In den landesweiten „Bloquons tout“-Protesten äußert sich die Wut der französischen Bevölkerung

Nachdem die französische Regierung am Montag gestürzt war, beteiligten sich am Mittwoch Hunderttausende an den landesweiten Protesten der Bewegung „Bloquons tout“ („Blockieren wir alles“) gegen die Haushaltskrise. Laut Schätzungen der Polizei nahmen 175.000 Menschen an 550 politischen Veranstaltungen und 262 Blockaden der Infrastruktur im ganzen Land teil. Allein in Paris beteiligten sich Zehntausende an mehreren separaten Protestveranstaltungen. In Toulouse und Rennes waren es laut Polizeiangaben jeweils 10.000 und weitere 8.000 in Marseille und 6.000 in Montpellier.

Es kam zu Zusammenstößen, als 80.000 von Präsident Emmanuel Macron mobilisierte Polizisten auf Demonstranten losgingen und 540 Personen verhafteten, davon 211 in Paris. Drohnen flogen über den Protestveranstaltungen in Paris und Bordeaux sowie den Regionen Morbihan und Orne in der Bretagne. 30 Schüler wurden verhaftet, als die Polizei gegen eine friedliche Blockade der Héléne-Boucher-Schule in Paris vorging.

Loading Tweet ...
Tweet not loading? See it directly on Twitter

In den Protestaktionen äußerte sich die Wut über Macrons Forderungen nach Sozialkürzungen, um die Aufrüstung und die Tilgung von Frankreichs immensen Staatsschulden zu finanzieren, sowie über die Ernennung von Verteidigungsminister Sébastien Lecornu zum Premierminister. Dessen Vorgänger François Bayrou war am Montag mit einem Misstrauensvotum gescheitert. In den letzten zwei Jahren sind vier französische Regierungen gestürzt. Doch obwohl eine überwältigende Mehrheit der französischen Bevölkerung Macrons Sozialkürzungen und seine Forderungen nach der Entsendung von Truppen in die Ukraine ablehnt, hat er zum fünften Mal einen unpopulären rechten Premierminister ernannt.

In den Protesten kam auch die zunehmende Desillusionierung und Wut über die Organisationen zum Vorschein, die von den kapitalistischen Medien als „links“ dargestellt werden, darunter Jean-Luc Mélenchons populistische Partei Unbeugsames Frankreich (LFI) und die stalinistische Gewerkschaft Confédération générale du travail (CGT). Ihre Rolle bei der Unterdrückung von Streiks gegen Macrons Rentenkürzungen von 2023, die mittlerweile von 91 Prozent der Bevölkerung abgelehnt werden, ist allgemein erkannt. Die Arbeiter brauchen neue Kampforganisationen, die völlig außerhalb der Strukturen des offiziellen Politikbetriebs handeln und sich auf eine internationale, sozialistische und revolutionäre Perspektive stützen.

Die Forderung auf dem Plakat lautet: „Besteuert die Reichen“

Reporter der WSWS sprachen bei den „Bloquons tout“-Protesten in Paris mit Teilnehmern. Der Musikschüler Alexandre erklärte: „Wir haben seit langem das Gefühl, dass niemand auf uns hört. Dass schon wieder ein Premierminister aus Macrons Partei ernannt wurde, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. ... Wir leben in einem angespannten politischen Klima, unsere wirklich grundlegenden Rechte werden ständig in Frage gestellt. Es ist gleichgültig, wen wir wählen, die Entscheidungen werden woanders gefällt.“

Er fügte hinzu: „Ich meine, wir hatten eine große Mehrheit gegen die Rentenkürzungen. Man hat dabei überhaupt nicht auf uns gehört. Dann reden sie davon, das Geburtsortprinzip [das Recht in Frankreich geborener Kinder auf die französische Staatsbürgerschaft] abzuschaffen, als wäre das etwas ganz normales. Dann versuchen sie, uns mit anderen Themen abzulenken, damit wir unsere Aufmerksamkeit auf [muslimische Kleidung wie] die Abaya richten.“

Alexandre betonte, dass er über die Berichterstattung zu Gaza empört ist: „Das ist ein Völkermord. Einer meiner Freunde ist aus dem Gazastreifen. Es ist so schwer. Seine Angehörigen durchleben Dinge, die schwer vorstellbar sind. Dann erzählt man uns, dass die Probleme der Leute in Israel, denen es noch relativ gut geht, auf einem Level sind mit denen der Menschen im Gazastreifen, die Schreckliches durchmachen.“

Luc und Boris, zwei Techniker aus einer Werkstatt der Pariser Verkehrsbetriebe, hoben den zunehmenden finanziellen Druck auf Arbeiter hervor und erklärten, dass sie von der LFI enttäuscht seien. Luc erklärte: „Wir versuchen jeden Monat, nicht zu weit in die roten Zahlen zu kommen. Es ist unglaublich. Wir sind das Land mit den höchsten Steuern weltweit. Das würde mich nicht stören, wenn die öffentlichen Dienstleistungen tatsächlich funktionieren würden. Doch die Freunde der Regierung sitzen an der [Pariser Börse] CAC-40.“

Boris und Luc, die bei den Pariser Verkehrsbetrieben arbeiten, bei einer „Bloquons tout“-Veranstaltung in Paris

Boris erklärte, das Leben in Frankreich ließe sich mit den Worten des britischen linken Schriftstellers George Orwell zusammenfassen: „Wenn dein Gehalt nur zum Essen und Schlafen reicht, ist das keine Arbeit. Früher nannte man das Sklaverei.“ Er betonte, er sei desillusioniert darüber, dass der Kampf gegen die Rentenkürzung 2023 verraten wurde.

„Mélenchon ist ein Dinosaurier“, sagte Boris. „Er versucht, sich eine Position zu sichern. Und er hat eine bekommen, aber er ist ein Wendehals, genau wie die Gewerkschaften. Sobald sie haben, was sie wollen, ist es für sie vorbei. Wenn du mich fragst, sind sie alle gleich. Sie verteidigen ihr kleines Stück vom Kuchen und sind bereit, alles aufzugeben, um ein bisschen mehr zu bekommen.“

Die WSWS sprach auch mit einer Gruppe von Literaturstudentinnen und -studenten, darunter Emma und Eva, die erklärten: „In der Parlamentswahl im Juni 2024 hat LFI viele Stimmen bekommen, aber wir haben wieder einen rechten Premierminister bekommen, der unseren Erwartungen oder politischen Forderungen überhaupt nicht entspricht. Wir haben das Gefühl, niemand hört uns zu.“ Emma fügte hinzu: „Es gibt Parteien, die ich eher unterstütze, aber keine, der ich in allem zustimme.“

Literaturstudenten bei einer „Bloquons tout“-Protestveranstaltung mit einem Schild, auf dem steht: „Wir wollen Arbeiter, Pflegekräfte und Lehrer in der Regierung. Schluss mit der Illusion von Demokratie“

Sie erklärten zu ihrem selbst gefertigten Schild: „Es ist ganz einfach: die Leute in der Regierung kommen aus den gesellschaftlichen Eliten, das übrige Frankreich wird nicht repräsentiert. Der französischen Bevölkerung wird nicht genug Macht gegeben. Es sind immer die gleichen Leute, die für uns entscheiden. Wir wollen eine Regierung, die repräsentiert, was Frankreich heute ist.“

Bastien, ein Schauspielschüler, erklärte zu der französischen Haushaltskrise: „Wir nähern uns dem Ende des Kapitalismus’ und der Politik des freien Marktes, wie sie über viele Jahre funktioniert haben. Der Beweis dafür ist das, was in der Wirtschaft passiert, neben dem ganzen Wahnsinn, der sich darüber abspielt.“

Er erklärte, warum er einen Generalstreik will: „Die Arbeiter sind viel mehr wert als die Milliardäre, die nichts tun, außer in ihren Stühlen zu sitzen. Arbeiter sind die wirkliche Essenz der Bevölkerung; sie sind es, die das Land wirklich am Laufen halten. Wenn wir streiken, wird also das Land lahmgelegt. Und eintägige Streiks reichen nicht aus. Wir brauchen wirklich einen Streik, der es uns ermöglicht, das Land lahmzulegen und dann wirklich Dinge zu ändern.“

Demonstranten bei der „Bloquons tout“-Protestveranstaltung in Paris mit einem Schild, auf dem steht „Krieg dem Krieg“

Bastien erklärte, die größten Probleme seien Organisation und Perspektive. Er verwies auf Philippe Martinez, den Generalsekretär der CGT-Bürokratie während des Kampfs gegen die Rentenkürzung 2023:

„Das Problem ist, dass die Gewerkschaften heute Verräter sind. Martinez mit seinem dicken Schnurrbart ist ein großer, fetter Verräter.“

Der Filmstudent Samuel erklärte: „Die Arbeiterklasse ist nicht mehr repräsentiert und man hört ihr nicht mehr zu. Die Regierung tut, was sie will. ... Bayrou hat ein Misstrauensvotum angesetzt. Das war Manipulation, aber immerhin ist er weg. Aber die Vorstellung, dass sein Nachfolger Lecornu werden soll, ein Angehöriger der Partei, die alle Regierungen Macrons seit 2017 unterstützt hat – es tut mir leid, aber das ist einfach Mist.“

Weiter erklärte er: „Wählen bringt nichts. Die Bevölkerung muss die Macht übernehmen.“ Mit Blick auf Macrons drakonische Unterdrückung erklärte er: „Sie haben wirklich eine Art Faschismus entwickelt. 80.000 Polizisten wurden mobilisiert, um uns zu unterdrücken. Macron und die Oligarchen machen sehr deutlich, dass sie in die Offensive übergegangen sind.“

Samuel

Auf die Frage nach der Notwendigkeit einer internationalen Organisation des Klassenkampfs durch die Arbeiter erklärte er zustimmend: „Nehmen wir mal an, wir bringen Macron durch ein Wunder zu Fall – großartig. Aber in England, Afrika, Nord- und Südamerika und Asien haben wir überall die gleichen Probleme. Wir dürfen nicht nur an unsere kleine französische Ecke denken, sondern an die ganze Welt.“

Weiter sagte er: „Wir haben kein Vertrauen in die bestehenden Gewerkschaften oder Parteien. Wir haben es bei der CGT gesehen, die es hinausgezögert hat, ihre Mitglieder zu mobilisieren [damit sie nicht an den „Bloquons tout“-Protesten teilnehmen]. Der einzige Weg, zu kämpfen, ist ohne Politiker oder Gewerkschaftsfunktionäre. Wir müssen unsere eigenen Gruppen von unten gründen, die Arbeiter, Müllwerker, Fluglotsen, alle, die sich abrackern. Wenn sie nicht mehr arbeiten, bricht das System zusammen.“

Größere Teile der Arbeiter in Frankreich und ganz Europa nehmen den Kampf auf. Am 18. September ist in Frankreich ein landesweiter Streik geplant. Linke Jugendliche müssen unter Arbeitern eingreifen und versuchen, sie politisch für eine weitere Mobilisierung gegen Sparpolitik, imperialistischen Krieg und Kapitalismus zu bewaffnen. Die Parti de l’égalité socialiste erklärte in ihrem Artikel „Was ist der Weg vorwärts für die Arbeiterklasse nach dem Sturz der französischen Regierung?“:

Es gibt zwei unversöhnliche Alternativen: Entweder errichtet die kapitalistische Oligarchie eine faschistische Diktatur, um die Arbeiterklasse zu unterdrücken, oder die Arbeiterklasse führt einen revolutionären Kampf auf der Grundlage eines sozialistischen Programms, um die Oligarchen zu enteignen. Dafür muss sie die Zwangsjacke der Gewerkschaftsapparate durchbrechen, indem sie echte Arbeiterorganisationen aufbaut, die sich dem Klassenkampf verschrieben haben.

Die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (International Workers Alliance of Rank-and-File Committees, IWA-RFC) ruft dazu auf, dass die Arbeiter in allen Betrieben und Arbeitsplätzen den Gewerkschaftsbürokratien die Macht entreißen und selbst die Kontrolle übernehmen. Die Aktionskomitees als neue Formen der Klassenorganisation, in denen sich die französischen Arbeiter mit ihren Kollegen in ganz Europa zusammenschließen, sind notwendig, um den Widerstand gegen die Unternehmens- und Finanzoligarchie und ihr Programm für Faschismus, Völkermord und Krieg zu organisieren und sie zu besiegen.

Loading