Diese Rede hielt David North, Vorsitzender der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, am Sonntag, dem 25. August, auf der türkischen Insel Büyükada (Prinkipo). Die Feier mit dem Titel „Analyse einer Welt im Chaos von einer Insel der Ruhe“ war die zweite internationale Gedenkveranstaltung für Leo Trotzki. Sie erinnerte an sein Werk auf Büyükada, wo er die erste Periode seines Exils aus der Sowjetunion von 1929 bis 1933 verbrachte.
Der Bürgermeister von Büyükada, Ali Ercan Akpolat, hatte David North als Redner eingeladen. Neben North saß Dr. Rıdvan Akın von der Galatasaray-Universität auf dem Podium. Moderiert wurde die Veranstaltung von Ulaş Ateşçi, einem führenden Mitglied der Sosyalist Eşitlik Grubu (Sozialistische Gleichheitsgruppe) in der Türkei. An der Veranstaltung nahmen 160 Personen teil. Viele kauften noch Literatur und beteiligten sich an der anschließenden Fragerunde.
Zunächst möchte ich Bürgermeister Ali Ercan Akpolat und seiner Verwaltung dafür danken, dass sie diese zweite internationale Gedenkveranstaltung für Leo Trotzki organisiert und mich als Sprecher eingeladen haben. Die Einführung dieser Gedenkfeier als jährliches intellektuelles Ereignis ist sowohl von historischer als auch von immenser aktueller Bedeutung.
Die vier Jahre, die Trotzki auf Büyükada verbrachte, zählten zu den folgenreichsten seines Lebens und der Geschichte des 20. Jahrhunderts. 1929, das Jahr seiner Ankunft, war das Jahr des Wall-Street-Crashs und des Beginns der Weltwirtschaftskrise. 1933 war das Jahr, in dem Hitler an die Macht kam – eine historische Katastrophe, die zum Zweiten Weltkrieg, zum Holocaust und schließlich zu den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki führte. Bis heute zahlt die Menschheit den Preis für die Niederlage der deutschen und europäischen Arbeiterklasse in den 1930er Jahren.
1938 charakterisierte Trotzki die historische Epoche als Todeskrise des Kapitalismus. Aufgrund der Niederlage der sozialistischen Revolution in den 1930er Jahren und des stalinistischen Verrats in Frankreich, Spanien und natürlich Deutschland hat sich diese Todeskrise in die Länge gezogen. Aber die aktuellen Ereignisse bestätigen Trotzkis historische Prognose. Fast 80 Jahre nach dem Zusammenbruch von Hitlers Drittem Reich und dem Ende des Zweiten Weltkriegs erleben wir das Wiederaufleben des Faschismus, den Einsatz von Völkermord als Instrument staatlicher Politik und die Eskalation militärischer Konflikte hin zu einem nuklearen dritten Weltkrieg.
Um den Abstieg in die Barbarei und die Selbstvernichtung der Zivilisation zu verhindern, ist es notwendig, die Vergangenheit zu studieren und daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen.
Gerade wenn man die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts – den Sieg des Faschismus in Deutschland – betrachtet, sind Trotzkis Jahre auf dieser Insel von immenser historischer Bedeutung. Es ist bekannt, dass Trotzki während seines Exils auf Prinkipo zwei seiner größten literarischen Meisterwerke schrieb: seine Autobiografie Mein Leben und seine monumentale Geschichte der russischen Revolution.
Trotzkis größte Leistung während seines Aufenthalts auf Büyükada war jedoch seine Analyse der sich entfaltenden politischen Krise in Deutschland, sein Bemühen, die deutsche Arbeiterklasse auf die Gefahr des Nationalsozialismus aufmerksam zu machen, und seine Enthüllung der verheerenden Politik der deutschen Kommunistischen Partei unter Stalins Führung. Gefangen auf einer Insel, 1.600 Kilometer von Berlin entfernt , erkannte Trotzki mit beispielloser Voraussicht die unvermeidlichen Folgen von Stalins Politik, aber auch was getan werden muss, um den Sieg der Nazis zu verhindern.
Bereits im September 1930, mehr als zwei Jahre vor Hitlers Sieg, schrieb Trotzki:
Der Faschismus in Deutschland ist zu einer wirklichen Gefahr geworden als Ausdruck der akuten Ausweglosigkeit des bürgerlichen Regimes, der konservativen Rolle der Sozialdemokratie gegenüber diesem Regime und der akkumulierten Schwäche der Kommunistischen Partei im Kampf gegen dieses Regime. Wer das ableugnet, ist blind oder ein Schwätzer! [Leo Trotzki, „Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland“, in: Porträt des Nationalsozialismus, Essen: Mehring Verlag 2023, S. 27]
Deutschland verfügte über die größte, mächtigste und politisch fortschrittlichste Arbeiterklasse in Europa. Es war das Geburtsland von Marx und Engels, wo die industrielle Entwicklung unter dem Einfluss des Marxismus die sozialdemokratische Massenpartei (SPD) hervorgebracht hatte. Doch die SPD und praktisch alle ihr angeschlossenen Parteien der Zweiten Internationale hatten im August 1914 das Programm des internationalen Sozialismus verraten, als sie den Eintritt ihrer kapitalistischen Regierungen in den Ersten Weltkrieg unterstützten.
Die Gründung der Dritten Internationale unter Führung Lenins und Trotzkis im Anschluss an die Oktoberrevolution 1917 zielte auf den Wiederaufbau revolutionärer Parteien auf der Grundlage des sozialistischen Internationalismus ab. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) entwickelte sich zur größten Sektion der neuen Internationale außerhalb der Sowjetunion. Ihre Entwicklung wurde jedoch durch eine Krise der politischen Führung untergraben. Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar 1919, nur zwei Wochen nach der Gründung der KPD, beraubte die Partei ihrer erfahrensten Führer. Das Führungsproblem verschärfte sich noch durch das Anwachsen der von Stalin geführten Bürokratie in der Sowjetunion, die Abkehr vom Programm der sozialistischen Weltrevolution und die Annahme des nationalistischen Programms des „Sozialismus in einem Land“.
Trotzki, der Führer der Linken Opposition in der Russischen Kommunistischen Partei, widersetzte sich dieser grundlegenden nationalistischen Revision des marxistischen Programms, die die neuen kommunistischen Parteien desorientierte und zur Unterordnung der Kominternsektionen unter die nationalen Interessen der sowjetischen Bürokratie führte.
Diese Desorientierung fand ihren verhängnisvollsten Ausdruck in der Politik der KPD. Angesichts des Aufstiegs des Faschismus bestand ihre wesentliche Aufgabe darin, alle Kräfte der Arbeiterklasse in einem gemeinsamen Verteidigungskampf zu vereinen. Unter Bedingungen, in denen die Loyalität der Arbeiterklasse zwischen zwei Parteien – der SPD und der KPD – aufgeteilt war, hatte die Kommunistische Partei die Pflicht, das Vertrauen der Millionen Arbeiter zu gewinnen, die noch immer der sozialdemokratischen Führung folgten.
Ungeachtet des reformistischen Charakters der SPD und ihrer erbitterten Feindschaft gegen das Programm der sozialistischen Revolution bedrohte der Aufstieg des Faschismus ihre eigene Existenz. Trotzki bestand daher darauf, dass die KPD verpflichtet sei, den objektiven Konflikt zwischen der SPD als reformistischer Arbeiterorganisation und den Nazis auszunutzen. Doch die Stalinisten leugneten die Existenz dieses Konflikts und lehnten jede Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten ab – selbst zum Zweck der organisatorischen Selbstverteidigung.
Trotzki unterzog die ultralinke Politik der Stalinisten – die die Sozialdemokratische Partei als „sozialfaschistisch“ und damit als politischen Zwilling der Nazis bezeichnete – einer vernichtenden Kritik. Er forderte die Kommunistische Partei auf, die selbstzerstörerische Politik des „Sozialfaschismus“ aufzugeben und die Sozialdemokratische Partei zu einer „Einheitsfront“ gegen die Nazis aufzurufen. Ein Abkommen zwischen den beiden Massenparteien der deutschen Arbeiterklasse, die Millionen Anhänger hatten, ein Aufruf zum gemeinsamen Handeln, zu gemeinsamen Verteidigungsaktionen gegen die Nazis, so Trotzki, wäre ein unüberwindliches Hindernis für Hitler auf seinem Weg an die Macht . Darüber hinaus würde es der Arbeiterklasse den Weg frei machen, um gegen das deutsche kapitalistische Regime und seine Nazi-Befehlsempfänger in die Offensive zu gehen.
Im Dezember 1931 warnte Trotzki in einem Artikel mit dem Titel „Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen? Brief an einen deutschen Arbeiter-Kommunisten, Mitglied der KPD“:
Deutschland durchlebt gegenwärtig eine jener großen historischen Stunden, von denen das Schicksal des deutschen Volkes, das Schicksal Europas, in bedeutendem Maße das Schicksal der ganzen Menschheit auf Jahrzehnte hinaus abhängt. [Leo Trotzki, „Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen? Brief an einen deutschen Arbeiter-Kommunisten, Mitglied der KPD“, in: Porträt, S. 91]
Die dumme und rücksichtslose Definition der Sozialdemokratie als faschistisch durch die Stalinisten hatte zur Folge, dass die Gefahr, die vom echten Faschismus Hitlers ausging, drastisch heruntergespielt wurde. Mit einer Klarheit, die von keinem Zeitgenossen erreicht wurde, erklärte Trotzki die besondere politische Rolle des Faschismus im konterrevolutionären Arsenal der herrschenden Klasse. In seinem Artikel „Was nun?“ vom Januar 1932 schrieb Trotzki:
Die Reihe ist ans faschistische Regime gekommen, sobald die „normalen“ militärisch–polizeilichen Mittel mitsamt ihrer parlamentarischen Hülle für die Erhaltung des Gleichgewichts der Gesellschaft nicht mehr ausreichen. Durch die faschistische Agentur setzt das Kapital die Massen des verdummten Kleinbürgertums in Bewegung, die Banden deklassierter, demoralisierter Lumpenproletarier und all die zahllosen Menschenexistenzen, die das gleiche Finanzkapital in Verzweiflung und Elend gestürzt hat. Vom Faschismus fordert die Bourgeoisie ganze Arbeit: Hat sie einmal die Methoden des Bürgerkriegs zugelassen, will sie für lange Jahre Ruhe haben...
Die Faschisierung des Staats bedeutet nicht nur Mussolinisierung der Verwaltungsformen und -methoden – auf diesem Gebiete sind die Veränderungen letzten Endes von zweitrangigem Charakter –, sondern vor allem und hauptsächlich Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen, Zurückwerfung des Proletariats in amorphen Zustand, Schaffung eines Systems tief in die Massen dringender Organe, die eine selbständige Kristallisierung des Proletariats unterbinden sollen. Eben darin besteht das Wesen des faschistischen Regimes. [„Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats“, in: Porträt, S. 117]
Man kann sagen, dass es 90 Jahre später keine bessere und präzisere Definition des Faschismus gibt. Und wenn Trotzki in seinem Leben nichts anderes geschrieben hätte, diese Worte allein hätten ihn politisch unsterblich gemacht.
In seiner Kritik an der Politik der Stalinisten betonte Trotzki, dass die wesentliche Quelle ihrer Fehler eine nationalistische Orientierung war, die den Kampf gegen den Faschismus in Deutschland von der Perspektive des internationalen Sozialismus trennte. Dies führte dazu, dass die Führer der KPD unter dem Einfluss des nationalistischen Programms der Sowjetbürokratie vom „Sozialismus in einem Land“ anstelle des Programms der sozialistischen Weltrevolution den Ruf nach einer deutschen „nationalen Volksrevolution“ erhoben – was die ausdrücklich proletarische Orientierung der Partei verwischte und eine Anpassung an die chauvinistische Agitation der Nazis war. Trotzki entlarvte diese falsche Perspektive und schrieb:
Die Losung der proletarischen Vereinigung Europas bildet gleichzeitig eine sehr wichtige Waffe im Kampf gegen den niederträchtigen faschistischen Chauvinismus, gegen die Frankreich-Hetze usw. Am verkehrtesten und gefährlichsten ist eine Politik, die in der passiven Anpassung an den Feind besteht. Den Losungen der nationalen Verzweiflung, der nationalen Besessenheit muss man die Parolen des internationalen Auswegs entgegenstellen. Aber dazu ist es notwendig, dass man die eigene Partei von dem Gift des National-Sozialismus reinigt, dessen wichtigstes Element die Theorie des Sozialismus in einem Lande ist. [„Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland“, in: Porträt, S. 41]
Selbst als die Nazis immer stärker wurden, weigerten sich die Stalinisten, ihre Politik zu ändern. Trotzki richtete eine leidenschaftliche Warnung an die deutsche Arbeiterklasse:
Arbeiter-Kommunisten, ihr seid Hunderttausende, Millionen; ihr könnt nirgends hinfahren, für euch gibt es nicht genug Reisepässe. Wenn der Faschismus zur Macht gelangt, wird er wie ein furchtbarer Panzer über eure Schädel und Wirbelsäulen hinwegrollen. Rettung liegt nur in unbarmherzigem Kampf. Und Sieg im Kampf kann nur das Bündnis mit den sozialdemokratischen Arbeitern bringen. Eilt, Arbeiter-Kommunisten, es bleibt euch wenig Zeit! [„Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?“, in: Porträt, S. 102]
Trotzkis Warnungen wurden nicht beherzigt. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler durch eine Verschwörung der herrschenden Klasse an die Macht gebracht, ohne dass ein einziger Schuss gefallen wäre. Innerhalb weniger Tage entfesselten die Nazis, wie Trotzki vorausgesagt hatte, ihre Schreckensherrschaft gegen die Arbeiterklasse und deren politische und gewerkschaftliche Organisationen. Doch weit davon entfernt, das Ausmaß der Niederlage der deutschen Arbeiterklasse anzuerkennen, erklärte das stalinistische Regime in Moskau (das seinem deutschen Satelliten die Politik diktiert hatte), dass diese Politik, die für den Sieg der Nazis verantwortlich war, richtig gewesen sei.
Das zynische und verlogene Leugnen jeglicher Verantwortung für die deutsche Katastrophe durch die Kreml-Bürokratie unter Stalin bedeutete den faktischen Zusammenbruch der Dritten Internationale. Am 15. Juli 1933, am Vorabend seiner Abreise aus Büyükada, veröffentlichte Trotzki seinen Aufruf zum Aufbau der Vierten Internationale. Er schrieb:
Eine Organisation, die der Donner des Faschismus nicht geweckt hat, und die demütig derartige Entgleisungen vonseiten der Bürokratie unterstützt, zeigt dadurch, dass sie tot ist und nichts sie wiederbeleben wird. Das offen und mit klarer Stimme zu sagen, ist eine wahrhaftige Pflicht gegenüber dem Proletariat und seiner Zukunft. In unserer gesamten zukünftigen Arbeit müssen wir von dem historischen Zusammenbruch der offiziellen Kommunistischen Internationale ausgehen. [„Man muss von Neuem kommunistische Parteien und eine Internationale aufbauen“, in: Porträt, S. 355]
Alle nachfolgenden Ereignisse bestätigten Trotzkis Aufruf zu einer neuen Internationale. Die Politik der stalinistischen Bürokratie nahm einen bewusst konterrevolutionären Charakter an. Die Interessen der internationalen Arbeiterklasse und der Kampf für den Sozialismus wurden dem pragmatischen Kalkül der reaktionären diplomatischen Manöver des vom Kreml-Regimes mit den Führern des Weltimperialismus untergeordnet. Mit dem Massenmord an den alten Bolschewiki während des Terrors von 1936–1939 und der Liquidierung einer ganzen Generation von Kämpfern für den Sozialismus wollte Stalin den imperialistischen Mächten zeigen, dass das Sowjetregime unwiderruflich mit der Perspektive der sozialistischen Weltrevolution gebrochen hatte. Die Verwandlung des stalinistischen Regimes und der mit ihm verbundenen Parteien in Instrumente der Konterrevolution fand ihren Höhepunkt in der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts vor genau 85 Jahren, am 23. August 1939. Ein Jahr später, am 20. August 1940, wurde Trotzki von einem Agenten der sowjetischen Geheimpolizei, der GPU, tödlich verwundet.
Es ist angemessen, dass wir uns bei unserer heutigen Zusammenkunft an diese Geschichte erinnern. Wie der Titel der heutigen Veranstaltung besagt, analysierte Trotzki von dieser Insel der Ruhe aus eine Welt im Chaos. Wir gedenken Trotzkis Jahre in Büyükada jedoch zu einer Zeit, in der die Welt erneut im Chaos versinkt. Dies verleiht der heutigen Veranstaltung eine besondere Bedeutung.
Wir würdigen nicht nur den Mann, der neben Lenin als der größte marxistische Theoretiker und Revolutionär des 20. Jahrhunderts gilt. Wir erkennen auch an, dass Trotzkis politisches Vermächtnis einen einzigartigen Platz in der heutigen Weltpolitik einnimmt.
Trotzkis politische Konzeptionen lediglich als „relevant“ zu bezeichnen, ist eine gewaltige Untertreibung. Ohne ein systematisches Studium von Trotzkis Schriften kann man die politischen Widersprüche der heutigen Welt – die sich unter anderem in einem weltweiten Wiederaufleben des Faschismus manifestieren – nicht verstehen. Seine Theorie der permanenten Revolution ist für die Strategie und Praxis des internationalen Sozialismus – d. h. für den Kampf um die Zukunft der Menschheit – ebenso wichtig wie die Theorien von Einstein und Heisenberg für das physikalische Verständnis des Universums.
Immer wieder wird der Einwand erhoben – vor allem von Akademikern und Vertretern der pseudolinken Politik der wohlhabenden Mittelschicht –, dass es falsch sei, Trotzkis politischem Erbe eine bleibende zeitgenössische Bedeutung zuzuschreiben. Sie argumentieren, dass Trotzki eine Figur aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts sei. Seit seiner Ermordung sind 84 Jahre vergangen. Die Sowjetunion existiert nicht mehr. Wir leben in einer ganz anderen Welt. Die marxistische Betonung der zentralen Bedeutung der Arbeiterklasse und des Klassenkampfs – der so genannte „Klassenessenzialismus“ – sei durch eine Identitätspolitik abgelöst worden, die Ethnie, Rasse und Genderfragen in den Mittelpunkt stellt. Die Verteidigung der mit Trotzki verbundenen Ideen und Perspektiven – d. h. des Programms der sozialistischen Weltrevolution – sei „Götzenverehrung“. Trotzki und der Trotzkismus, so verkünden sie, seien „irrelevant“.
Dies ist im Kern das Argument, das ein britischer Akademiker, der emeritierte Professor John Kelly vom Birkbeck College der Universität London, vorbringt. Der Professor hat in den letzten sechs Jahren zwei Bücher geschrieben, die die Irrelevanz des Trotzkismus beweisen sollen. Der erste Band mit dem Titel Contemporary Trotskyism [Zeitgenössischer Trotzkismus] wurde 2018 veröffentlicht. Der zweite Band mit dem Titel The Twilight of World Trotskyism [Die Dämmerung des Welttrotzkismus] wurde im Jahr 2023 veröffentlicht. Die Frage liegt nahe, warum der Professor so viel Zeit und Mühe auf das Studium einer Bewegung und eines Mannes verwendet hat, die er für „irrelevant“ hält? Was hat es mit Trotzki und der trotzkistischen Bewegung auf sich, dass Professor Kelly so viel Energie darauf verwendet, sie anzuprangern?
Und warum wurden beide Bände Kellys von Routledge veröffentlicht, einem der weltgrößten Verlage mit einem Jahresumsatz zwischen 50 und 100 Millionen Dollar? Warum verwendet dieser mächtige kapitalistische Verlag seine Ressourcen für die Veröffentlichung von Büchern über eine irrelevante Organisation? Es sei daran erinnert, dass Routledge auch schon im Jahr 2003 eine Biografie Leo Trotzkis veröffentlicht hat. Ich hatte die große Ehre, den Autor, Professor Ian Thatcher, als intellektuell prinzipienlosen Verleumder zu entlarven. Routledges Beschäftigung mit Trotzki zeigt offensichtlich, dass man von dessen „Irrelevanz“ keineswegs überzeugt ist.
Was Kelly und seinesgleichen nicht ertragen können, ist die Treue der trotzkistischen Bewegung zu einer revolutionären Perspektive. Am schärfsten kritisiert er das Internationale Komitee der Vierten Internationale, dem ich angehöre. Obwohl Professor Kelly und ich uns nie begegnet sind, bezeichnet er mich als „ein unbescheidenes und arrogantes Individuum“. Der Definition des Internationalen Komitees, dass der Trotzkismus der „Marxismus des 21. Jahrhunderts“ ist, widerspricht er energisch.
Professor Kelly verurteilt die Überschrift der Neujahrserklärung, die im Januar 2020 auf der World Socialist Web Site erschien: „Das Jahrzehnt der sozialistischen Revolution ist angebrochen“. In seiner Antwort schrieb Kelly:
In ihrem Doktrinärismus hermetisch eingeschlossen und echten empirischen Untersuchungen oder theoretischen Innovationen feindlich gesonnen, sind die Organisationen des orthodoxen Trotzkismus dazu verdammt, die Parolen und die Politik aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts für immer zu wiederholen, in der Überzeugung, dass diese Ideen und nur diese Ideen den Schlüssel zu ihrer bevorstehenden Umwandlung in revolutionäre Massenparteien darstellen, die auf der ganzen Welt Angriffe im leninschen Stil auf die kapitalistische Macht anführen werden. (John Kelly, The Twilight of Trotskyism, S. 97)
In Wirklichkeit stammt das Programm, das Professor Kelly vertritt, aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Es wurzelt in den Standpunkten von Eduard Bernstein, der in den 1890er Jahren versuchte, die SPD in eine Partei der Sozialreformen zu verwandeln. In fast identischen Worten wie Kelly heute, argumentierte Bernstein, dass das revolutionäre Programm von Marx und Engels überholt sei, dass die Widersprüche des Kapitalismus reformierbar seien, dass Konflikte zwischen kapitalistischen Staaten ohne Krieg gelöst werden könnten und dass sich der Lebensstandard der Arbeiterklasse stetig verbessern würde. Der Sozialismus sei nicht durch eine Revolution, sondern durch die schrittweise Reform der kapitalistischen Gesellschaft zu erreichen. Aber die Ereignisse des 20. Jahrhunderts – die beiden Weltkriege, der Einsatz von Atomwaffen, die Barbarei des Faschismus und ähnliche Formen der Massenunterdrückung – haben Bernsteins utopische Vorstellungen widerlegt.
Professor Kelly ist nicht in der Lage, die neuen Parolen, politischen Maßnahmen und Ideen zu benennen, die denen von Trotzki und Lenin überlegen sind, um der Arbeiterklasse inmitten der eskalierenden Krise des Weltkapitalismus den Weg vorwärts zu weisen.
Professor Kelly wirft den Trotzkisten vor, der empirischen Forschung gegenüber gleichgültig zu sein. Aber der emeritierte Professor selbst – im bequemen Ruhestand mit Pantoffeln an den Füßen und einer wollenen Schlafmütze über den Augen – scheint die immer offensichtlicheren Anzeichen für den Abstieg des Weltkapitalismus in Chaos und Barbarei nicht zu bemerken. Er schreibt: „Die Vorstellung, dass die Ära der Reformen zu Ende sei und die Weltpolitik auf eine einfache binäre Wahl – Sozialismus oder Barbarei – reduziert sei, ist konzeptionell naiv und empirisch fehlerhaft.“ [Ebd., S. 78]
Wir nähern uns nun der Mitte der 2020er Jahre: Haben die Ereignisse Kellys Spott über die Prognose des Internationalen Komitees vor fünf Jahren bestätigt? Was ist seit Beginn des neuen Jahrzehnts die vorherrschende Tendenz in den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen des Weltkapitalismus? Wenn Professor Kellys Kritik am trotzkistischen „Doktrinarismus“, der blind für die Realitäten der heutigen Welt ist, zutrifft, müsste er anhand entsprechender empirischer Belege nachweisen, dass die letzten vier bis fünf Jahre eine organische Stärkung der Weltwirtschaft, eine Verringerung der sozialen Instabilität (d. h. eine Abnahme der Klassenkonflikte) sowie einen Rückgang der weltweiten geopolitischen Spannungen und eine wachsende Vitalität der bürgerlich-demokratischen Institutionen hervorgebracht haben.
In Wirklichkeit bestätigt eine Untersuchung des Zustands der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen des heutigen Kapitalismus die Analyse der trotzkistischen Bewegung. In jedem Bereich überwiegt die Krise gegenüber der Stabilität. Das Jahrzehnt begann mit dem Ausbruch einer Pandemie, die über die Welt hinwegfegte und zu mindestens 27 Millionen „überzähliger Todesfälle“ führte und noch immer nicht unter Kontrolle ist. Die Pandemie wütet weltweit weiter. Gerade heute habe ich einen Bericht gelesen, aus dem hervorgeht, dass es seit 2020 allein in den Vereinigten Staaten 1,1 Milliarden Corona-Fälle gegeben hat. Die Zahl der Todesfälle ist in diesem Jahr bisher um 20 Prozent höher als im letzten Jahr. Aber die Politik der herrschenden Eliten besteht darin, die Pandemie zu ignorieren und so zu tun, als sei sie kein Problem mehr. Dieselbe Gleichgültigkeit kennzeichnet ihre Reaktion auf die globale Erwärmung. Alle Probleme der modernen Massengesellschaft, die einer globalen Lösung bedürfen, werden dem gesellschaftlich irrationalen und destruktiven Streben nach Unternehmensgewinnen und der Anhäufung von maßlosem persönlichem Reichtum untergeordnet.
Ungeachtet eines immensen technologischen Fortschritts steht das globale Finanzsystem am Rande des Zusammenbruchs. Im Laufe der letzten anderthalb Jahrzehnte waren in den Vereinigten Staaten zweimal – 2008 und 2020 – massive und beispiellose staatliche Eingriffe erforderlich, um wirtschaftliche Katastrophen zu lindern. Das Ergebnis war ein Anstieg der Staatsverschuldung auf ein unhaltbares Niveau.
Im Jahr 2007 belief sich die Staatsverschuldung der Vereinigten Staaten auf neun Billionen Dollar, eine schwindelerregende Zahl. Bis Ende 2023 waren es bereits 34 Billionen. Umgerechnet auf die 330 Millionen Einwohner ist jeder Amerikaner mit 104.000 Dollar verschuldet. Diese inflationäre Spirale ist unhaltbar. Die Schulden müssen zurückgezahlt werden. Dies erfordert eine massive Verschärfung der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Dies kann jedoch nicht auf demokratische oder friedliche Weise erreicht werden. Wie im 20. Jahrhundert sind die herrschenden Eliten gezwungen, einen Ausweg aus der Krise durch Krieg und Faschismus zu suchen.
Als ich letztes Jahr auf der ersten Trotzki-Gedenkfeier am 20. August 2023 sprach, sagte ich:
Wir stehen heute genau vor der Situation, die Trotzki im Gründungsdokument der Vierten Internationale schilderte, als er 1938, nur ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, schrieb: „Ohne eine sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht der gesamten menschlichen Kultur eine Katastrophe.“
Haben die Ereignisse des vergangenen Jahres diese Warnung bestätigt? Sechs Wochen nach unserem Treffen im letzten Jahr in Büyükada kam es am 7. Oktober zum Aufstand der Gaza-Bewohner gegen die Unterdrückung durch den israelischen Staat. Der Aufstand war die unvermeidliche Folge der Politik Israels, der palästinensischen Bevölkerung die grundlegenden demokratischen Rechte zu verweigern. Das Netanjahu-Regime nutzte den Aufstand, um einen völkermörderischen Krieg zu beginnen. Nach 10 Monaten Krieg liegt Gaza in Trümmern.
Die Gesamtzahl der Todesopfer beläuft sich laut einer Studie der renommierten Zeitschrift Lancet auf etwa 186.000. Sie könnte auch noch höher sein. Doch obwohl die Verbrechen des faschistoiden israelischen Regimes die Menschen auf der ganzen Welt erschüttern, werden seine Taten von allen imperialistischen Regierungen verteidigt. Die Vereinigten Staaten lieferten und liefern Israel die Bomben und Artillerie, mit denen jede Woche Tausende von palästinensischen Männern, Frauen und Kindern getötet werden. Unter dem Slogan „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen“ billigen die imperialistischen Regime den Völkermord als legitimes Mittel staatlicher Politik. Inmitten dieser Gräueltaten wurde Netanjahu, der israelische Hitler, eingeladen, vor dem amerikanischen Kongress zu sprechen – die höchste Ehre, die einem ausländischen Staatschef zuteil werden kann.
Der Abstieg Israels in die Barbarei bestätigt Trotzkis Prognose aus dem Jahr 1940. In seiner Ablehnung des zionistischen Projekts warnte er: „Der Versuch, die jüdische Frage durch die Auswanderung von Juden nach Palästina zu lösen, kann jetzt als das gesehen werden, was er ist: eine tragische Verhöhnung des jüdischen Volkes.“ Dieses reaktionäre, chauvinistische Projekt hat die israelische Bevölkerung moralisch in ein Verbrechen von historischem Ausmaß verwickelt. Die Nachkommen der Opfer des Völkermords sind zu Tätern des Völkermords geworden. Die israelische Arbeiterklasse und Jugend muss sich von der reaktionären Ideologie und Politik des Zionismus befreien. Die Worte, die Trotzki vor 84 Jahren schrieb, sind heute von brennender Aktualität: „Nie war es so klar wie heute, dass die Rettung des jüdischen Volkes untrennbar mit dem Sturz des kapitalistischen Systems verbunden ist.“
Als wir uns letztes Jahr trafen, war der Stellvertreterkrieg der Nato in der Ukraine gegen Russland schon 18 Monate lang im Gange. Seither dauert der Krieg nicht nur ein weiteres Jahr an, er eskaliert inzwischen so weit, dass ein umfassender Atomkrieg droht. Die Vereinigten Staaten und die Nato haben deutlich gemacht, dass es keine „roten Linien“ gibt, die sie nicht zu überschreiten bereit sind. In den letzten drei Wochen ist die Ukraine – unter Einsatz von Waffen und anderen Ressourcen, die von den USA und der Nato bereitgestellt werden – in russisches Territorium eingedrungen. Seit 1944 haben imperialistische Streitkräfte Russland nicht mehr besetzt. An welchem Punkt, so muss man fragen, wird das Putin-Regime zu dem Schluss kommen, dass es keine andere Wahl hat, als nicht nur an der Ukraine, sondern auch an ihren Sponsoren in den USA und der Nato Vergeltung zu üben? Das wäre eine globale Katastrophe.
Der Völkermord im Gazastreifen und der Nato-Russland-Konflikt sind die aktuellen Brennpunkte eines globalen Konflikts, der das Überleben der Menschheit gefährdet. Der Ursprung dieses Konflikts liegt in der Unvereinbarkeit des bestehenden Nationalstaatensystems mit der Realität eines global vernetzten Weltwirtschaftssystems. Im Rahmen des Kapitalismus gibt es für diesen grundlegenden Widerspruch keine andere Lösung als Krieg. Die einzige gangbare Alternative zum Weltkrieg ist die sozialistische Weltrevolution.
Wenn, wie Professor Kelly behauptet, die Übel des Kapitalismus mit reformistischen Massagen und Fußbädern gelöst werden können, warum erleben wir dann das Wiederaufleben des Faschismus in der ganzen Welt? Melonis Fratelli d’Italia, Le Pens Rassemblement National, die AfD in Deutschland, Vox in Spanien und der Trumpismus in den Vereinigten Staaten sind Beispiele für diese Tendenz. Das Anwachsen dieser Organisationen und Bewegungen ist jedoch nicht auf eine Massenunterstützung für die Errichtung eines Nazi-ähnlichen Regimes zurückzuführen. Vielmehr profitieren die Faschisten von der Frustration, die sich aus der Gleichgültigkeit der traditionellen Parteien gegenüber den immer schlimmeren sozialen Verhältnissen ergibt. Die Faschisten, die von den Medien propagiert und von Teilen der milliardenschweren Oligarchen finanziert werden, lenken diese Frustration auf Angriffe gegen Einwanderer, die heute, wie die Juden in den 1930er und 1940er Jahren, als Sündenböcke für die Übel des Kapitalismus herhalten müssen.
In den USA, der Bastion des Kapitalismus und des Weltimperialismus, taumelt die amerikanische Demokratie unter der Last einer Krise, für die es im bestehenden politischen System keine fortschrittliche Lösung gibt. Der Putschversuch, den Präsident Trump am 6. Januar 2021 anführte, markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der amerikanischen Geschichte. Die Behauptung, „It can’t happen here“ („Hier kann sowas nicht passieren“ – Amerika könne niemals faschistisch werden) wurde durch die Ereignisse jenes Tages erschüttert. Der Organisator des Putschs entging nicht nur der Bestrafung. Er ist erneut der Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Partei. In der vergangenen Woche gab Präsident Biden in einem Moment der Klarheit die folgende Erklärung ab:
Donald Trump sagt, er werde sich weigern, das Wahlergebnis zu akzeptieren, wenn er wieder verliert. Denkt darüber nach. Er verspricht ein Blutbad, wenn er verliert, so seine Worte. Und er sagt selbst, dass er vom ersten Tag an ein Diktator sein wird. Übrigens, der Kerl meint es ernst. Nein, ich mache keine Witze… Wenn jemand anderes das in der Vergangenheit gesagt hätte, hätte man ihn für verrückt gehalten, man hätte gedacht, es sei übertrieben, aber er meint es ernst.
Diese Warnung hat der amtierende Präsident ausgesprochen. Biden erklärte ausdrücklich, dass die Vereinigten Staaten kurz davor stehen, ein Polizeistaat zu werden. Nicht weniger bemerkenswert als die Aussage selbst war erstens, dass Biden nicht erklärte, was er tun werde, um die Demokratie zu verteidigen, falls Trump einen weiteren Putschversuch unternimmt, und zweitens, dass die Medien Bidens Warnung kaum zur Kenntnis nahmen. Das Schweigen drückte die Gleichgültigkeit der amerikanischen herrschenden Klasse gegenüber der Bewahrung der Demokratie aus. Tatsächlich gibt es unter den herrschenden Oligarchen – in den Vereinigten Staaten, aber nicht nur dort, sondern auf der ganzen Welt – zunehmend einen Konsens darüber, dass ihre Interessen im In- und Ausland mit der Demokratie unvereinbar sind. Die herrschenden Eliten sind sich voll und ganz bewusst, dass das schwindelerregende Ausmaß der sozialen Ungleichheit die Wut in der Bevölkerung anfacht, und dass die Angriffe auf die Lebensbedingungen, die der imperialistische Militarismus verlangt, zu einer enormen Eskalation des Klassenkonflikts führen werden. Die Hinwendung der herrschenden Klasse zum Faschismus ist ein Versuch, der politischen Radikalisierung der Arbeiterklasse und ihrer Hinwendung zum Sozialismus zuvorzukommen und sie mit Gewalt zu unterdrücken.
Die Theorie der permanenten Revolution besagt, dass in der imperialistischen Epoche der Kampf für die Demokratie und die Verteidigung grundlegender demokratischer Rechte untrennbar mit dem Kampf für den Sozialismus verbunden sind. Die Niederlage des Faschismus erfordert die Errichtung der Arbeitermacht und den Sturz des Kapitalismus durch die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Es kann keinen Sozialismus ohne Demokratie geben, und gleichzeitig ist es ohne Sozialismus unmöglich, die Demokratie zu bewahren.
Schließlich beendet Professor Kelly sein Buch The Twilight of World Trotskyism mit der folgenden Anklage: „Nach mehr als achtzig Jahren trotzkistischer Aktivität ohne Revolutionen, Massenparteien oder Wahlsiege ... ist die trotzkistische Bewegung für Sozialisten zu einer Sackgasse geworden.“ Von allen Kritikpunkten, die gegen die Vierte Internationale erhoben werden, ist dies der dümmste und vulgärste.
Die Kritik löst den revolutionären Prozess aus jedem objektiven historischen und politischen Zusammenhang und impliziert, dass die trotzkistische Bewegung in einem politischen Vakuum agiert habe. Sie habe es weder mit ungünstigen objektiven Bedingungen noch mit Klassenfeinden, die über enorme Ressourcen verfügten, zu tun gehabt.
Kelly erwähnt nicht die Kräfte, die der kapitalistische Staat und seine Agenten in der Arbeiterbewegung gegen den Einfluss der trotzkistischen Bewegung einsetzen: Gewerkschaftsbürokraten, sozialdemokratische Reformisten, Stalinisten, Anarchisten, bürgerliche Nationalisten. Um es unverblümt zu sagen: Kelly selbst ist mit seinen reformistischen Banalitäten und seinem Zynismus eins dieser Instrumente, die die Kapitalistenklasse einsetzt, um das Wachstum der revolutionären Politik unter den Arbeitern zu untergraben.
Der Prüfstein für eine revolutionäre Partei ist nicht, ob sie in der Lage ist, jederzeit und ungeachtet der objektiven Bedingungen eine erfolgreiche Revolution zu führen. Das entscheidende Kriterium ist vielmehr, ob die Partei für eine Politik kämpft, die auf einer korrekten Analyse der objektiven Lage beruht und den Interessen der Arbeiterklasse entspricht.
Seit der Trotzkismus 1923 erstmals als eigenständige politische Strömung in Opposition zur bürokratischen Degeneration der bolschewistischen Partei und des Sowjetstaats auftrat, hat er immense politische Erfahrungen gesammelt. Er war gezwungen, „gegen den Strom“ zu arbeiten – unter ungünstigen Bedingungen, in denen die Arbeiterklasse von stalinistischen und sozialdemokratischen Massenparteien geführt und irregeleitet wurde. Aber die Geschichte hat die Richtigkeit der Perspektive und des Programms der Vierten Internationale bestätigt.
Im Jahr 1938 sagte Trotzki in einer Rede anlässlich der Gründung der Vierten Internationale voraus, dass die historischen Ereignisse bei den konterrevolutionären Agenturen „nicht einen Stein auf dem anderen“ lassen würden. Das hat sich bewahrheitet.
Die stalinistischen Massenparteien des „real existierenden Sozialismus“ sind zerschlagen und diskreditiert. Die Sowjetbürokratie hat die UdSSR aufgelöst. Die sozialdemokratischen Parteien, die sich von den traditionellen bürgerlichen Parteien nicht mehr unterscheiden, vertreten kein Programm mehr für die Reform des Kapitalismus, geschweige denn für die Errichtung des Sozialismus. Eine Organisation nach der anderen, die behauptet hatte, einen neuen Weg gefunden zu haben – wie Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland oder die „rosa Flut“ in Lateinamerika – wird durch die Ereignisse diskreditiert. Einer nach dem anderen werden die Verfechter eines „dritten Weges“ zu Frieden und Wohlstand, der weder Klassenkampf noch soziale Revolution erfordert, entweder als ohnmächtige Betrüger entlarvt, wie Corbyn, oder als finstere politische Kriminelle, wie der ehemalige britische Premierminister Tony Blair.
Die Vierte Internationale ist eine Partei der Geschichte. Sie wurde gegründet, um in der Epoche des Todeskampfs des Kapitalismus die wesentliche Aufgabe zu Ende zu führen: die Beseitigung der kapitalistischen Unterdrückung durch die sozialistische Weltrevolution. Es stimmt, dass sich der Kampf für den Sozialismus als komplizierter und langwieriger erwiesen hat, als von Marx und Engels ursprünglich vorausgesehen. Aber die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung, die die materialistische Geschichtsauffassung aufgedeckt hat, und die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, die im Kapital analysiert wurden, sind nicht überwunden. Die Epoche der sozialistischen Weltrevolution, die im Oktober 1917 begann, ist noch nicht zu Ende.
Objektive Ereignisse treiben die internationale Arbeiterklasse – nach wie vor die zentrale revolutionäre Kraft in der Gesellschaft – zu einem immer bewussteren Kampf gegen den Kapitalismus und damit zum Trotzkismus, dem Marxismus des 21. Jahrhunderts.