Der polnische Regierungschef Donald Tusk hat am 1. Januar turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Diese halbjährlich wechselnde Rolle sieht vor allem die organisatorische Vorbereitung der Ratssitzungen vor. Dadurch kommt dem Ratspräsidenten aber auch die Möglichkeit zu, gewisse Themenschwerpunkte festzulegen.
Tusk hat bei seinem Antritt klar gemacht, was für ihn zentral ist: Die EU muss kriegsbereit sein. Unter dem Motto „Sicherheit, Europa!“ stellte er in Warschau eine militaristische und autoritäre Agenda vor. Damit meinte er nicht nur die Staatsaufrüstung nach Innen und Außen, sondern sämtliche Bereiche der Gesellschaft, die er mit den Schlagwörtern „Information, Wirtschaft, Energie, Ernährung und Gesundheit“ verband.
Mit anderen Worten, alle Bereiche der Gesellschaft müssen angesichts der „dramatischen Situation“, in der sich Europa befinde, den Erfordernissen eines Krieges angepasst werden. „Wenn Europa machtlos ist, wird es nicht überleben“, so Tusk.
Wie weit seine Überlegungen dabei gehen, machte er mit folgendem Satz deutlich: „Die Quellen von Europas Großartigkeit – Freiheit, ein Gefühl der Souveränität und unsere Kultur – sind alle die Mühe wert. Manche sagen, dass sie sogar das höchste Opfer wert sind.“
Angesichts der zahlreichen Verbrechen der europäischen Großmächte, vom Kolonialismus bis hin zum Holocaust, einen paneuropäischen Mythos von „Großartigkeit“ zu beschwören, ist bereits abstoßend genug. Doch sehr viel verstörender ist die Frage: Was ist für Tusk das „höchste Opfer“?
Der erneute Tod von Millionen Soldaten auf den Schlachtfeldern und weiteren Abermillionen Zivilisten, wie in den vergangenen Weltkriegen? Ein systematischer Massenmord an Zivilisten, wie im Gazastreifen? Die Vernichtung sämtlicher europäischer Großstädte bei einem atomaren Schlagabtausch? Oder gar die Vernichtung der gesamten Menschheit infolge eines nuklearen Winters?
Wenn Tusk diese Fragen aufwirft, dann tut er das nicht als Individuum, auch nicht nur als polnischer Regierungschef, sondern als Stimme des europäischen Imperialismus. Als langjähriger EU-Ratspräsident ist er bestens vernetzt in der EU. Seine Worte zeigen, wie weit die Debatten in den Kreisen der europäischen Eliten bereits gehen. Die Nato- Staaten eskalieren den Stellvertreterkrieg in der Ukraine immer weiter, und spätestens seit den Erklärungen von Präsident Macron im letzten Jahr ist auch klar, dass intensiv über die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine debattiert wird.
Tusks Agenda ist zugleich auch eine Reaktion auf die bevorstehende Rückkehr von Donald Trump in Weiße Haus. Bereits während seiner ersten Präsidentschaft hatte dieser den Handelskrieg auch gegen seine europäischen Nato-Verbündeten verschärft. Nun hat er bereits vor seinem Amtsantritt klar gemacht, dass es dabei nicht bleiben wird. Mit seinem Griff nach dem unter dänischer Oberherrschaft stehenden Grönland hat er seine Bereitschaft gezeigt, auch gegen andere Nato-Staaten militärische Tatsachen zu schaffen.
Für die polnischen Eliten, egal ob im PiS- oder Tusk-Lager, ist das historische Bündnis mit dem US-Imperialismus eine feste Größe. So hat Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz die Forderung von Trump nach einer Erhöhung der Militärausgaben auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts prompt unterstützt und sich als „transatlantisches Bindeglied“ angeboten.
Doch Polens wirtschaftliche Verflechtungen mit Europa sind sehr viel umfangreicher als mit den USA. So gehen rund 30 Prozent des polnischen Außenhandels nach Deutschland, gefolgt von Tschechien und Frankreich (jeweils rund 6 Prozent), während die USA gerade Mal auf einen Anteil von etwa 3 Prozent kommen. Dieser Widerspruch wird sich in der neuen Trump-Ära unweigerlich verschärfen.
Tusk, der deutlich jene Fraktion in Polen vertritt, die für eine Zusammenarbeit mit Berlin, Brüssel und Paris eintritt, hat daher wiederholt die Notwendigkeit der europäischen Einheit beschworen.
So schloss sich Polen unter Tusk im letzten Jahr dem 2022 vom deutschen Bundeskanzler Scholz initiierten Europäischen Luftverteidigungssystem (European Sky Shield Initiative) an. Zugleich kritisierte Tusk im Mai gemeinsam mit dem griechischen Premierminister Kyriakos Mitsotakis den Mangel eines einheitlichen europäischen Luftabwehrschildes. Denn bisher beteiligen sich weder Frankreich noch Italien oder Spanien an dem europäischen System.
Ein deutlicher diplomatischer Affront war dann die Nicht-Einladung Polens zum Kriegsgipfel von Scholz und US-Präsident Joe Biden im Oktober in Berlin, zu dem zwar der britische Premierminister Keir Starmer und der französische Präsident Emmanuel Macron, nicht aber Tusk geladen waren. Der Warschauer Korrespondent der Deutschen Welle mahnte daher, Polen habe sich „enttäuscht über Deutschland“ auf den skandinavisch-baltischen Länderblock umorientiert.
In einem pseudo-geschichtsphilosophischen Exkurs salbaderte Tusk in seiner Rede auch, dass „Stärke und Einigkeit Weisheit hervorbringen, selbst im Angesicht von Leid“. Dabei ließ er keinen Zweifel daran, dass er selbst für mehr Leid sorgen will. Den Krieg gegen Flüchtlinge – oder den „Schutz von Menschen und Grenzen“, wie er es zynisch nannte – will er weiter eskalieren.
Tusk der oft als liberale Alternative zur rechtsextremen PiS oder der ungarischen Orbán-Regierung präsentiert wird, setzt deren Angriffe auf Flüchtlinge nicht nur nahtlos fort, sondern verschärft sie.
Am 18. Dezember verabschiedete die polnische Regierung mit Segen der EU ein Gesetzespaket, das das Asylrecht in Polen de facto abschafft. Allein durch eine Verordnung des Ministerrats kann in festgelegten Gebieten für 60 Tage das Recht auf Asyl ausgesetzt werden. Die PiS hatte bereits in ähnlicher Weise agiert, jedoch dafür den Ausnahmezustand ausgerufen und damit auch die Rechte von Journalisten und Flüchtlingshelfern beseitigt. Unter Tusk wird die Ausnahme jetzt juristisch zur Regel.
Das Gesetz enthält zwar auch ein paar Lippenbekenntnisse bezüglich besonders gefährdeter Personen, aber da auch schon vorher schwangere Frauen Opfer illegaler Push Backs wurden, sind diese nicht das Papier wert, auf dem sie stehen.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Außerdem kann nun auch bereits gewährter Asylschutz wieder aberkannt werden, sofern die Betroffenen wegen schweren Straftaten verurteilt wurden oder eine „Gefahr für die Sicherheit des Staates darstellen“.
Letzteres richtet sich insbesondere auch gegen die Millionen Ukrainer, die nach Polen geflohen sind. Wurde diesen anfangs noch vergleichsweise umfangreich und unbürokratisch geholfen, sind mittlerweile nahezu alle staatlichen Hilfen eingestellt. Stattdessen nimmt die Hetze gegen sie zu, von offen faschistischen Gruppen, die vor der „Ukrainisierung Polens“ warnen, bis hin zu Verteidigungsminister Kosiniak-Kamysz, der sie als Drückeberger denunziert. Kosiniak-Kamysz hat seine Bereitschaft erklärt, bei der Erfassung ukrainischer Wehrpflichtiger mit Kiew zusammenzuarbeiten.
Angesichts wiederkehrender Verbrechen polnischer Soldaten an der Grenze hat Kosiniak-Kamysz eine eigene Sondereinheit gegründet, die darauf spezialisiert ist, den Soldaten juristischen Beistand zu geben. Zuvor hatte er die Verhaftung von Soldaten, die im Frühjahr 2024 Warnschüsse auf Flüchtlinge abgefeuert hatten, als „inakzeptabel“ bezeichnet.
Die regelmäßigen Berichte über Gewalt gegen Flüchtlinge, betrunkene Soldaten oder andere Vergehen setzten sich im neuen Jahr nahtlos fort. Am Neujahrstag schoss ein betrunkener Grenzsoldat nahe der Grenzstadt Mielnik auf ein ziviles Auto.
Das orwellsche Narrativ von flüchtenden Menschen, die eine Gefahr darstellen, zieht sich als roter Faden durch die gesamte extrem rechte Agenda. Mit dem „hybriden Krieg“, den Russland und Belarus angeblich führen, indem sie asylsuchende Flüchtlinge „instrumentalisieren“, hatte die polnische Regierung bereits im Mai 2024 das milliardenschwere „East Shield“-Projekt gerechtfertigt.
Die Tusk-Regierung gibt sich nicht mit dem 100 Kilometer langen, rund fünf Meter hohen Zaun zufrieden, den die vorangegangene PiS-Regierung errichtet hatte. Sie will den bisherigen Todesstreifen, der optisch mit den einstigen Grenzanlagen des „Eisernen Vorhangs“ vergleichbar ist, um umfangreiche militärische Stellungen erweitern. Dass diese Anlagen einem Krieg mit Russland dienen, liegt auf der Hand, Warschau hat daher seine europäischen Verbündeten aufgefordert, sich an den Kosten zu beteiligen.
Polen steht damit nicht allein da. Auch in Finnland, Spanien oder Griechenland wird die EU-Außengrenze militärisch bewacht. Die Angriffe auf Flüchtlinge sind dabei nur die Spitze eines allgemeinen Angriffs auf demokratische Rechte. Das zeigen allein schon die Angriffe auf Journalisten und Flüchtlingshelfer im Grenzgebiet. Zugleich wird unter den Grenzbeamten die enthemmte Gesinnung einer faschistoiden Soldateska herangezüchtet.
Die sozialen und innereuropäischen Spannungen werden auch unter Tusk unweigerlich zunehmen. Die Politik von Trump wird dabei als Katalysator dienen. Die Europäische Kommission diskutiert Pläne, zusätzlich zu den steigenden nationalen Ausgaben in den nächsten zehn Jahren rund 500 Milliarden Euro für die Rüstung aufzubringen.
Dieses Geld muss unweigerlich aus der europäischen Arbeiterklasse herausgepresst werden. Sozialkürzungen, Stellenabbau und Lohnsenkungen werden den Klassenkampf explosiv verschärfen. Die Herrschenden werden nicht zögern, die Soldateska auch auf die eigene Arbeiterklasse zu hetzen. Einig sind sie sich nur darin, sich einen möglichst großen Anteil an der imperialistischen Neuaufteilung der Welt zu sichern und ihre Privilegien mit Gewalt gegen die Arbeiterklasse zu verteidigen.