Die russische Invasion der Ukraine lässt viele Künstler und Intellektuelle, die dem deutschen Militarismus bisher kritisch gegenüberstanden, wie Dominosteine umkippen. Sie reagieren auf die brutale Militäroffensive Russlands, indem sie sich hinter die Nato stellen und sich reumütig von ihrer früheren Kritik an der Allianz distanzieren.
Das größte Militärbündnis der Welt, das seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion permanent Kriege geführt, ganze Länder zerstört, Millionen umgebracht und Unzählige in die Flucht getrieben hat, gilt ihnen plötzlich als „Verteidigungsbündnis“, das „Freiheit“ und „Demokratie“ schützt.
Unter dem Eindruck von Kriegsbildern und antirussischer Propaganda vergessen sie alles, was sie früher gesagt und geschrieben haben. Sie schließen die Augen davor, dass die Nato den Krieg gezielt eskaliert und – ebenso wie Russland – die Gefahr eines dritten Weltkriegs heraufbeschwört. Was die Grünen längt vollzogen haben, die Wandlung vom Pazifismus zum Militarismus, findet nun auch ihre Unterstützung.
Der Satiriker Jan Böhmermann (ZDF Magazin Royale), der Künstlerzusammenschluss Zentrum für Politische Schönheit und andere gehen diesen Weg. Besonders demonstrativ beschreiten ihn die Kabarettisten Max Uthoff und Claus von Wagner, die seit acht Jahren gemeinsam die ZDF-Politsatire „Die Anstalt“ moderieren.
Als im Februar 2014 die erste Sendung der „Anstalt“ ausgestrahlt wurde, eskalierten die Bemühungen zur Wiederbelebung des deutschen Militarismus. Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen verkündeten auf der Münchener Sicherheitskonferenz das „Ende der militärischen Zurückhaltung“. Wenig später setzte die Bundesregierung die neue Großmachtpolitik in der Ukraine in die Praxis um. In enger Zusammenarbeit mit den USA und rechten Milizen organisierte sie einen Umsturz, der ein pro-westliches Regime an die Macht brachte und den Keim für den heutigen Krieg legte.
„Die Anstalt“ griff dies damals scharf an, was ihr den verdienten Zorn des politischen Establishments und die Begeisterung vor allem jüngerer Zuschauer einbrachte. Die erste Sendung geißelte den deutschen Militarismus. Die zweite stellte die „Revolution“ auf dem Kiewer Maidan als das dar, was sie wirklich war: kein „Freiheitskampf“, sondern ein Aufstand rechter und gekaufter Elemente.
Die dritte Sendung entlarvte die Propaganda der deutschen Medien. Auf einer großen Schautafel dokumentierte sie die zahlreichen Verbindungen führender Journalisten zu transatlantischen Think Tanks, in denen „Militärs, Wirtschaftsbosse und Politiker in diskreter Atmosphäre“ außenpolitische Strategien diskutieren. Josef Joffe und Jochen Bittner von der Zeit strengten deshalb einen Prozess gegen „Die Anstalt“ an, den sie schließlich in dritter Instanz verloren.
Umso beschämender ist die jüngste Sendung der „Anstalt“, die das ZDF am 8. März ausstrahlte. Darin distanzieren sich Uthoff und von Wagner von allem, was sie früher vertreten hatten.
Sie beginnen mit der Aufforderung, das kritische Denken auszuschalten und jede Auseinandersetzung mit den Ursachen und Hintergründen des Kriegs zu unterlassen. „Wir wollten differenzieren,“ erklären sie. „Aber dann hast du (Putin) dich entschlossen, der europäischen Nachkriegsordnung eine Vakuumbombe in den Hintern zu jagen und einen Angriffskrieg gestartet.“ Deshalb hätten sie zwei Drehbücher geschreddert und „gedacht, dies ist nicht die Zeit zu differenzieren, sondern um sich zu wehren, und zwar gegen dich“.
Der Rest der Sendung besteht aus Putin-Witzen, deren Niveau sich oft unter der Gürtellinie bewegt, vorgetragen von verschiedenen Kabarettisten. Dazwischen rechnen von Wagner und Uthoff zerknirscht mit ihrer früheren Haltung ab.
Von Wagner: „Als Satiriker, da war für mich die Nato immer sowas von… Und jetzt glaub ich einfach, wenn die Ukraine in der Nato gewesen wäre, dann hätte sich Putin nie getraut, die Ukraine anzugreifen.“
Uthoff: „Was ist denn jetzt mit der Idee der Neutralität der Ukraine?“
Von Wagner: „Als die Ukraine 2014 neutral war, da hat sich Putin die Krim geschnappt. Länder wie die Ukraine haben einen guten Grund, in die Nato zu wollen.“
Auf den Einwand, für Putin wäre eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine eine Bedrohung gewesen, erwidert von Wagner: „Hat sich die Nato ausgedehnt, oder sind ihr nicht viele Staaten freiwillig beigetreten?“ Die Nato sei 1991 deshalb nicht aufgelöst worden, „weil sie als Verteidigungsbündnis erfolgreich war“. Der Warschauer Pakt sei dagegen „nur so eine Art Zwangsvereinigung zur Sicherung der sowjetischen Vorherrschaft“ gewesen und habe als einziges Militärbündnis in seiner Geschichte ausschließlich die eigenen Mitglieder angegriffen.
Uthoff: „Vielleicht haben wir als notorische Nestbeschmutzer schlichtweg unterschätzt, wie attraktiv die Nato für Außenstehende gewesen ist.“
Das Ausmaß der Leugnung und Verdrängung ist schockierend. Würden Uthoff und von Wagner den Warschauer Pakt positiver bewerten, wenn er – wie das „Verteidigungsbündnis“ Nato und seine Vormacht USA – brutale Kolonialkriege in Korea und Vietnam geführt und Militärdiktaturen von Griechenland bis Chile unterstützt hätte?
Haben sie sich jemals überlegt, weshalb die Nato den Ukrainekonflikt gezielt anheizt, jeden Ansatz zur Deeskalation blockiert, das Land bis an die Zähne bewaffnet und sich immer direkter in den Stellvertreterkrieg gegen Russland einmischt? Glauben sie wirklich, ein militärischer Sieg über Russland und ein Regimewechsel in Moskau, wie ihn die Nato anstrebt, würden zu Freiheit und Demokratie führen?
Dasselbe hatte die bürgerliche Propaganda schon vor drei Jahrzehnten behauptet, als der Kalte Krieg zu Ende ging und sich der Warschauer Pakt und die Sowjetunion auflösten. Vom endgültigen Triumph der liberalen Demokratie und vom „Ende der Geschichte“ war damals die Rede. Doch das Gegenteil fand statt. Der imperialistische Appetit der Nato-Mächte, dem die bloße Existenz der Sowjetunion gewisse Schranken gesetzt hatte, kannte keine Grenzen mehr.
Bereits im Winter 1990/91 griffen die USA den Irak an. Dann unterstützten sie gemeinsam mit Deutschland die Aufsplitterung Jugoslawiens und bombardierten 1999 Serbien. Nach 2001 überfielen die USA und ihre Nato-Verbündeten unter dem Vorwand des „Kriegs gegen den Terror“ Afghanistan, Irak und Libyen und schürten den Regimewechselkrieg in Syrien.
Inzwischen ist in der offiziellen Nationalen Verteidigungsstrategie der USA die „Konkurrenz zwischen den Großmächten“ an die Stelle des „Kriegs gegen den Terror“ getreten. Ziele der gewaltigen Aufrüstung sind in erster Linie China, dessen Aufstieg zur weltgrößten Wirtschaftsmacht die USA um jeden Preis verhindern wollen, und Russland, das einen großen Teil der eurasischen Landmasse beherrscht und über das zweitgrößte Atomwaffenarsenal der Welt verfügt.
Der Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine zielt auf die gewaltigen Rohstoffe des Landes und seine strategische Bedeutung. Gelingt es den USA und ihren europäischen Verbündeten, Russland als geopolitischen Akteur auszuschalten, ist es für sie leichter, China in Vorbereitung eines Kriegs zu isolieren. Die Gefahr, dass die Konfrontation eskaliert und der Einsatz von Atomwaffen die Existenzgrundlage der Menschheit vernichtet, wird dabei immer größer.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die ukrainische Bevölkerung spielt in dieser Auseinandersetzung nur die Rolle eines Bauern auf dem „Großen Schachbrett“, auf dem die USA ihre strategische Vorherrschaft als „einzige Weltmacht“ verteidigen, wie es der US-Geostratege Zbigniew Brzeziński 1997 in seinem gleichnamigen Besteller formuliert hatte.
Auch die EU ist bestenfalls bereit, der Ukraine die Rolle eines Lieferanten von Rohstoffen und billigen Arbeitskräften einzuräumen. Ihr droht dasselbe Schicksal wie den osteuropäischen EU-Mitgliedern, in denen Hungerlöhne und soziales Elend von Regierungen verwaltet werden, die derart autoritär und korrupt sind, dass selbst die Brüsseler EU-Bürokratie von Zeit zu Zeit warnend den Zeigefinger hebt.
Was Putin betrifft, so wurde er im Westen gefeiert, solange er Russland für die Plünderung durch das internationale Finanzkapital und die russischen Oligarchen offenhielt. Erst als er sich aus nationalistischen Gründen der Einkreisung durch die Nato widersetzte, wandelte er sich zum Bösewicht. Als großrussischer Chauvinist und Interessenvertreter der Oligarchen ist Putin völlig unfähig, sich an die russische und internationale Arbeiterklasse zu wenden, die als einzige gesellschaftliche Kraft die Kriegsspirale stoppen kann. Stattdessen schwankt er zwischen Versuchen, der Nato einen Deal abzuringen, und brutalen Kriegsdrohungen und Militärschlägen.
Für die Nato war es deshalb ein Leichtes, Putin in eine Falle zu locken, die sie nun für ihre eigenen Ziele ausschlachtet. In Deutschland hat die Ampel-Koalition den Militärhaushalt auf einen Schlag verdreifacht – ein Schritt, der unter allen anderen Umständen auf heftigen Protest gestoßen wäre.
Der Aufbau einer internationalen Antikriegsbewegung der Arbeiterklasse, die die gefährliche Spirale zum dritten Weltkrieg stoppt, erfordert nicht nur die Ablehnung der russischen Invasion, sondern auch unversöhnliche Feindschaft gegen den Militarismus der Nato.
Die Anpassung an die Nato von Künstlern wie Uthoff und von Wagner hat sowohl materielle wie politisch-ideologische Ursachen.
Sie stehen unter dem Druck wohlhabender Mittelschichten, die von der gewaltigen Umverteilung der Einkommen und Vermögen während der letzten drei Jahrzehnte profitiert und ihren Frieden mit dem Imperialismus geschlossen haben. Die Kriegshysterie dieser Schichten kommt auch in den antirussischen Boykottkampagnen im Musikleben und der Wissenschaft zum Ausdruck. Beeinflusst von den subjektivistischen Theorien der Postmoderne und der Identitätspolitik haben sie eine heftige Abneigung gegen die Arbeiterklasse und den Sozialismus entwickelt. Am deutlichsten verkörpern dies die Grünen.
Hinzu kommt, dass die Lehren aus dem zwanzigsten Jahrhundert weitgehend unverstanden sind. Die Jahrhundertlüge, dass die stalinistische Diktatur die legitime Erbin der russischen Oktoberrevolution und die einzig mögliche Form des „real existierenden Sozialismus“ gewesen sei, hat viele vom Marxismus abgeschnitten. Der Rechtsruck der Sozialdemokratie, der Gewerkschaften und ihrer pseudolinken Anhängsel hat außerdem dazu geführt, dass die Arbeiterklasse über geraume Zeit kaum offen als eigenständige gesellschaftliche und politische Kraft in Erscheinung trat.
Doch dieselben objektiven Faktoren, die die Nato und Russland in den Krieg treiben, schaffen auch die Grundlage für die Rückkehr des internationalen Klassenkampfs, die längst begonnen hat. Jahrzehntelanger Sozialabbau bei gleichzeitiger Anhäufung von Milliardenvermögen, die verheerende Pandemiepolitik, die Millionen Leben dem Profit geopfert hat, und die Kosten der Sanktionspolitik und des Militarismus, die auf die arbeitende Bevölkerung abgewälzt werden, treiben die Arbeiterklasse in den Kampf.
Die internationale sozialistische Perspektive, die das Internationale Komitee der Vierten Internationale gegen Sozialdemokratie, Stalinismus und pseudolinke Gruppen verteidigt hat, gewinnt unter diesen Umständen entscheidende Bedeutung. Sie wird auch die besten Elemente aus der Mittelklasse anziehen. Es ist zu hoffen, dass auch kritische Künstler, die ihren Kopf verloren haben, ihn bald wieder finden werden.