Interview mit Giacomo Abbruzzese über seinen Antikriegsfilm Disco Boy

„Der Blick des Fremden sieht Dinge, die wir nicht mehr sehen oder vielleicht nie gesehen haben.“

Disco Boy, der erste Spielfilm des italienischen Autors und Regisseurs Giacomo Abbruzzese (geb. 1983), wurde bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin 2023 uraufgeführt. Bei dieser Veranstaltung wurde der Film mit einem Silbernen Bären für den herausragenden künstlerischen Beitrag in der Kategorie Kamera (Hélène Louvart) ausgezeichnet und erhielt Nominierungen bei den César Awards, der International Cinephile Society und dem Lumières Award, wo er den Preis für die beste Musik gewann. Die WSWS veröffentlichte letztes Jahr eine ausführliche Kritik. Der Film kam diesen Monat in mehreren Städten in den USA und in Kanada in die Kinos.

Der Film erzählt die Geschichte zweier junger Männer: Alex/Aleksei (Franz Rogowski), ein Weißrusse, der sich der französischen Fremdenlegion anschließt, in der Hoffnung, irgendwann die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten, und Jomo (Morr Ndiaye), der als Mitglied der MEND (Movement for the Emancipation of the Niger Delta) gegen die großen Ölfirmen in Nigeria kämpft. Die riesigen Firmen, die mit der durch und durch korrupten nigerianischen Regierung im Bunde stehen, verwüsten die Region und beuten ihre Bewohner brutal aus.

Franz Rogowski in "Disco Bay"

Wie die WSWS erklärt: „Nach der Geiselnahme von Führungskräften eines Ölkonzerns sind die Schicksale von Aleksei und Jomo miteinander verwoben. Während eines Einsatzes der französischen Fremdenlegion werden die beiden gegeneinander ausgespielt.“ Es kommt zu tragischen und aufschlussreichen Ereignissen.

Wir beschrieben das Werk als einen „bemerkenswerten Antikriegsfilm“. Er stellt, so die WSWS, „einen Appell zur internationalen Einigung und gegen den Nationalismus [dar]. Krieg dient nur dazu, die Interessen der superreichen Minderheit in Konzernen und Finanzmärkten, in diesem Film die der internationalen Ölindustrie, zu fördern.“

Disco Boy widersetzt sich auch der Banalität der Hollywood-Erzählungen und -Darstellungen und gibt dem Kino die Menschlichkeit und den Reichtum zurück, die in die Kunst gehören und die das Publikum verdient.

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Die WSWS interviewte Abbruzzese kürzlich während seiner Nordamerika-Tournee.

Marc Wells: Was hat Sie dazu inspiriert, diesen Film zu machen?

Giacomo Abbruzzese: Es war das Bedürfnis, einen untypischen Kriegsfilm zu drehen. Selbst in den Kriegsfilmen, die ich liebe, gibt es den „Anderen“ nicht, weder den Feind noch das Opfer. Man nimmt ihn vielleicht einen Moment lang wahr, aber man hat nie dieses „Anderssein“. Normalerweise hat man nur eine Perspektive.

Wir haben uns an diese eine Sichtweise gewöhnt, die uns das Gefühl gibt, auf der richtigen Seite des Konflikts zu stehen. Aber das ist auch der Grund, warum Konflikte nie enden, denn es ist unabdingbar, die Welt auch von der anderen Seite zu betrachten, mit Augen, die andere Werte und eine andere Geschichte vertreten. Man schließt Frieden mit den Feinden, nicht mit seinen Freunden. Das war meine Grundauffassung.

Es gab auch einen praktischen Grund: Eines Abends war ich in einem Club, dem Divinae Follie in Bisceglie [in der italienischen Region Apulien], und ich traf einen Tänzer, der Soldat gewesen war. Diese doppelte Berufung und Definition waren für mich sehr interessant, vor allem, wie eine Person so unterschiedliche und scheinbar weit voneinander entfernte Komponenten verkörpern kann. Gleichzeitig gab es einige interessante Gemeinsamkeiten: Der Körper des Tänzers und der Körper des Soldaten haben beide einen Sinn für Disziplin, sogar für Choreographie, ein seltsames Bedürfnis, am Ende des Tages erschöpft zu sein. Auf dieser Grundlage habe ich mir die Figur des Alex ausgedacht, ebenso wie die des Jomo.

Giacomo Abbruzzese [Photo]

MW: Warum haben Sie so unterschiedliche Welten gewählt? Ein Migrant aus Weißrussland und ein Kämpfer aus dem Nigerdelta?

GA: Dieser Film hat eine lange Vorgeschichte. Vor zehn Jahren war ich in Kiew zu einer Vorführung meines Kurzfilms Fireworks, einem Film über internationale Öko-Terroristen, die am 31. Dezember mitten im Silvesterfeuerwerk das stark umweltverschmutzende Stahlwerk ILVA in Tarent in die Luft sprengen.

Eine Gruppe von Dissidenten aus Weißrussland lud mich ein, den Film auf einem Untergrundfestival in Minsk zu zeigen. Ich nahm an, und es wurde eine unglaubliche Erfahrung. Ich lernte dort viele interessante Menschen kennen und erfuhr, dass viele von ihnen zur französischen Fremdenlegion gingen, um EU-Papiere zu erhalten, und nie wieder zurückkamen. Mir fiel auf, dass dies keine typischen „Soldaten“ waren, sondern Menschen wie ich, die Bücher lesen und Filme sehen. Aber ihr weißrussischer Pass schränkte ihre Ambitionen ein.

Es gab auch ein Abenteuerelement, das es in Osteuropa immer noch gibt, und das in Westeuropa heutzutage kaum mehr vorhanden ist. Vor etwa zwölf Jahren begann ich also mit der Entwicklung von Alex, der weißrussischen Figur. Dann begann ich, mich über die Bewegung für die Emanzipation des Nigerdeltas [MEND] zu informieren. Ich fühlte mich zu ihr hingezogen, weil es sich um eine ökologische Vorhut aus dem Nigerdelta in Afrika handelt, einem der am stärksten verschmutzten Gebiete der Erde.

Ich war auch von ihrem Selbstbewusstsein in Aussehen und Kommunikation angezogen. Sie haben einen fast schon performativen Charakter in ihrem Handeln. Das war also das ursprüngliche Dreieck, aus dem Disco Boy entstanden ist.

MW: Der Film beschäftigt sich mit dem Thema der Migration: von Weißrussland nach Frankreich auf der Suche nach einem besseren Leben. Welche Rolle hat das Thema Einwanderung bei der Entwicklung Ihres Drehbuchs gespielt?

GA: Ich habe mich schon immer für den „Fremden“ interessiert, und zwar in seiner umfassendsten und abstraktesten Dimension: Der Blick des Fremden sieht Dinge, die wir nicht mehr sehen oder vielleicht nie gesehen haben. Ich mag den Fremden als eine Möglichkeit, mehr und besser zu sehen, vor allem, wenn man ihm zuhört. Natürlich ist das auch ein hochpolitisches und zentrales Thema, wie der Klimawandel: Wie werden diese Themen angegangen?

Was mich schon immer fasziniert hat, ist die Frage nach der Universalität im Kampf um menschliche Bedingungen (conditio humana). Was ich nie ertragen konnte, war die Tendenz, Leben und Tod zu relativieren und auf die Menschen zu beschränken, die uns kulturell, geografisch oder national am nächsten stehen. Als ob andere Leben weniger wert wären. Hautfarbe, Religion, geopolitische Bequemlichkeit, Sensibilität für eine bestimmte Art von Leiden oder bestimmte Tode anstelle anderer: Tode aus Bequemlichkeit, während die „anderen“ höchstens bloße Zahlenwerte sind.

In meinem Kurzfilm Feuerwerk habe ich dieses Thema in Form einer internationalen revolutionären Brigade, wenn Sie so wollen, nach dem Vorbild der Spanischen Revolution entwickelt, und die Frage der internationalen Solidarität stand im Mittelpunkt. Die Politik muss so international wie möglich sein. In diesem Sinne funktionierte der Internationalismus des Sozialismus, da er die Frage des Kolonialismus reduzierte und mehr Gleichheit zwischen den Nationen schuf.

MW: Ihre Darstellung von MEND enthält einen menschlicheren Ansatz für eine Rebellengruppe, ganz anders als das traditionelle Narrativ, das darauf abzielt, sie als „das Böse“ zu dämonisieren.

GA: Im Allgemeinen ist das Bild, das wir von Gruppen erhalten, die sich für den bewaffneten Kampf entscheiden, oft das von Menschen mit vermummten Gesichtern. Aber hinter der Sturmhaube verbirgt sich immer eine Komplexität, eine Geschichte, die die Medien nicht weiter erforschen wollen. Die Definition des Begriffs „Terrorist“ wird von allen Regierungen nach Belieben verwendet und kann alles und nichts bedeuten. Was Gruppen wie die Hamas und die Hisbollah angeht, so bin ich weit von ihren Ideen entfernt. Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen einem bewaffneten Kampf in Palästina, wo es eine Besatzung gibt, und in Italien, wo es keine Besatzung, aber eine andere Geschichte gibt. Aus unserer bequemen Position heraus ist es einfach, den bewaffneten Kampf abzulehnen.

Aber in einem Kontext, in dem es um das Überleben, die Existenz, die Würde und die militärische Besatzung geht, ist das etwas anderes. Ich kann das palästinensische Volk, das sich für den bewaffneten Kampf entschieden hat, nicht verurteilen, wie könnte ich? Ich weiß nicht, ob dieser Kampf zu einer wirklichen Emanzipation führen wird. Wie die Palästinenser wissen, ist die Geschichte zumindest der letzten 50 Jahre nicht wirklich in diese Richtung verlaufen. Es ist die Verzweiflung, die dazu führt, dass man sich auf Gewalt einlässt. Mich bringt zum Lachen, dass uns gesagt wird, „alles begann am 7. Oktober“. Die Weichen wurden lange im Voraus gestellt.

Hinzu kommen die enorme Heuchelei und Kurzsichtigkeit der internationalen Gemeinschaft, die direkt eingreifen „müsse“. Ich habe das Interview mit [dem EU-Außenbeauftragten Josep] Borrell gehört, in denen zwar einige Dinge gesagt werden. Aber dann treffen sich zwölf israelische Minister, um über die Siedlungen in Gaza zu diskutieren, und außer allgemeiner Kritik gibt es nie irgendwelche Konsequenzen oder echte Sanktionen. Auf diese Weise hat die internationale Gemeinschaft jede Glaubwürdigkeit verloren. Nur wer böswillig ist, kann die aktuell vorherrschende Situation verteidigen.

MW: Ihre Schilderung von Alex' Kampf mit Jomo und schließlich von Jomos Tod ist außerordentlich einfühlsam. Alex durchläuft eindeutig ein tiefes Trauma. Was hat Ihnen ermöglicht, diese Elemente so einfühlsam darzustellen?

GA: Beeinflusst haben mich wichtige Bücher, wie [Joseph Conrads] „Das Herz der Finsternis“, [Louis-Ferdinand Célines] „Reise ans Ende der Nacht“ und [das Buch des in der Schweiz geborenen Blaise Cendrars] „J'ai tué“ beeinflusst. Der letztgenannte Schriftsteller war selbst in der französischen Fremdenlegion, wo er seine rechte Hand verlor und mit der linken schreiben lernte.

In „J'ai tué“ beschreibt er den totalen Abgrund, wenn man einen Menschen tötet, von dem man nichts weiß. Das war die Inspiration für den Kampf zwischen Alex und Jomo. Außerdem habe ich beschlossen, diese Szene an dem Ort zu drehen, an dem Mikhail [ein Freund von Alex] im Wasser verschwunden ist. Ich wollte den Eindruck erwecken, dass es sich immer um dasselbe Wasser, dieselben Blätter und denselben Schlamm handelt. Kein Entkommen. Aber weil Alex nicht in der Lage war, seinen Kameraden zu begraben, hat er Mitleid mit Jomos Leiche und beerdigt diese.

Als Jomos Geist zurückkehrt, ist es nicht, um Alex zu verfolgen, sondern um ihm ein Geschenk zu machen. Das Wertvollste, was er hatte, ist der Tanz, den Alex mit Jomos Schwester Udoka teilt.

MW: Die Kampfszene war sehr besonders: Es wurde bewusst auf grafische Bilder verzichtet, die oft in Filmen vorkommen, und eine Wärmekamera verwendet. Was war der Grund für diese Entscheidung?

GA: Gerade wegen des pornografischen Einsatzes von Gewalt in Kriegsbildern, sowohl im Fernsehen als auch im Kino, hatte ich das Bedürfnis, eine andere Wahl zu treffen. Ich konnte die Gewalt nicht völlig vermeiden. Schließlich gibt es in einem Kriegsfilm Kampfszenen. Aber ich beschloss, die Gewalt auf den Ton zu beschränken und Bilder zu verwenden, die uns an einen anderen Ort führen und eine Art emotionaler und sozialer Gegenseitigkeit zwischen den beiden Figuren darstellt. Der Kampf war in gewisser Weise bereits eine erste Form des Tanzes, der sich später zwischen Udoka und Alex entwickelte.

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