Socialist Equality Party (Großbritannien)
Historische und internationale Grundlagen der Socialist Equality Party (Großbritannien)

Reform und Revolution in Großbritannien

9. Großbritannien ist ein Land mit langer demokratischer Tradition, die bis auf die Magna Charta zurückreicht, mit einer mächtigen Kultur und Literatur von Weltrang. Als Herrscherin über das erste imperialistische Land der Welt übte die britische Bourgeoisie eine wahrhaft globale Vorherrschaft aus, welche die der heutigen USA noch in den Schatten stellt. Der gewaltige Wohlstand des „Empire, in dem die Sonne nie untergeht“, förderte gewisse negative Eigenschaften der Arbeiterklasse. Zum Beispiel verstärkte er die Zuversicht in parlamentarische Reformen, den Respekt vor der bestehenden Ordnung und ein gewisses Maß an nationaler Engstirnigkeit.

10. Großbritanniens vorherrschende Stellung fand ihren Ausdruck in einer „Arbeiteraristokratie“, die in der Arbeiterklasse eine besonders privilegierte Stellung einnahm, beispielhaft verkörpert von der Gewerkschaftsführung. Diese predigte die Tugenden der Klassenzusammenarbeit und unversöhnliche Feindschaft gegenüber dem Marxismus und der Revolution. Diese Eigenschaften prägten letztendlich den Charakter der 1906 von den Gewerkschaften gegründeten Labourpartei, einer bürgerlichen Arbeiterpartei, die sich auf die Massenorganisationen der Arbeiter stützte, sich aber der Verteidigung des Kapitalismus verschrieb.

11. Dennoch wäre es falsch, den Blick ausschließlich auf die konservativen Tendenzen in der britischen Geschichte und Arbeiterklasse zu richten. Wer dies tut, will vor allem sein eigenes politisches Programm rechtfertigen. Großbritannien ist auch ein Land abrupter politischer und gesellschaftlicher Wendungen. Die Bourgeoisie kam nach einem Bürgerkrieg an die Macht, an dessen Ende die Hinrichtung des Königs stand. In Großbritannien entstand der Kapitalismus, „von Kopf bis Fuß vor Blut und Schmutz triefend“, wie Marx es ausdrückte. Ungeheure Ungleichheit und großes soziales Elend wurden durch jede erdenkliche Form von Klassenjustiz und Unterdrückung durchgesetzt. Der Widerstand dagegen fand seinen revolutionären Ausdruck in der großen Bewegung der Chartisten für das allgemeine Wahlrecht. Diese lange Geschichte hat die Arbeiterklasse mit einer starken Klassenidentität erfüllt, einem tiefen Gewerkschaftsbewusstsein, das sie zu hartnäckigen und oft heldenhaften Aktionen befähigt hat, einem mächtigen Sinn für demokratische Rechte und einer Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit und den Prinzipien der Gleichheit.

12. Trotzki betonte, dass die Arbeiterklasse im Chartismus „nicht nur ihre Vergangenheit, sondern auch ihre Zukunft“ sehen müsse:

„Das Zeitalter des Chartismus ist deshalb unsterblich, weil es in der Spanne eines Jahrzehntes in zusammengedrängter und schematischer Form die ganze Skala des proletarischen Kampfes, von Petitionen an das Parlament bis zu bewaffneten Aufständen, durchläuft. (…) Wie die Chartisten die sentimentalen Prediger der „moralischen Aktion“ rücksichtslos beiseite schoben und die Massen unter dem Banner der Revolution sammelten, wird auch dem englischen Proletariat zur Aufgabe gemacht, die Reformisten, Demokraten und Pazifisten aus ihrer Mitte herauszuwerfen und sich unter der Fahne des revolutionären Umsturzes zu sammeln.“[2]

13. Trotzkis schrieb diese Worte, als er begann, gegen die stalinistische Degeneration Kommunistischen Parteien, die der Dritten Internationale angeschlossenen waren, zu kämpfen. Die Erfüllung der revolutionären Perspektive, würde von denen abhängen, die sich dieser Sache verschrieben. Von diesem Punkt an war die Entwicklung des Sozialismus in Großbritannien unauflösbar mit Trotzkis Kampf zur Verteidigung des revolutionären Marxismus verbunden.


[2]

Leo Trotzki Wohin treibt England? Verlag Neuer Kurs, 1972, S. 107-108