Am Freitag wurde der rechtsradikale Schütze Kyle Rittenhouse in allen Anklagepunkten freigesprochen. Rittenhouse stand unter Anklage, weil er bei Protesten gegen Polizeigewalt in Kenosha, Wisconsin, am 25. August 2020 mit einem AR-15-Gewehr zwei Menschen getötet, einen dritten verwundet und einen vierten fast getroffen hat. Doch nach viertägigen Beratungen erklärten die Geschworenen bei dem Prozess in Kenosha den Angeklagten für „nicht schuldig“.
Rittenhouse, zum Tatzeitpunkt 17 Jahre alt, war aus dem US-Bundesstaat Illinois nach Kenosha gereist, um sich einer rechtsextremen „patriotischen“ Bürgerwehr anzuschließen, die sich „Kenosha Guard“ nannte. Sie war mobilisiert worden, um „Eigentum zu verteidigen“ und die Polizei bei der Niederschlagung der Proteste zu unterstützen, die zwei Tage zuvor nach dem Polizeiangriff auf Jacob Blake ausgebrochen waren. Blake wurde vor den Augen seiner Frau und Kinder sieben Mal aus nächster Nähe in den Rücken geschossen und ist seither gelähmt.
Die Schießerei in Kenosha ereignete sich vor dem Hintergrund der größten Demonstrationen in der amerikanischen Geschichte. Nach dem Mord an George Floyd im Mai 2020 gingen schätzungsweise 15 bis 26 Millionen Menschen auf die Straße, um gegen die Welle von Polizeimorden zu protestieren, die von offiziellen Behörden vertuscht wurden.
Die Trump-Regierung ließ die Demonstrationen landesweit mit brutaler Gewalt niederschlagen. Dabei erhielt die Polizei Unterstützung von bewaffneten rechtsextremen Bürgerwehren, die bereits Monate zuvor mobilisiert worden waren, um die Opposition gegen Corona-Maßnahmen zu verstärken. Trump und die Republikaner unterstützten die Schießerei in Kenosha, die am Vorabend des Nationalkongresses der Republikaner stattfand. Wenige Monate später, am 6. Januar, folgte der gewaltsame Putschversuch Trumps, bei dem die Proud Boys und andere paramilitärische Gruppen die Stoßtrupps für den Angriff auf das Kapitol bildeten.
Das Rittenhouse-Urteil wird diese gewalttätigen paramilitärischen Kräfte ermutigen, die im Umfeld Trumps und der republikanischen Partei aufgebaut wurden.
Der Freispruch ist der Schlusspunkt einer juristischen Farce. In dem Prozess vor dem Bezirksgericht Kenosha County hat der rechte Richter Bruce Schroeder die Anklage systematisch unterminiert, indem er alle Beweise ausschloss, die Rittenhouse’ Behauptung, er habe in „Notwehr“ gehandelt, widerlegt hätten.
Richter Schroeder erlaubte es nicht, den Geschworenen darzulegen, dass Rittenhouse, der nach Hinterlegung einer Kaution auf freiem Fuß war, die Morde in einer Kneipe mit führenden Mitgliedern der Proud Boys feierte. Er zeigte „White Power“-Symbole, sang die Hymne der Proud Boys und machte grinsende Selfies mit Proud-Boys-Mitgliedern.
Der Richter ließ auch nicht zu, dass die Geschworenen von einer Aufnahme erfuhren, in der Rittenhouse vor der Schießerei sagte, er wolle Leute erschießen, die er für Ladendiebe hielt. „Bro, ich wünschte, ich hätte mein verdammtes AR [Gewehr]“, sagte er. „Ich würde anfangen, auf sie zu schießen.“
Der Richter ordnete an, dass die Staatsanwälte die von Rittenhouse erschossenen Männer nicht als „Opfer“ oder „mutmaßliche Opfer“ bezeichnen dürfen. Gleichzeitig hatten Rittenhouse’ Verteidiger freie Hand, die Opfer als „Brandstifter“, „Plünderer“ und „Randalierer“ zu bezeichnen.
Dass hier mit zweierlei Maß gemessen wurde, zeigte sich Anfang letzter Woche in den Schlussplädoyers. Während die Staatsanwälte ermahnt wurden, den Fall nicht zu „politisieren“, durfte Rittenhouse’ Anwalt Mark Richards aus voller Kehle eine faschistische Hetzrede halten.
In der Mitte seines Schlussplädoyers verzichtete Anwalt Richards auf das Märchen, Rittenhouse habe aus „Selbstverteidigung“ gehandelt, und behauptete stattdessen, seine Opfer hätten es verdient, weil „sie Randalierer waren“.
Während die Staatsanwälte nicht erwähnen durften, dass Rittenhouse mit den Proud Boys in Verbindung steht, betonte Richards ausdrücklich, dass Gaige Grosskreutz, ein freiwilliger Sanitäter, dem Rittenhouse in den Arm schoss, mit der Gruppe „People’s Revolution“ in Verbindung stand.
Der Anwalt gab sich alle Mühe, Rittenhouses Opfer zu entmenschlichen. „Ich bin froh, dass er ihn erschossen hat“, erklärte Richards und bezeichnete Joseph Rosenbaum, der psychisch krank war, als „einen Verrückten“.
Der Prozess war von Anfang bis Ende ein rechtes Spektakel. Der Richter, der eine Krawatte mit amerikanischer Flagge trug, animierte die Geschworenen sogar zum Applaus für einen von Rittenhouse’ Sachverständigen, weil er ein „Veteran“ sei, der „seinem Land gedient“ habe. Ein anderes Mal klingelte während der Verhandlung das Handy des Richters mit dem Klingelton eines Lieds, das auf Trump-Kundgebungen gespielt wird. Am Ende der Verhandlung ließ er Rittenhouse die Namen der Geschworenen aus einem Becher ziehen, als wäre es eine Zirkustombola.
Das Argument, Rittenhouse habe in „Notwehr“ gehandelt, stellt die Realität auf den Kopf. Wenn irgendjemand ein Recht auf Selbstverteidigung hatte, dann waren es die Demonstranten selbst. Sie stellten sich kollektiv einer rechten Bürgerwehr entgegen, die auf ihrem Protest erschien und ein geladenes Militärgewehr auf sie richtete.
Als Rittenhouse das Feuer eröffnete, glaubten Gaige Grosskreutz und andere Demonstranten, dass er ein Attentäter sei. Wie ein Soldat, der auf eine Granate springt, um seine Kameraden zu retten, stieß Anthony Huber seine Freundin aus dem Weg und griff Rittenhouse an, nur mit einem Skateboard bewaffnet, um die anderen Demonstranten zu schützen. Rittenhouse erschoss ihn.
„Wir sind untröstlich und wütend“, schrieben Hubers Eltern in einer Erklärung nach dem Urteilsspruch. „Das heutige Urteil bedeutet, dass die Person, die unseren Sohn ermordet hat, nicht zur Rechenschaft gezogen wird. Es sendet die inakzeptable Botschaft, dass bewaffnete Zivilisten in jeder Stadt auftauchen, zu Gewalt anstiften und dann die von ihnen geschaffene Gefahr nutzen können, um das Erschießen von Menschen auf der Straße zu rechtfertigen.“
Rittenhouses Tat wird als „Selbstverteidigung“ dargestellt, um alle politischen Inhalte und Zusammenhänge auszuklammern. Auf diese Weise wurden alle größeren politischen und historischen Fragen in der einzigen Frage aufgelöst, ob das Verhalten von Rittenhouse als Einzelperson in dem Sekundenbruchteil angemessen war, in dem er sich angeblich entschloss, den Abzug zu betätigen.
Selbst für sich genommen war das Argument der „Notwehr“ unzulässig, da Rittenhouse die Konfrontation rücksichtslos provoziert hatte, indem er als Mitglied einer rechtsextremen Bürgerwehr mit seinem Gewehr auf eine ihm feindliche Demonstration ging.
An den Stellen, wo die Gesetzeslage eindeutig gegen Rittenhouse sprach, verschob der Richter einfach seine Argumentationslinie. Während zahllose linke Demonstranten gewalttätigen Angriffen und der Gefahr von Verhaftungen durch die Polizei ausgesetzt waren, weil sie gegen die Ausgangssperre in Kenosha verstoßen hatten, verwarf der Richter die Anklage gegen Rittenhouse wegen des Verstoßes gegen die Ausgangssperre durch einen formalen Trick. Obwohl das Gesetz in Wisconsin Minderjährigen das Tragen von Schusswaffen verbietet, wies der Richter die Anklage in diesem Punkt ab, mit der Begründung, dass es Jugendlichen erlaubt ist, jagen zu gehen.
Nach der Urteilsverkündung gab Trump sofort eine Erklärung ab, in der er Rittenhouse gratulierte. Seine gewalttätigen und faschistischen Anhänger stimmten in den Chor ein. „Heute ist ein großer Tag für den zweiten Verfassungszusatz und das Recht auf Selbstverteidigung“, twitterte die republikanische Abgeordnete Lauren Boebert, die an der Verschwörung des 6. Januar beteiligt war. „Glory to God!“
Biden gab den Ton für die Demokraten vor, indem er feierlich erklärte, dass „das Geschworenensystem funktioniert“ – eine bemerkenswerte Aussage angesichts der juristischen Farce, die sich gerade am helllichten Tag und live im Fernsehen abgespielt hatte.
Neben den offenen Faschisten feiern auch eine Reihe Pseudolinker und Libertärer wie Glenn Greenwald und Jimmy Dore das Urteil. Während des gesamten Verfahrens hatten sie daran gearbeitet, Rittenhouse als sympathische Figur darzustellen.
Sie versuchen, die politischen Fragen vor den Augen der Bevölkerung zu verdunkeln. Dagegen warnte die World Socialist Web Site, dass die Kampagne für Rittenhouse dazu dient, rechtsextreme Selbstjustiz und Terror zu normalisieren und zu legitimieren.
Das Ziel der Kampagne ist es, Bedingungen zu schaffen, damit die „Proud Boys“ und andere rechtsextreme Bürgerwehren künftig bei linken Demonstrationen aufmarschieren und ihre geladenen Waffen schwingen können. Sie werden dann zu Streiks, Universitätsvorlesungen oder sozialistischen Versammlungen kommen, ohne dass jemand sie daran hindert oder abschreckt. Sie werden Journalisten oder Mitarbeiter an Schulen mit ihren Waffen bedrohen. Und wenn jemand versucht, sie zu entwaffnen oder zu vertreiben, werden sie das Feuer eröffnen und „Notwehr“ schreien, weil sie wissen, dass es Polizisten und Richter gibt, die das Gesetz beugen und verdrehen, um sie zu schützen.
Die Proud Boys und andere gewalttätige rechtsextreme Milizen werden nicht aufgebaut, weil der amerikanische Kapitalismus in einer Position der Stärke ist, sondern weil er sich in einer Position der Schwäche befindet.
Diese Kräfte erhalten unter bestimmten Bedingungen Auftrieb – in einer Pandemie, bei der Millionen Menschen aufgrund der Durchseuchungspolitik gestorben sind, die Profite über Leben stellt, und inmitten einer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krise, für die der Kapitalismus keine andere Lösung als Krieg und Unterdrückung kennt.
Während das politische Establishment der USA immer weiter nach rechts rückt, das Massensterben in der Pandemie in Kauf nimmt und faschistische Gewalt legitimiert, bewegt sich die große Masse der Bevölkerung nach links, was sich im Aufschwung des Klassenkampfs zeigt.
Vor diesem Hintergrund wird der Freispruch von Rittenhouse dazu beitragen, das gesamte politische System Amerikas in den Augen von Millionen Menschen weiter zu diskreditieren.