Vor einem Jahr, am 1. November 2024, stürzte das Vordach des Hauptbahnhofs im nordserbischen Novi Sad ein und forderte 16 Todesopfer. Was als lokales Unglück erschien, wurde zum Auslöser für eine breite Protestbewegung, die bis heute anhält. Sie richtet sich nicht nur gegen staatliches Versagen und die allgegenwärtige Korruption in Serbien, sondern vor allem gegen die prekären sozialen Bedingungen im Land und die rechte Regierung von Aleksandar Vučić.
Am Samstag versammelten sich rund 160.000 Menschen im 230.000 Einwohner zählenden Novi Sad, um der Opfer zu Gedenken und gegen die Regierung zu demonstrieren. Aus dem ganzen Land reisten die Teilnehmenden an und wurden von den Einwohnern mit Essen, Getränken und Unterkunft versorgt.
Wie bereits bei früheren Massenprotesten hatte die Regierung die Bahnverbindung zwischen Belgrad und Novi Sad am Freitag unter dem Vorwand einer angeblichen Bombendrohung eingestellt. Tatsächlich ging es darum, den Protest so klein wie möglich zu halten.
Das vermeidbare Unglück war vor allem von jungen Menschen in Serbien als Zeichen für jahrzehntelange Misswirtschaft, Korruption und politische Verantwortungslosigkeit verstanden worden. Unmittelbar nach dem Ereignis formierte sich eine Bewegung, vor allem getragen von Studierenden und Schülern, die unter anderem die Herausgabe aller Bau- und Prüfunterlagen und die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen forderte.
Doch schon bald gingen die Forderungen darüber hinaus. Nachdem ein Großteil der Universitäten des Landes von den Protestierenden besetzt waren, forderten diese auch begrenzte soziale Reformen und Verbesserungen im maroden Bildungssystem, welches seit Jahrzehnten kaputtgespart wird.
Im Dezember 2024 erreichte die Bewegung ihren ersten Höhepunkt, als über 100.000 Menschen auf dem Slavija-Platz in Belgrad demonstrierten – die größte Protestaktion in Serbien seit Jahren. Gleichzeitig breitete sich der Protest auf über 300 Städte aus. Im März dieses Jahres erlebte die serbische Hauptstadt dann die größte Demonstration seit dem Zerfall Jugoslawiens, als mindestens 300.000 Menschen protestierten.
Die Regierung unter Präsident Vučić und seiner rechtsnationalistischen Fortschrittspartei (SNS) reagierte mit immer größerer Härte gegen die Protestbewegung. Nachdem der Rücktritt des damaligen Premierministers Miloš Vučević Anfang 2025 als plumpes Manöver entlarvt wurde und die Proteste danach anhielten, setzte die Regierung auf willkürliche Verhaftungen, Einschüchterung und den Einsatz faschistischer Banden, die eng mit der SNS verbunden sind.
Vučić sprach immer wieder von einer angeblichen „Farb-Revolution“ und stellte die Protestierenden als „Terroristen“ oder vom Ausland gesteuert dar. In mehreren Städten griffen vermummte Anhänger der Regierung unter den Augen der regulären Sicherheitskräfte Demonstranten an, wobei es zu zahlreichen Verletzten kam.
Auch im Vorfeld der Proteste zum Jahrestag verbreiten Regierungsmedien eine üble Kampagne gegen friedlich Protestierende. Am Freitag schrieb etwa das Boulevard-Blatt Informer: „Die Geier fahren die Krallen aus – Blockadekämpfer führen einen Vernichtungskrieg.“
Zum Jahrestag machte die Europäische Union erneut deutlich, dass sie an der Seite von Vučić steht. Die EU-Delegation in Serbien sprach lapidar von einem „traurigen Jahrestag“, und die Vertretung der EU appellierte an alle, „Zurückhaltung zu üben, die Spannungen abzubauen und Gewalt zu vermeiden“, wohl wissend, dass die Gewalt bislang ausschließlich von Polizei und dem rechten Mob ausging.
Der Unterstützung Vučićs und seiner extrem rechten Regierung durch die EU-Staaten liegen handfeste Interessen zugrunde. Vor allem mit der Ausbeutung eines riesigen Lithiumvorkommens in Serbien soll der Einfluss von Russland und China in Europa begrenzt und die Versorgung Europas mit dem wichtigen Rohstoff sichergestellt werden.
Lithium ist ein Schlüsselrohstoff für die Autoindustrie und die Herstellung von Batterien für Elektrofahrzeuge. Die EU sieht solche Vorkommen als strategische Ressource, um ihre Abhängigkeit von China zu reduzieren.
Im Westen Serbiens, im Jadar-Tal nahe der Stadt Loznica, liegt eine der größten bekannten Lithium- und Borlagerstätten Europas. Allein das Jadar-Projekt könnte laut Schätzungen mehrere zehntausend Tonnen Lithium pro Jahr produzieren. Studien zufolge könnte die deutsche Industrie mit dem serbischen Lithium-Vorkommen bis zu 90 Prozent ihres Bedarfes decken.
Bereits 2020 hatte Vučićs SNS gemeinsam mit dem britisch-australischen Bergbaukonzern Rio Tinto viele Anwohner zum Verkauf ihrer Grundstücke und Ländereien gedrängt. Schätzungen zufolge benötigt der Konzern ein Gebiet von rund 2000 Hektar Land, um das Lithium zu fördern.
Nachdem es Ende 2021 zu massenhaften Protesten gegen die Pläne gekommen war, erklärte die damalige Ministerpräsidentin Ana Brnabić Anfang 2022 das Projekt für beendet. Doch mit der Zuspitzung der politischen und wirtschaftlichen Krise in den folgenden Jahren wuchs das Interesse der europäischen Mächte an den wichtigen Rohstoffen stark an.
Vučić bezeichnete noch im selben Jahr den Stopp des Projekts als großen Fehler und im Hintergrund wurde das Vorhaben von der EU, der serbischen Regierung und Rio Tinto vorangetrieben. Das Bergbauministerium verlängerte wichtige Genehmigungsfristen für Rio Tinto sage und schreibe 18 Mal, um das Projekt fortführen zu können.
Eine Woche vor einem Besuch des damaligen Bundeskanzlers Olaf Scholz im Juli 2024 gab das Verfassungsgericht Rio Tintos Klage gegen den Entzug der Lizenz statt, ohne das Verfahren je formell eröffnet zu haben. Damit war der Weg für die Wideraufnahme geebnet und im selben Monat wurde das „Memorandum über kritische Rohstoffe“ unterzeichnet, das der EU Zugriff auf die serbischen Lithiumvorkommen gewährt.
Im selben Jahr erschien veröffentlichten serbische Wissenschaftler eine weitere Studie, die aufzeigte, welch enorme Umwelt- und Gesundheitsrisiken mit der Anlage verbunden sind. Vor allem wird vor einer deutlich erhöhten Konzentration von Bor, Arsen und Lithium in den anliegenden Flüssen gewarnt.
Dies hinderte die EU und die serbische Regierung ebenso wenig wie die Proteste, die nach der Wiederaufnahme der Abbaupläne wieder aufflammten, das Projekt voranzutreiben. Die Europäische Kommission erklärte im Juni dieses Jahres das Jadar-Projekt zu einem „strategischen Projekt“ im Rahmen des Rohstoffrechts der EU (CRMA).
Obwohl die Proteste seit über einem Jahr anhalten, breite Schichten der Bevölkerung umfassen und sich durch massive staatliche Repressionen nicht einschüchtern lassen, fehlt ihnen eine tragfähige Perspektive. Die serbischen Oppositionsparteien äußern sich zwar teilweise kritisch, betonen aber stets ihre pro-europäische Ausrichtung und ihren Willen Serbien in die EU zu führen.
Im Kampf gegen Korruption, Ausbeutung, Polizeigewalt und Umweltzerstörung müssen Studenten und Arbeiter mit den pro-kapitalistischen Parteien und Organisationen brechen und sich einer sozialistischen und internationalistischen Perspektive zuwenden.
