21. Stalin ging als wichtigster Vertreter aus dieser bürokratischen Kaste hervor und vertrat die Theorie vom „Sozialismus in einem Land“, die dazu aufrief, den Sozialismus innerhalb der Grenzen der Sowjetunion zu verwirklichen. Von da an sollte sich der Kampf Trotzkis und der Linken Opposition – die 1923 gegründet wurde, um die Politik der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion zu reformieren und für eine korrekte Linie in der Kommunistischen Internationale zu kämpfen – um zwei sich unversöhnlich gegenüberstehende Konzeptionen des Sozialismus drehen. Trotzki erklärte:
„Der Abschluss einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. (…) Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinn des Wortes zu einer permanenten Revolution: Sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.“[5]
22. Die Arena für die ersten strategischen Konflikte zwischen der Linken Opposition und der Stalin-Fraktion war Großbritannien. Das Land war aus dem Ersten Weltkrieg erheblich geschwächt hervorgegangen, und die bolschewistische Revolution zog die fortgeschrittenen Arbeiter an. Die Labourpartei versuchte, ihren Einfluss zu bekämpfen, indem sie den Paragraphen 4 in ihr Parteiprogramm aufnahm und versprach, die beherrschenden Wirtschaftsunternehmen in gesellschaftlichen Besitz zu überführen. Aber die Bedingungen für die Gründung der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB) waren 1920 geschaffen. Vor dem Hintergrund eskalierender Klassenkämpfe wuchs der Einfluss der CPGB und erreichte seinen Höhepunkt in der Bildung der Nationalen Minderheitsbewegung, die 1924 ein Viertel aller Gewerkschaftsmitglieder umfasste. Trotzki verfolgte die Entwicklungen im Zentrum des Weltimperialismus mit großer Aufmerksamkeit. Er schrieb:
„Das Schicksal Englands nach dem Kriege verdient ein besonderes Interesse. Die starke Änderung seiner Weltlage konnte nicht ohne Einfluss auf das innere Kräfteverhältnis des Landes bleiben. Es war ganz klar: wenn es Europa, zusammen mit England, auch gelingen sollte, nach einer kürzeren oder längeren Periode ein gewisses soziales Gleichgewicht wiederzuerlangen, so konnte England zu einem solchen Gleichgewicht nur durch eine Reihe ernster Zusammenstöße und Erschütterungen kommen. Ich erachtete es als sehr wahrscheinlich, dass gerade in England ein Konflikt in der Kohleindustrie zum Generalstreik führen müsste. Daraus folgerte ich, dass sich unvermeidlich ein tiefer Gegensatz zwischen den alten Organisationen der Arbeiterklasse und ihren neuen historischen Aufgaben herausbilden müsse.“[6]
23. Der Generalstreik, der am 3. Mai 1926 begann, wurde durch die Aussperrung der Bergarbeiter provoziert. Er entwickelte sich zu einer praktisch zu einer Aufstandsbewegung, der sich vier der fünfeinhalb Millionen gewerkschaftlich organisierten Arbeiter anschlossen. Neun Tage lang bestand im Land eine Situation der Doppelherrschaft. Die politische Aufgabe der Sozialisten bestand darin, die Führer der Gewerkschaft und der Labour Party zu demaskieren, und insbesondere ihre „linken“ Vertreter als Eckpfeiler der kapitalistischen Herrschaft zu entlarven. Stattdessen sah die sowjetische Bürokratie, die die geringen Kräften der CPGB verachtete, die Gewerkschaften als brauchbareres Mittel zur Ausweitung des sowjetischen Einflusses und zur Führung des Klassenkampfes in Großbritannien. Trotzki erklärte:
„Die Schwächen der britischen Kommunistischen Partei jener Zeit machten es notwendig, sie so schnell wie möglich durch einen beeindruckenderen Faktor zu ersetzen. Genau da entstand die falsche Einschätzung der Tendenzen des britischen Gewerkschaftertums. Sinowjew ließ uns wissen, dass er damit rechnete, dass die Revolution ihren Auftakt nicht durch den schmalen Eingang der kommunistischen Partei, sondern durch die breiten Tore der Gewerkschaften finden werde. Der Kampf um die in den Gewerkschaften organisierten Massen durch die Kommunistische Partei wurde ersetzt durch die Hoffnung auf die schnellstmögliche Nutzung des fertigen Gewerkschaftsapparates zum Zwecke der Revolution.“[7](aus dem Englischen)
24. Die Parole der CPGB lautete: „Alle Macht dem Generalrat des TUC!“ Am 12. Mai blies der Generalrat des TUC den Streik unter tätiger Mithilfe der Linken ab und gab die Bergarbeiter der Rache der Bergwerksbesitzer preis. Das Scheitern des Generalstreiks war für die britische Arbeiterklasse eine große strategische Erfahrung. Ihr demoralisierender Effekt war über mehrere Generationen spürbar. Der Einfluss der CPGB, die mehr als zwei Drittel ihrer Mitglieder verlor, verringerte sich erheblich. Aber die Politik der stalinistischen Bürokratie führte international zu noch schlimmeren Rückschlägen, darunter zur Niederlage der chinesischen Revolution 1927 und, am schlimmsten von allem, zu den Ereignissen in Deutschland, wo die Kommunistische Partei es Hitler gestattete, im Januar 1933 ohne Gegenwehr an die Macht zu kommen. Dieser Verrat von welthistorischer Bedeutung wurde von den Parteien der (Dritten) Kommunistischen Internationale akzeptiert und zeigte an, dass sie für den Zweck der sozialistischen Revolution verloren waren. Die Wendung der führenden Schicht in Moskau hin zur Verteidigung der eigenen Privilegien fand nun direkt auf Kosten der Klasseninteressen des sowjetischen und des internationalen Proletariats statt. Trotzki schloss daraus, dass es notwendig war, die Perspektive der politischen Reorientierung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und ihrer Schwesterparteien aufzugeben und den Aufbau einer neuen, der Vierten Internationale zu beginnen.
25. Die Rückschläge, die die internationale Arbeiterklasse erlitt, stärkten die stalinistische Bürokratie weiter und fanden ihre Höhepunkte in Trotzkis Ausschluss aus der KPdSU 1927 und seiner Ausweisung aus der Sowjetunion 1929. Nichtsdestoweniger fand seine in die Tiefe gehende Kritik dieser Ereignisse innerhalb der CPGB ein Echo, gewann die Unterstützung der Balham-Gruppe, die ein Dutzend Mitglieder umfasste, unter ihnen Reg Groves und Harry Wicks. Die Gruppe arbeitete innerhalb der CPGB, und zwar unter der Führung von James P. Cannon und der amerikanischen Trotzkisten. Sie wurde 1932 aus der CPGB ausgeschlossen, als Communist League wieder gegründet und als offizielle Sektion der Linken Opposition akzeptiert.
26. Der Aufruf zur Gründung der Vierten Internationale erfolgte unter den Bedingungen der Krise des Weltkapitalismus, die dazu führte, dass bedeutende Teile der Arbeiterklasse mit der Sozialdemokratie brachen. Und das zu einer Zeit, als die stalinistischen Parteien keine wirklich revolutionäre Alternative anbieten konnten und wollten. Diese politische Sachlage erzeugte eine Unzahl zentristischer Tendenzen, die einen „Mittelweg“ zwischen Reform und Revolution, zwischen Nationalismus und Internationalismus, vertraten. Trotzkis politische Haltung gegenüber diesen Gruppen war vorausschauend. Er erkannte, dass ihr Einfluss einen Linksruck in der Arbeiterklasse ausdrückte und bestand darauf, dass die Linke Opposition sich mit ihnen politisch auseinandersetzen und ihre halb-reformistischen Führungen herausfordern müsse. Andernfalls würde deren beständige Unterordnung des Prinzips des Internationalismus unter einen kurzsichtigen taktischen Opportunismus die Entwicklung einer wahrhaft revolutionären Partei blockieren und unvermeidlich zu ihrer Rückkehr in die Lager der Sozialdemokratie und des Stalinismus führen. Trotzki schrieb:
„Auf der internationalen Arena zeichnet sich der Zentrist wenn nicht durch Blindheit, dann aber zumindest durch Kurzsichtigkeit aus, er begreift nicht, dass man in der heutigen Epoche die nationale revolutionäre Partei nur als Teil der internationalen Partei aufbauen kann; in der Wahl seiner internationalen Verbündeten ist er noch weniger wählerisch als im eigenen Lande.“[8]
27. Die größte zentristische Gruppierung in Großbritannien war die Independent Labour Party (ILP) unter der Führung von James Maxton und Fenner Brockway. Im Juni 1929 kam eine Labour-Regierung unter Ramsay MacDonald an die Macht. Angesichts globaler Rezession und Massenarbeitslosigkeit drängte MacDonald auf Lohnkürzungen und Einsparungen bei den öffentlichen Ausgaben und eine 25prozentige Abwertung des britischen Pfunds. Seine Vorschläge spalteten das Kabinett, und im August 1931 trat MacDonald zurück, um anschließend mit den Konservativen und den Liberalen eine nationale Regierung zu bilden. Diese setzte Sparmaßnahmen durch, die den Beginn der „Hungrigen Dreißiger Jahre“ signalisierten. Die ILP verließ die Labourpartei 1932 und gründete ein Jahr später das Internationale Büro für Revolutionär-Sozialistische Einheit, auch Londoner Büro genannt, das sieben linke Parteien aus Europa zusammenschloss.
28. Das Londoner Büro lehnte die Bildung einer Vierten Internationale ab und befürwortete stattdessen eine breite „nicht-sektiererische“ internationale Organisation, die ihr die Freiheit lassen würde, weiter ihrer nationalen Orientierung zu folgen. Trotzkis Anhänger griffen ein und bestanden darauf, dass die notwendige Einheit der Arbeiterklasse angesichts der kapitalistischen Depression, des Faschismus und des Krieges nur durch die Bekämpfung des verheerenden Verhaltens der Zweiten und Dritten Internationale erzielt werden könne. Die „Erklärung der Vier“ – die Internationale Linke Opposition, die deutsche Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) und zwei holländische Organisationen – schuf die Grundlage für die Bildung der Internationalen Kommunistischen Liga, dem Vorgänger der Vierten Internationale. In Großbritannien trat eine Minderheit der Communist League der ILP als Marxist Group bei, wo sie erfolgreich gegen einen Zusammenschluss mit der Kommunistischen Partei (CPGB) kämpfte, wie ihn das pro-stalinistische Revolutionary Policy Committee vorgeschlagen hatte.
29. Die weitere Entwicklung der ILP war eine Bestätigung der Warnungen Trotzkis. Auf ihrer Konferenz 1936 distanzierte sie sich offiziell von der Vierten Internationale und begann, die Trotzkisten auszuschließen. Sie orientierte sich mit einer Reihe antifaschistischer Kampagnen in Richtung der Kommunistischen Partei. Diese Entwicklung nahm die Rolle der POUM (Arbeiterpartei der marxistischen Vereinigung) in der Volksfrontregierung in Spanien vorweg. Der Preis, den die Arbeiterklasse für die zentristische Politik des Londoner Büros bezahlte, war die Niederlage der Spanischen Revolution. Der Niederlage war der Mord an Andres Nin vorangegangen, dem Führer der POUM. Während der Moskauer Prozesse im August 1936 und im März 1938 betätigte sich die ILP als Apologetin der brutalen Unterdrückung der Vertreter des revolutionären Marxismus durch die Stalinisten. Sie widersetzte sich der Forderung nach einer internationalen Kommission zur Untersuchung der Prozesse. Brockway schlug stattdessen eine Kommission zur Untersuchung der politischen Aktivitäten Leo Trotzkis vor.
30. Aus dem Kampf innerhalb der ILP war eine unschätzbare Lehre über die Einschätzung eines sozialen Typus zu ziehen, der die britische Arbeiterbewegung mehrfach heimgesucht hat. Baron Brockway war der Archetypus einer gehobenen kleinbürgerlichen und sogar bürgerlichen Schicht, aus der Personen wie Beatrice und Sydney Webb (Baron Passfield), ihr Neffe Stafford Cripps (Lord Parmoor) und in jüngster Zeit Tony Benn (zuvor Viscount Stansgate) stammten. Diese wandten sich der Arbeiterbewegung zu, weil der Liberalismus unter dem Einfluss einer scharfen Klassenspaltung zusammengebrochen war. Sie bedienten sich linker reformistischer Phraseologie, um den bürgerlichen Staat zu entschuldigen und angeblich zu vervollkommnen.