Griechisches Gericht spricht neun Überlebende der Pylos-Schiffskatastrophe frei

Am Freitag vor einem Jahr, am frühen Morgen des 14. Juni 2023, sank vor der griechischen Peleponnes-Halbinsel ein Fischkutter mit über 750 Flüchtlingen an Bord. Mehr als 600 Menschen ertranken, darunter viele Frauen und Kinder, die im Schiffsinnern festsaßen.

Der überladene Fischkutter kurz vor dem Kentern [Photo by Griechische Küstenwache]

Die Schiffskatastrophe vor dem griechischen Hafen von Pylos war nicht einfach ein tragisches Unglück, sondern das Ergebnis eines mörderischen „Pushbacks“ durch die griechische Küstenwache, wie Recherchen von Journalisten und NGOs belegen.

Die Küstenwache hatte trotz Kenntnis über die Seenot des überfüllten Kutters keine rechtzeitigen Rettungsmaßnahmen eingeleitet. Dann brachte sie den bisherigen Untersuchungen zufolge das Schiff selbst zum Kentern, indem sie es an ein Patrouillenboot festband und hin- und herzog, um die Flüchtlinge in italienische Gewässer abzuschleppen.

Die illegalen Pushbacks der griechischen Regierung sind Teil einer systematischen Politik der Europäischen Union (EU) und ihrer Grenzpolizei Frontex, um die Festung Europa abzuschotten. Doch für dieses Verbrechen wurden nicht die tatsächlichen Verantwortlichen belangt, sondern Überlebende der Schiffskatastrophe vor Gericht gestellt.

Neun Geflüchtete aus Ägypten wurden unmittelbar nach ihrer Rettung verhaftet und als vermeintliche „Schleuser“ angeklagt. Als Grundlage dienten lediglich Befragungen einiger Überlebender direkt nach dem Schiffsunglück, die von derselben Küstenwache durchgeführt wurden, die im Verdacht steht, den Tod der Menschen verursacht zu haben.

Am 21. Mai hat das Berufungsgericht der südgriechischen Stadt Kalamata die angeklagten Geflüchteten freigesprochen. Die neun Männer zwischen 20 und 40 Jahren saßen elf Monate im Gefängnis, obwohl sie unschuldige Opfer waren, die nur knapp dem Tod auf dem sinkenden Schiff entronnen waren.

Das Gericht von Kalamata erklärte sich bezüglich des Vorwurfs, die Angeklagten hätten eine kriminelle Vereinigung gebildet und den Schiffsbruch verursacht, für nicht zuständig. Dabei folgten sie dem Argument der Anwälte, das Schiff habe sich zum Zeitpunkt des Untergangs in internationalen Gewässern befunden, nicht auf griechischem Territorium.

Zudem stellten die Richter fest, dass die Vorwürfe des Menschenhandels und der illegalen Einreise nicht belegt seien. So hätten die Geflüchteten nie geplant und seien nie dafür bezahlt worden, die Passagiere des Fischkutters „Adriana“ von Libyen nach Griechenland zu schleusen. Auch hätten sie nicht selbst griechisches Hoheitsgebiet betreten, sondern seien durch das Eingreifen der griechischen Küstenwache dorthin gebracht worden.

Laut einem Bericht der griechischen Nachrichtenwebsite ThePressProject (TPP) sagten die Angeklagten aus, dass sie von Libyen nach Italien aufgebrochen waren, nicht nach Griechenland. Ihr Ziel sei „ein besseres Leben, um ihrer Familie zu helfen. Alle sagten aus, sie wüssten nicht, warum sie im Gefängnis gelandet seien, während einer der Angeklagten aussagte, er sei aus dem Krankenhaus geholt und sofort ins Gefängnis gebracht worden.“

Ein Seenotretter und Zeuge im Prozess, Jason Apostolopoulos, erklärte laut TPP, es sei eine Schande, dass beim größten Schiffsunglück der griechischen Geschichte die Opfer und nicht die Täter vor Gericht stehen.

Laut TPP gab es Versuche, die Anwesenheit von Beobachtern und Presse bei der Verhandlung einzuschränken. In dem zu kleinen Gerichtssaal mussten Anwesende stehen und wurden von der Polizei mehrfach aufgefordert, den Raum zu verlassen. Erst auf Antrag der Verteidiger wurden zehn weitere Plätze für Journalisten zur Verfügung gestellt. Vor dem Gerichtssaal hatten sich Unterstützer sowie Angehörige der Pylos-Opfer versammelt und demonstrierten für einen Freispruch der Angeklagten.

Trotz des Freispruchs blieben die Ägypter zunächst weiter in Verwaltungshaft, mit der Begründung, dass ihre Asylanträge noch nicht genehmigt worden seien. Dagegen legten die Anwälte Widerspruch ein. Am 29. Mai wurden schließlich vier freigelassen, eine Woche später weitere vier. Ein Überlebender wird weiterhin festgehalten, weil sein Asylantrag abgelehnt wurde.

Verantwortung der EU

Parallel läuft eine Untersuchung vor dem Marinegericht Piräus. 49 Überlebende haben Klage gegen die griechische Küstenwache und Behörden eingelegt. Doch auch nach einem Jahr gibt es kaum Fortschritte in dem Verfahren, obwohl die Faktenlage erdrückend ist.

Die griechische Küstenwache ist nicht der einzige Täter in diesem Fall. Sie arbeitet im Auftrag von Frontex und der EU, in der Deutschland eine führende Rolle spielt. Unter Leitung der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) wurden die imperialistische Kriegspolitik und die Asyl- und Flüchtlingspolitik drastisch verschärft, die zwei Seiten einer Medaille sind.

Das europäische Parlament hat im April das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (GEAS) verabschiedet. Damit wird „das Asylrecht faktisch außer Kraft gesetzt und die Migrationspolitik der extremen Rechten zum Gesetz erhoben“, wie die WSWS kommentierte. „Die beschlossenen Maßnahmen sehen die hermetische Abriegelung der europäischen Außengrenzen vor. Das bedeutet, dass Geflüchtete ihr Asylverfahren außerhalb der EU, in geschlossenen, militärisch bewachten Haftlagern durchlaufen müssen.“

Von der Leyen, die sich um eine weitere Amtszeit bemüht und dabei auf Unterstützung aus dem rechtsextremen Lager hofft, hat eng mit dem rechten griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis, der italienischen Faschistin Giorgia Meloni und den kriminellen Regimen in Libyen, Tunesien und Ägypten zusammengearbeitet, um Flüchtlinge von Europa fernzuhalten.

Die neun unschuldig inhaftierten Pylos-Überlebenden sind aus Ägypten geflohen, wo der Diktator Abdel Fattah al-Sisi, bekannt als „Schlächter von Kairo“, politische Gegner einsperrt und ermordet.

Der französische Ministerialbeamte Fabrice Leggeri, der Frontex von 2015 bis 2022 leitete und für die Vertuschung von Pushbacks verantwortlich war, trat jetzt auf Listenplatz 3 für das rechtsextreme Rassemblement National zur Europawahl an. Er bezeichnete seine Kandidatur als „logischen Schritt, um die europäischen Grenzen zu schützen“. Laut einer Analyse der Zeit, die ihn mit dem ehemaligen deutschen Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen verglich, nutzt er das Wort Menschenrechte „wie ein Schimpfwort“.

In Deutschland unterstützen alle im Bundestag vertretenen Parteien die Abschiebe- und Asylpolitik der EU. Dazu gehört auch die Linkspartei, die in der Landesregierung in Thüringen wie zuvor in Berlin brutale Abschiebungen anordnet.

Im Europa-Wahlkampf versuchte Die Linke, sich als Gegnerin der Grenzpolitik zu präsentieren, um die unter jungen Menschen verbreitete Empörung über die menschenverachtende Frontex-Politik aufzufangen. Deshalb stellte sie als Spitzenkandidatin die bekannte Seenotretterin Carola Rackete auf, die 2019 zum Symbol des Widerstands gegen die EU-Angriffe auf Flüchtlinge geworden war.

Rackete hatte als Kapitänin das Rettungsschiff „Sea-Watch 3“ mit etwa 40 Flüchtlingen an Bord in den Hafen von Lampedusa eingefahren – trotz des Verbots der italienischen Behörden. Sie wurde umgehend verhaftet und von Rechtextremen in ganz Europa diffamiert.

Die Linkspartei wollte Rackete als Aushängeschild nutzen. Doch Rackete hat jüngst auf Nachfrage der Presse erklärt, dass sie in der EU nicht gegen die Flüchtlingspolitik auftreten werde. „Als Ökologin werde ich im EU-Parlament nicht zum Thema Migration arbeiten. Das ist nicht meine politische Expertise“, so Rackete auf einer Veranstaltung der italienischen Partei „Allianz der Grünen und Linken“ in Mailand. Soll heißen: Wer die Linken-Kandidatin Rackete in der Hoffnung wählt, dass sie der flüchtlingsfeindlichen EU-Politik die Stirn bietet, wird bitter enttäuscht werden.

Opposition gegen die Angriffe auf Flüchtlinge ist aber dringend notwendig. Bereits jetzt ist der Meeresgrund in Südeuropa ein riesiges Massengrab. In den letzten zehn Jahren sind 30.000 Flüchtende im Mittelmeer ertrunken. Laut Angaben des Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) sind allein im vergangenen Jahr mindestens 3760 Menschen auf der Seeroute gestorben oder verschwunden. Die Zahl der Opfer ist im Vergleich zu den Vorjahren deutlich gestiegen, wobei die Dunkelziffer sehr hoch sein dürfte. Hinzu kommen Tausende Flüchtlinge, die in Nordafrika in der Wüste ausgesetzt werden und dort verdursten.

Wie viele Menschen tatsächlich ihr Leben auf der Flucht verlieren, kann wahrscheinlich nie festgestellt werden. Die Seenotrettung ebenso wie die Erfassung und Berichterstattung über die Opfer wurden in den letzten Jahren weitgehend eingestellt und kriminalisiert.

Die Repressionen trafen zuletzt die Menschenrechtsorganisation Aegean Boat Report (ABR). Die norwegische NGO dokumentiert seit mehreren Jahren Ankünfte und Pushbacks von Flüchtlingen in der Ägäis und deckt die gezielten Verstöße gegen das Asylrecht in Griechenland auf. Um diese Arbeit zu unterbinden, hat Griechenland einen internationalen Haftbefehl gegen den Leiter von ABR, Tommy Olsen, sowie gegen Panagiotis Dimitras von der NGO Greek Helsinki Monitor erlassen.

Wie jetzt bekannt wurde, leiteten die Behörden der Insel Kos bereits vor anderthalb Jahren ein Verfahren gegen die beiden Menschenrechtsaktivisten ein. Das berichtet die griechische Zeitung Efimerida ton Syntakton (Efsyn). Ihnen wird unter anderem die Bildung einer kriminellen Vereinigung und die Erleichterung der Einreise und des Aufenthalts von Flüchtlingen vorgeworfen, nur weil sie die zuständigen Behörden über die ankommenden Asylsuchenden informiert hatten.

Olsen wies die Vorwürfe zurück und erklärte, dass er nicht zum Verfahren nach Griechenland reisen werde, weil er begründete Sorgen habe, keinen fairen Prozess zu erhalten.

Aegean Boat Report setzt unterdessen seine Arbeit fort. Nach jüngsten Angaben von ABR ist die Zahl der Flüchtlinge, die im Mai auf den ägäischen Inseln angekommen sind, im Vergleich zum Vormonat April um 67,5 Prozent gestiegen. Insgesamt sind in diesem Jahr die Ankunftszahlen im Vergleich zu den ersten fünf Monaten 2023 sogar um 193 Prozent angestiegen.

Im Mai registrierte die Organisation 50 illegale Pushbacks der griechischen Küstenwache in der Ägäis. 1226 Personen, darunter auch Kinder und Frauen, wurde das Recht auf Asyl verwehrt. Bei diesen Pushbacks werden die Flüchtlinge meist auf dürftigen Rettungsflößen ohne Motor auf dem Meer ausgesetzt.

Normalisierung des Todes

Diese andauernde Politik des Todes, die die EU seit Jahrzehnten betreibt, ist empörend und menschenfeindlich. Doch so traurig und wütend sie auch macht, es ist notwendig, ihre politische Logik zu verstehen.

Das kapitalistische System befindet sich weltweit in einer tiefen Krise, auf die die herrschende Klasse Deutschlands, der EU und der USA nur eine Antwort haben: Krieg, um ihre geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen mit militärischer Gewalt durchzusetzen; Klassenkrieg, um ihre Profite zu verteidigen und die Kriegskosten auf die Arbeiterklasse abzuwälzen; und Diktatur, um die wachsende Opposition gegen Krieg und Armut zu unterdrücken.

Der Tod, die Misshandlung und die Verteufelung von Flüchtenden, die die Endphase des Europawahlkampfs in großen Teilen dominierten, spielen dabei eine zentrale Rolle:

  • Der Tod von Tausenden unschuldigen Menschen wird „normalisiert“. Jede Empathie mit Flüchtenden, die aus von imperialistischen Kriegen zerstörten und zerrütteten Ländern fliehen, wird unterdrückt und kriminalisiert. So wie der israelische Genozid an den Palästinensern in Gaza und das Abschlachten hunderttausender Soldaten im Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland in der Ukraine, soll auch der massenhafte Tod im Mittelmeer die Öffentlichkeit daran gewöhnen, dass ein Menschenleben auf dem Altar des Profits und der imperialistischen Geopolitik nichts wert ist.
  • Geflüchtete dienen als Blitzableiter für die soziale Krise. Obwohl die Kosten für die Unterbringung, Ausbildung und Integration von Geflüchteten im Vergleich zu den steigenden Militärausgaben und explodierenden Vermögen der Reichen gering sind, werden sie zum Sündenbock für die seit Jahrzehnten anhaltende Krise im Bildungssystem, für sinkende Sozialausgaben und steigende Mieten gestempelt.
  • Die Hetze gegen Flüchtlinge ist Wasser auf die Mühlen der AfD. Sie stärkt die extreme Rechte, die von den Herrschenden gebraucht wird, um jede soziale und politische Opposition einzuschüchtern und eine Diktatur aufzubauen. Deshalb unterstützen alle etablierten Parteien, angefangen mit der neugegründeten Wagenknecht-Partei, die von den Rechtsextremen inspirierte Abschottungspolitik der EU.
  • Der Angriff auf Flüchtlinge dient dazu, die Arbeiterklasse zu spalten. Sie sind lebende Zeugen der verheerenden imperialistischen Politik im Nahen Osten und in Afrika. Sie wissen, was Krieg und Diktatur bedeutet. Sie wissen, wie im Namen der „Menschenrechte“ ihre Häuser und Schulen zerstört wurden. Sie haben das brutale Asyl- und Flüchtlingslabyrinth durchlaufen und vielfach Angehörige oder Freunde verloren. Heute leben und arbeiten Geflüchtete aus Afghanistan, Syrien oder Ägypten Seite an Seite mit europäischen Arbeitern in den Betrieben, im Transportbereich oder auf dem Bau.

    Wenn die Bundesregierung nun wieder „Kriegstüchtigkeit“ predigt, massiv aufrüstet und den Ukrainekrieg und den Völkermord in Gaza anfacht, dann muss sie mit einer großen Ablehnung in der Arbeiterklasse rechnen, gerade unter jenen mit unmittelbarer Kriegserfahrung. Die EU-Staaten bevorzugen es deshalb, wenn diese Menschen noch vor ihrer Ankunft im Mittelmeer verschwinden. Es ist ein geräuschloser und stiller Mord. Wer trotz der Hürden und Gefahren Europa erreicht, soll schnellstmöglich abgeschoben werden.

Die Sozialistische Gleichheitspartei tritt dieser Politik mit einem internationalistischen und sozialistischen Programm entgegen. In ihrem Wahlaufruf zur Europawahl heißt es:

Die „Festung Europa“, die mit Mauern, Stacheldrahtzäunen und menschenverachtenden Gefangenenlagern an den Außengrenzen immer weiter ausgebaut wird, bringt tausenden Flüchtlingen den Tod. Es handelt sich um eine bewusste Politik des Mords, um Flüchtlinge, die vor Krieg, Zerstörung und Elend fliehen, abzuschrecken. Gleichzeitig versuchen Politik und Medien, Flüchtlinge und Migranten zum Sündenbock für die tiefe soziale Krise zu machen.

Die SGP fordert gleiche Rechte für Flüchtlinge und Migranten und kämpft für die internationale Vereinigung der Arbeiter. Gerechtigkeit für die Opfer und Überlebenden von Pylos und ein Ende des Massensterbens im Mittelmeer kann es nur geben, wenn die Arbeiter selbst die Kriegspolitik der herrschenden Klasse stoppen. Dafür ist der Aufbau einer revolutionären Weltpartei notwendig, in der sich Arbeiter unabhängig von ihrer Herkunft zusammenschließen.

Loading