Die Unterstützung Washingtons und der europäischen Mächte für Israels völkermörderischen Krieg gegen die Palästinenser im Gazastreifen und die drohende Aussicht auf einen Krieg zwischen den USA und dem Iran haben die Regierung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in eine verzweifelte Krise gestürzt.
Nach Ausbruch des Kriegs zwischen Israel und Gaza am 7. Oktober versuchte Erdoğan anfangs, eine Massenbewegung gegen die israelische Bombardierung des Gazastreifens zu unterbinden. Die türkische Bereitschaftspolizei ging gegen Solidaritätsproteste für Gaza vor, während Erdoğan eine „Deeskalation“ und „Waffenruhe“ forderte und die Gewalt der Palästinenser mit der des israelischen Staats gleichsetzte, der von den imperialistischen Mächten unterstützt wird. Doch nachdem das israelische Regime Erdoğans Forderungen nach „Zurückhaltung“ ignorierte und in der überwältigenden Mehrheit der türkischen Bevölkerung die Empörung wuchs, sah er sich am Mittwoch gezwungen, seinen Kurs plötzlich zu ändern.
Erdoğan erklärte in einer Rede auf einer Veranstaltung seiner Partei: „Wir haben alles versucht, damit diese Krise nicht weiter eskaliert, und werden es auch weiterhin tun... Wir haben eindeutig erklärt, dass wir niemals Taten gegen Zivilisten gutheißen, auch nicht gegen israelische Zivilisten, egal von wem sie ausgehen.“ Er fügte hinzu: „Wir haben kein Problem mit dem Staat Israel, aber wir haben nie und werden nie die israelische Unterdrückung und ihr Vorgehen gutheißen, das eher an eine Organisation als an einen Staat erinnert.“
Nachdem er erklärte, er habe kein Problem mit dem zionistischen Regime, dessen Existenz auf der Enteignung und jetzt der ethnischen Säuberung von Palästinensern basiert, fuhr Erdoğan fort: „Israel führt seit dem 7. Oktober einen der blutigsten, abscheulichsten und gewalttätigsten Angriffe gegen die unschuldige Bevölkerung in Gaza in der Geschichte durch... Die Tatsache allein macht deutlich, dass es ihnen dabei nicht darum geht, sich selbst zu schützen. Sie zeigt vielmehr eine Brutalität, die auf ein bewusst begangenes Verbrechen gegen die Menschlichkeit gerichtet ist.“
Erdoğan hatte erst vor kurzem wieder diplomatische Beziehungen zur israelischen Regierung aufgenommen, um die Energievorkommen im östlichen Mittelmeer gemeinsam zu nutzen und die Palästinenser davon auszuschließen. Jetzt warf er der israelischen Regierung jedoch vor, sie hätte seine guten Absichten missbraucht, und sagte einen bereits geplanten Besuch ab. Er kündigte zudem an, seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) werde am 28. Oktober in Istanbul erstmals eine Massenkundgebung gegen den Krieg im Gazastreifen organisieren.
In seiner Rede wies Erdoğan eine der wichtigsten Rechtfertigungen der imperialistischen Mächte für das israelische Massaker im Gazastreifen zurück: „Dieses Israel tötet Kinder; wir haben gesehen, in welchem Zustand diese Kinder waren, und wir werden nie zulassen, dass sie in Stücke gerissen werden, weil wir Teil der Menschlichkeit sind... Die Hamas ist keine Terrororganisation, sondern eine Gruppe für die Befreiung und bestehend aus Mudschaheddin, die ihr Land und ihre Bürger verteidigen.“
Der Sprecher des israelischen Außenministeriums, Lior Haiat, verurteilte Erdoğans Äußerungen auf seinem X-/Twitter-Account: „Der Versuch des türkischen Präsidenten, die Terrororganisation [Hamas] zu verteidigen, und seine provokative Wortwahl ändern nichts an der Brutalität und der absoluten Wahrheit, die die ganze Welt gesehen hat: Die Hamas ist gleichbedeutend mit dem IS“.
Im israelischen Staatsapparat und in herrschenden Kreisen der imperialistischen Länder wird deutlich wahrgenommen, dass Erdoğans Rede deren Politik in der Region bedroht. Tatsächlich griff Erdoğan, nachdem er bereits die Entsendung von US-Flugzeugträgern in der Region kritisiert hatte, Washington mit den Worten an: „Alle Akteure sollten verantwortungsvoll handeln, um die Ausbreitung von Krieg zu verhindern. Mächte von außerhalb der Region sollten aufhören, im Namen der Solidarität mit Israel Öl ins Feuer zu gießen.“
Angesichts der unmittelbaren Gefahr, die imperialistischen Mächte könnten den ganzen Nahen Osten in einen Krieg stürzen, ist die türkische Regierung entsetzt. Während Erdoğans Rede reiste der türkische Außenminister Hakan Fidan nach Doha (Katar), wo er erklärte: „Unsere Region befindet sich an einem entscheidenden Wendepunkt. Die derzeitige Lage wird entweder zu einem größeren Krieg oder zu größerem Frieden führen. Alle, mit denen ich spreche, teilen diese Einschätzung, auch wenn sie es nicht öffentlich sagen.“
Die Unterstützung der imperialistischen Nato-Mächte für den Völkermord im Gazastreifen und ihre Drohung mit einem Angriff auf den Iran stellen die türkische Bourgeoisie vor ein unlösbares Dilemma. Einerseits unterhält sie engste Beziehungen zum Imperialismus und setzt seit Jahrzehnten ihre außenpolitischen Interessen über die Nato durch. Andererseits ist es der türkischen Regierung nahezu unmöglich, gemeinsam mit den anderen Nato-Mächten einen Völkermord im Gazastreifen und einen Krieg zwischen den USA und dem Iran zu unterstützen.
Erstens muss eine solche absolut kriminelle Politik auf die Ablehnung der überwältigenden Mehrheit der türkischen Bevölkerung, vor allem der Arbeiterklasse, treffen. Zudem würde sie die grundlegenden Interessen der türkischen herrschenden Klasse gefährden.
In der Türkei, die eine lange Landgrenze zum Iran hat, befinden sich der Nato-Luftwaffenstützpunkt Incirlik und der Radarstützpunkt Kürecik. Diese Stützpunkte könnten im Falle eines Kriegs zwischen den USA und dem Iran leicht zum Ziel iranischer Angriffe werden.
Die türkische Bourgeoisie befürchtet, dass ein Sieg Washingtons und Tel Avivs im Nahen Osten, die beide die kurdisch-nationalistischen Milizen an den Grenzen der Türkei im Irak und in Syrien unterstützen, zur Gründung eines kurdischen Staates führen könnte. Die türkische Bourgeoisie war in der Geschichte jedoch seit jeher bereit, die weitreichendsten Maßnahmen zu ergreifen, um die Entstehung eines kurdischen Staats zu verhindern und die Unterdrückung der Kurden in der Türkei aufrechtzuerhalten.
Führende Vertreter der türkischen Regierung diskutieren deshalb über eine Militärintervention gegen Israel und andere Nato-Verbündete in der Region.
In seiner Rede warnte Erdoğan, eine türkische Militärintervention sei eine Möglichkeit: „Wir als Land und Nation werden weiterhin die Wahrheit hinausrufen und alle politischen, diplomatischen und notfalls militärischen Mittel dazu einsetzen.“
Am Sonntag forderte Devlet Bahçeli, Parteichef der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die de facto der Koalitionspartner von Erdoğans AKP ist, eine Militärintervention in Gaza: „Wenn es nicht innerhalb von 24 Stunden einen Waffenstillstand gibt, wenn die Angriffe nicht aufhören, wenn weiterhin Bomben auf die Unterdrückten abgeworfen werden, muss die Türkei schnell einschreiten und tun, was aufgrund ihrer historischen, humanitären und religiösen Verantwortung notwendig ist. Die Aufgabe, den Gazastreifen zu schützen, ist das Vermächtnis unserer Vorfahren.“
Erdoğan verband seine Kritik an der Unterstützung der Imperialisten für israelische Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza mit geplanten Angriffen auf kurdische Milizen in Syrien und dem Irak, die er als Terroristen verurteilt.
Er erklärte: „Unsere Operationen machen wir deutlich: ,Wir könnten eines nachts plötzlich kommen.‘ Damit vereiteln wir die Vorhaben terroristischer Organisationen und zerschmettern ihre führenden Köpfe. … Auch wenn sie sich nicht daran halten, was Staatsführung und Völkerrecht verlangen, werden wir nicht aufgeben, zu tun, was unsere Würde von uns verlangt. Wir werden weiterhin den Terrorkorridor zerstören, der an unseren Grenzen geschaffen wird, und uns gegen die schmutzigen Kampagnen gegen unser Land und unseren Glauben wehren.“
Dass die imperialistischen Mächte dem israelischen Regime grünes Licht für seinen Völkermord im Gazastreifen geben, zerstört die Institutionen, mit denen der Imperialismus die Region seit Jahrzehnten dominiert hat. Aufmerksamere imperialistische Kommentatoren warnen vor einem möglichen Zusammenbruch der Nato.
Der ehemalige Colonel der US Army, Douglas MacGregor, erklärte zu Erdoğans Rede: „Er warnt die Israelis und er warnt uns, dass wir mit dem Feuer spielen und einen uneingeschränkten Krieg bekommen werden. Das ist die Botschaft. Ich hoffe, wir verstehen sie. Indem wir einen Flugzeugträger ... ins östliche Mittelmeer und einen weiteren entweder in den Persischen Golf oder das Rote Meer verlegen, versuchen wir, Leute wie Präsident Erdoğan und die Mullahs in der iranischen Regierung zu provozieren.“
MacGregor fügte hinzu, die Eskalation des Kriegs berge auch ernste Gefahren für Israel: „Sie schafft die Grundlagen für einen größeren regionalen Krieg, um den es jetzt geht. Und wir neigen immer dazu, zu vergessen, dass die Türken die größte Armee der Nato und eine sehr große Luftwaffe haben. Sie haben nicht so viele Raketen und Flugkörper in ihrem Arsenal wie der Iran. Aber wenn man den Iran und die Türkei zusammenbringt und sie eine Koalition bilden, welche die Araber auf der Halbinsel einschließt ... dann sind, wissen Sie, wirklich die Grundlagen für etwas geschaffen, das meiner Meinung nach mit der Zerstörung des israelischen Staates enden könnte.“
Die Menschheit steht vor einem Zusammenbruch des von den imperialistischen Mächten dominierten, kapitalistischen Nationalstaatensystems im Nahen Osten. Weder Erdoğan noch irgendeine andere kapitalistische Regierung hat irgendeine Perspektive zur friedlichen Vereinigung der vielen Völker der Region – Araber, Juden, Türken, Kurden und Iraner – anzubieten. Diese Aufgabe fällt der Arbeiterklasse zu, die in einer internationalen Bewegung gegen Imperialismus, Krieg und Kapitalismus mobilisiert werden und für den Aufbau der Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens kämpfen muss.