbaren Pläne zur Entsendung von Militär angekündigt, doch eine internationale Intervention unter Führung der USA ist bereits in Planung. Washington hat die Entsendung von Beamten des FBI und des Heimatschutzministeriums nach Port-au-Prince bekanntgegeben, vorgeblich als Unterstützung für die Ermittlungen in die Ermordung des haitianischen Präsidenten.
Das wahre Ziel dieses Einsatzes wird nicht darin bestehen, die wirklichen Verantwortlichen für Moïses Ermordung und ihre mutmaßlichen Hintermänner in den rivalisierenden Teilen der haitianischen herrschenden Elite zu finden, sondern sie zu decken. Teile der herrschenden Elite hatten sich mit Moïse zerstritten, nachdem dieser versucht hatte, als Diktator an der Macht zu bleiben und seine Kontrolle über den Staatsapparat zu benutzen, um sich und seinen Kumpanen einen größeren Anteil an besonders profitablen Teilen der haitianischen Wirtschaft zu sichern. Unter anderem hatte er das historische Monopol der reichsten Familien des Landes über öffentliche Aufträge, die Verteilung von Treibstoff und über Handynetzwerke infrage gestellt, das der Elite perverse Profitmargen und der verarmten Bevölkerung exorbitante Preise beschert hat.
Zweifellos werden Vertreter der USA unter dem Vorwand, „bei der Untersuchung zu helfen“, Erpressung und Bestechung einsetzen, um ein Machtteilungsabkommen mit den verschiedenen gleichermaßen bestechlichen und korrupten Fraktionen der haitianischen herrschenden Elite auszuhandeln. Diese führen einen blutigen Kampf um die politische Macht, den Reichtum und die Privilegien, die damit einhergehen.
Die Außenpolitikstrategen in Washington hoffen darauf, einen politischen Waffenstillstand in Haiti zu schaffen, um Ende des Jahres eine weitere abgekartete Wahl zu veranstalten und den Schein zu wahren, das Land – das aufgrund der hundertjährigen Vorherrschaft und Plünderung durch den US-Imperialismus völlig verarmt ist – sei auf dem Weg zu einer „demokratischen Erneuerung“.
Angesichts dessen, dass die konkurrierenden Teile der herrschenden Elite so zerstritten sind, dass zum ersten Mal seit über einem Jahrhundert ein amtierender Präsident ermordet wurde, ist das eine schwierige Aufgabe. Die Position des Übergangspräsidenten, der für die Neuwahlen verantwortlich wäre, wurde bereits von drei Personen beansprucht: von Moïses scheidendem Premierminister Claude Joseph, Moïses ernanntem, aber noch nicht vereidigtem Premierminister Ariel Henry und vom Vorsitzenden des aufgelösten haitianischen Senats, Joseph Lambert.
Moïse hatte folgendermaßen versucht die Macht an sich zu reißen: Nachdem er keine Parlamentswahl abgehalten hatte, regierte er mehr als ein Jahr lang per Präsidentschaftsdekret. Als im Februar seine fünfjährige Amtszeit endete, weigerte er sich zurückzutreten, wie es die Verfassung vorschreibt. Danach wurden drei Richter des Obersten Gerichtshofs verfassungswidrig „pensioniert“; außerdem plante er ein Referendum zur Abschaffung der Position des Premierministers und zur Stärkung des Präsidenten.
In den Monaten unmittelbar vor seiner Ermordung versuchte Moïse, sich populistisch als Kämpfer gegen Teile der herrschenden Elite zu inszenieren, u.a. wetterte er gegen die „Oligarchen“. Dies war jedoch reiner Betrug. Moïse war selbst verhasst, weil er die Austeritätsdiktate des IWF rücksichtslos durchgesetzt hat. Ein Beispiel war die unvermittelte Erhöhung der Benzinpreise um 50 Prozent im Jahr 2018, was zu Massenprotesten gegen ihn und seine Regierung führte.
Selbst wenn ein politischer Deal zustande kommt und Ende des Jahres Wahlen stattfinden, werden sie ebenso von Betrug, Einschüchterung und Gewalt geprägt sein wie die letzten Wahlen mit einer Beteiligung von kaum 23 Prozent, die Moïse an die Macht brachten. Sie wären nicht einmal ein kleiner Schritt aus dem politischen, gesundheitspolitischen und sozioökonomischen Chaos, das sich durch die katastrophalen Auswirkungen der Corona-Pandemie noch weiter verschärft hat.
Die Überwindung der katastrophalen Bedingungen, unter denen die haitianischen Massen leben, ist nur möglich durch einen unabhängigen politischen Kampf der haitianischen Arbeiterklasse an der Spitze der unterdrückten Massen. Dieser muss in engster Zusammenarbeit mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern in den USA, Kanada und der ganzen Region geführt werden, um die imperialistische Unterdrückung des Landes zu beenden.