„Einer allein reicht nicht. Streik muss in mehreren Werken passieren.“

VW-Arbeiter in Wolfsburg fürchten um ihre Arbeitsplätze

Am Montag sprach ein Team der World Socialist Web Site und der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) mit Arbeitern beim größten Werk des Volkswagen-Konzerns in Wolfsburg. Sie verteilten das Flugblatt „Verteidigt alle Arbeitsplätze bei VW! Baut Aktionskomitees auf!“, in dem zur Teilnahme an einem Online-Treffen am heutigen Mittwoch, den 18. September, um 19:00 Uhr aufgerufen wird. Rund 1400 Autoarbeiter, die beim Schichtwechsel aus dem Werk strömten oder zur Arbeit kamen, nahmen das Flugblatt mit, einige gleich mehrere für ihre Kollegen.

WSWS-Reporter verteilen Flugblätter an VW-Arbeiter in Wolfsburg

Die Beschäftigten sind von heftigen Lohnkürzungen, Massenentlassungen und Werksschließungen bedroht, mit weitreichenden Konsequenzen für die gesamte Arbeiterklasse in Deutschland. Oder wie sich ein VW-Arbeiter ausdrückte: „Wenn die Autoindustrie den Bach runtergeht, wird alles in Deutschland den Bach runtergehen.“

Thorsten, ein 55-jähriger Arbeiter in der Produktion, der eigentlich anders heißt und anonym bleiben will, schildert die Stimmung im Werk:

Die Unsicherheit ist groß. VW will ja auch, dass wir mehr arbeiten für weniger Geld. Sie wollen uns den Bonus streichen, dann wollen sie 10 Prozent vom Entgelt kürzen, nur Weihnachts- und Urlaubsgeld soll bleiben. Aber im Juni haben sie den Aktionären noch 4,5 Milliarden Euro in die Tasche geschoben. Dann haben sie noch Anfang September eine Luxusparty für die Vorstände in Schweden gefeiert. Kein Wunder, dass sich die Wut hier im Betrieb steigert.

Die Ankündigung der VW-Leitung, den Tarifvertrag aufzukündigen, sei überraschend gekommen: „Dass VW hier innerhalb von ein paar Tagen Nägel mit Köpfen macht, damit hatte keiner gerechnet. Das war ein Schock.“

Thorsten beschreibt, wie die Angriffe bereits begonnen haben: „Die ersten Leiharbeiter hat es letzte Woche ja schon getroffen – von jetzt auf gleich haben sie ihre Kündigung bekommen, in meiner Abteilung vier Mann. Sie waren am Donnerstag noch in der Nachtschicht, sind danach zum Schlafen nach Hause gegangen und am Freitag um 15 Uhr haben sie die E-Mail von [Personaldienstleister] Autovision bekommen mit der Nachricht ‚Volkswagen hat Ihren Einsatz beendet‘. Sie durften am Freitag nicht mehr das Werksgelände betreten und die Arbeit nicht mehr aufnehmen. Leiharbeiter sind ja immer die ersten, die dran glauben müssen.“

Wenn das Werk tatsächlich schließen sollte, hätte es Thorsten mit Mitte 50 schwer, eine neue Stelle zu finden. Er hege noch gewisse Hoffnungen, dass die IG Metall etwas „Vernünftiges“ aushandeln würde, aber im Betrieb schwinde das Vertrauen: „Der Unmut steigt – auch mit der Gewerkschaft. Ein Kollege sprach schon davon, auszutreten.“ Die IGM habe dazu aufgerufen, am 25. September zu den Verhandlungen nach Hannover zu reisen, um zu protestieren. „Aber wir müssen uns dafür Urlaub nehmen, die Gewerkschaft zahlt nicht dafür.“ Trotzdem würden viele Kollegen dorthin fahren und streiken wollen.

Fast alle Beschäftigten am Werktor Nord kritisierten gegenüber der WSWS die Rolle der Gewerkschaft und des Betriebsrats. Ein 61-jähriger Arbeiter klagte, dass die Lage im Werk in den letzten Jahren immer schlechter geworden sei: „Und die Gewerkschaft ist mitverantwortlich. Das weiß jeder. Sie ist die Schlange im Korb. Das hat mit Volkert angefangen, dann Osterloh...“

Klaus Volkert, 1990 bis 2005 Vorsitzender des VW-Gesamtbetriebsrats und Aufsichtsratsmitglied, wurde wegen seiner kriminellen Machenschaften und Beteiligung an der VW-Korruptionsaffäre verurteilt und landete im Gefängnis. Sein Nachfolger Bernd Osterloh (Vorgänger der jetzigen Betriebsratschefin Daniela Cavallo) ließ sich so hohe Gehälter zahlen, dass sogar die Justiz Ermittlungen gegen ihn aufnahm.

Die Gewerkschaft hat aufs Engste mit der Konzernleitung kollaboriert, um die Ausbeutung bei VW durch Leih- und Zeitarbeiter zu erhöhen. Eine Mitarbeiterin in der Gastronomie von Volkswagen Group Services, einem 100-prozentigen Tochterunternehmen von VW, sagte gegenüber der WSWS: „Bei uns ist alles noch viel schlimmer. Weißt Du, wie lange man darüber reden kann? Es sind die ganzen Arbeitsbedingungen…“

Empört verwies sie auf die krassen sozialen Gegensätze im Konzern: „Schau mal, was der [Vorstandschef Oliver] Blume am Tag verdient! Darüber brauchen wir gar nicht diskutieren. Aber die Leute werden entlassen! Dafür arbeiten wir dann nochmal einen Tacken mehr.“

VW ist Spitzenreiter, wenn es um die Bereicherung der Konzernchefs auf dem Rücken der Arbeiter geht. Wie die Wolfsburger Allgemeine Zeitung berichtet, verdiente ein VW-Vorstandsmitglied 2023 im Schnitt 85-mal so viel wie ein VW-Arbeiter. Damit ist die Ungleichheit zwischen Management und Beschäftigten bei Volkswagen am höchsten im Vergleich aller 30 Dax-Konzerne.

Oliver Blume hat im vergangenen Jahr als erster Chef eines Dax-Konzerns über 10 Millionen Euro verdient. Im Ranking folgen nach ihm die Manager von Adidas, Deutsche Bank, SAP, Siemens und den Konkurrenten Mercedes und BMW, wie eine Studie der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) im Juli aufgezeigt hat.

Auch die anderen neun VW-Vorstandsmitglieder haben laut dem Geschäftsbericht 2023 üppige Gehälter von meist über 4 Millionen eingestrichen, darunter Personalchef Gunnar Kilian (6,2 Millionen), der früher den Betriebsrat leitete und sich dafür fürstlich bezahlen ließ, und Ralf Brandstätter, CEO der Volkswagen (China) Investment Company (4,8 Millionen). In der Summe wanderten im Jahr 2023 mehr als 40 Millionen Euro auf die Konten des Vorstands.

Eine 58-jährige Arbeiterin aus der Montage zeigte sich im Gespräch mit der WSWS angewidert davon, wie die Manager im Reichtum schwelgen: „Das Management sieht überhaupt nicht, was sie hier anrichten. Erst kündigen sie an, dass sie hier alles platt machen wollen, dann fahren sie nach Schweden und feiern Party im Luxushotel und erzählen das noch allen... Die merken gar nichts mehr, die kennen keine Grenzen mehr, haben keine Moral, keinen Anstand, gar nichts!“

In ihrer Abteilung würden viele junge Menschen arbeiten, die jetzt um ihre Zukunft bangen. „Wir haben fast alle als Zeitarbeiter angefangen und wir waren drei Jahre lang Zeitarbeiter. Sie haben immer Schiss gehabt, dass sie die Arbeitsplätze verlieren, wenn sie zu lange krank sind oder den Mund aufmachen. Ich bin eine andere Generation, komme aus Dresden und habe meinen Mund immer aufgemacht… Und das hat mir dann auch immer wieder mal neue Arbeitsplätze ‚beschert‘.“ Ihre jüngeren Kollegen müssten jetzt oft sehr hohe Kredite für ihre Wohnungen oder Autos abbezahlen. „Für die jungen Leute kommen harte Zeiten. So ist der Kapitalismus.“

In den Gesprächen brachten Beschäftigte ihre Ablehnung der Kriegspolitik gegen Russland und China zum Ausdruck, die von der Ampelregierung aus SPD, FDP und Grünen vorangetrieben wird. Ein Arbeiter, der schon seit 2009 bei VW ist, antwortete auf die Frage, ob er die Gefahr einer atomaren Eskalation des Stellvertreterkriegs in der Ukraine befürchtet:

„Ja, definitiv. Putin hat ja auch Macht. Jahrzehntelang haben Deutschland und Russland zusammengearbeitet und jetzt? Das Gas kommt jetzt über mehrere Ecken zu uns und ist viel teurer.“ Zur Rolle der SPD, die als Landesregierung im Aufsichtsrat von VW sitzt und die Sparpläne kennt, sagte er: „Die SPD und [Bundeskanzler] Scholz unterstützen uns nicht. Den Krieg in der Ukraine unterstützt er, uns aber nicht.“

Die sozialen Folgen der Kriegsentwicklung spüre er selbst: „Es ist alles teurer geworden. Du gehst arbeiten, bezahlst dein Auto, die Wohnung und dann sollst du noch irgendwie leben. Es geht gar nicht. Jetzt sind auch die Preise wieder gestiegen – angeblich wegen Putin, aber das macht keinen Sinn.“ Als die WSWS-Reporter erläuterten, dass die Regierung die Kosten für Aufrüstung und Krieg direkt auf die Bevölkerung abwälzt und die Sozialausgaben senkt, erwiderte er: „Ja, wir hätten stattdessen die Schulen und Kindergärten unterstützen müssen, aber das machen sie ja nicht.“

Die Arbeiter am Werkstor, die selbst aus verschiedenen Ländern kommen, reagierten besonders positiv auf die internationale Ausrichtung der Aktionskomitees, die für eine Vereinigung der Kolleginnen und Kollegen weltweit in der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) kämpfen.

Einige Zurufe der Arbeiter, die das Flugblatt nahmen, waren: „Streik!“ oder „Das ist politisch so gewollt.“ Einer kommentierte die enormen Folgen für die ganze Region: „Wenn das Werk hier nicht mehr ist, dann kann man Niedersachsen zusammenpflügen.“

VW-Arbeiter vor dem Werkstor

Und tatsächlich wäre nicht nur Niedersachsen, sondern auch das benachbarte Bundesland Sachsen-Anhalt stark betroffen. Wie die Mitteldeutsche Zeitung schreibt, pendeln laut Arbeitsagentur aktuell 4900 Autoarbeiter aus Sachsen-Anhalt nach Niedersachsen, Tausende von ihnen zum VW-Stammwerk. Nach dem Ende der DDR hatte VW gezielt ostdeutsche Arbeiter angeworben.

Viele Beschäftigte machten gegenüber der WSWS deutlich, dass sie die Lage bei VW nicht isoliert von der globalen Krise in der Wirtschaft betrachten. Deshalb befürworteten sie es, sich über die Standorte und Unternehmen hinweg zusammenzuschließen. „Einer allein reicht nicht. Streik muss in mehreren Werken passieren. Das Management verdient immer mehr. Aber ohne die Arbeiter kann die Kohle nicht verdient werden“, kommentierte ein Arbeiter.

Gleichzeitig äußerten einige Arbeiter, mit denen die WSWS sprach, noch eine abwartende Haltung. Man müsse erstmal sehen, was passiert. Doch genau diese Zurückhaltung ist gefährlich. Das Triumvirat aus Konzernleitung, Gewerkschaft, Betriebsrat und SPD will vor allem eins: die Arbeiter ruhig halten, um hinter ihrem Rücken die Sparpläne und Entlassungen durchzusetzen, die längst in den Schubladen liegen.

In dem Aufruf der WSWS heißt es:

Alle Arbeitsplätze an allen Standorten müssen prinzipiell verteidigt werden. Es dürfen keine Zugeständnisse bei Löhnen, Sozialleistungen und anderen Arbeiterrechten gemacht werden. Das sozialistische Prinzip, wonach die Rechte der Arbeiter höher stehen, als die Profitansprüche der Oligarchen und Milliardäre, muss Ausgangspunkt des Widerstands sein.

Der angekündigte Kahlschlag bei VW ist „eine Kampfansage an alle Arbeiter und leitet ein neues Stadium des Klassenkampfs ein“. Dagegen können sich die VW-Arbeiter nur wehren, wenn sie selbst den Kampf aufnehmen. Doch für diese Gegenoffensive brauchen sie neue Kampforganisationen, die sie selbst kontrollieren und die unabhängig von den Gewerkschaften und international vernetzt sind. Deshalb rufen wir alle Arbeiterinnen und Arbeiter bei VW und in anderen Autowerken und Zulieferern auf: Kommt heute, am 18. September um 19:00 Uhr, zu unserem Online-Treffen und macht mit beim Aufbau eines Aktionskomitees bei VW!

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