91. Weder Cannon noch Healy schätzten das Ausmaß von Pablos theoretischen Revisionen von Anfang an richtig ein. Aber die vollen Auswirkungen seiner Linie wurden klar, als er die Sektionen der Vierten Internationale dazu zwingen wollte, sich in den jeweils dominierenden Tendenzen der Arbeiterklasse aufzulösen. In Großbritannien versuchten Pablos Anhänger, geführt vom Socialist-Outlook-Herausgeber John Lawrence, Healy eine Art stalinistischen „Maulkorb“ umzuhängen, um ihn daran zu hindern, sich ihnen in den Weg zu stellen. Als Antwort auf diese Zensurversuche schrieb Cannon an Healy:
„Du stehst jetzt in deinem Leben als Revolutionär an einem Wendepunkt. Alle Früchte deiner früheren Arbeit und deines Kampfes zur Festigung eines prinzipientreuen Kaders werden durch diesen illoyalen Versuch bedroht, mit dem man dich einschüchtern will und dir die Pistole einer Fraktionsopposition an den Kopf hält. (…)
Die Mitglieder deiner Bewegung, die neuen Rekruten wie jene, die seit langem dabei sind, müssen unbedingt erkennen, dass die Organisation, in der sie arbeiten, nicht vom Himmel gefallen ist. Die Bedingungen für all ihre konstruktive Arbeit in letzter Zeit wurden durch einen langen Kampf geschaffen, einen Kräfte zehrenden und zuweilen entmutigenden Kampf gegen die Hastons und all jene, die nicht besser waren als die Hastons. Jetzt stehst du wieder vor einem Kampf. Und du wirst weder Frieden im Innern, noch die Möglichkeit einer weiteren langen Schaffensperiode, ungehindert von Fraktionskämpfen, bekommen, solange du nicht mit dieser neuen Fraktion fertig wirst, die sich gegen dich erhoben hat.“ [27]
92. Im Kampf der SWP gegen Pablo und Mandel spielte Healy eine unschätzbare Rolle, und trotz ständiger Provokationen durch ihre Anhänger in Großbritannien hielt er geduldig und zäh daran fest. Ein wichtiger Kampfgefährte Healys war Michael Van Der Poorten (Mike Banda), ein 20-jähriges Mitglied der Bolschewistisch-Leninistischen Partei Indiens, der 1950 aus Ceylon in Großbritannien eingetroffen war. Die Lehren, die Healy aus seinen früheren Kämpfen gezogen hatte, zahlten sich im Kampf gegen die Pablo-Fraktion aus. Seine Korrespondenz mit Cannon zeugt von großer Sensibilität, was die komplexe Aufgabe der Rekrutierung und Erziehung eines revolutionären Kaders angeht; er weist darin Pablos Linie klar zurück und sorgt sich um ihren verheerenden Einfluss auf die Vierte Internationale. In einem Brief an Cannon vom 21. Juli 1953 schreibt Healy:
„Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass der Aufbau eines Kaders Zeit und viel Erfahrung braucht. Trotz der gefährlichen internationalen Situation gibt keine Abkürzung, um den Aufbau eines Kaders zu umgehen. In der Tat stehen die beiden Dinge in einer dialektischen Wechselbeziehung. Je explosiver die Situation, umso erfahrener muss ein Kader sein, um mit ihr fertig zu werden. Dann erst zahlt sich die lange Zeit aus, die es gekostet hat, den Kader aufzubauen. Was vorher wie ein langer schwieriger Prozess erscheint, verkehrt sich nun ins Gegenteil.“
In einem anderen Brief an Cannon vom 7. September 1953 beschreibt Healy, wie ein Treffen mit Pablo ihn überzeugte:
„Wir sind mitten im schwersten Kampf in der Geschichte unserer Bewegung, um unsere grundlegenden Prinzipien zu verteidigen. Mit großer Erbitterung hat Pablo eure Vorstellung von unserer Internationale attackiert. Dieser Mann arbeitet mit all den alten Komintern-Sünden. Seine Methoden sind so unerträglich, dass sie mich fast körperlich krank gemacht haben. Viele Dinge sind mir während unseres Gesprächs eingefallen. Sie hassen den alten Kader unserer Bewegung. Sie wollen eine Internationale aus rückgratlosen Kreaturen, die den Revisionismus so weit akzeptieren, dass sie zur linken Deckung für den Stalinismus werden. Dies sind harte Worte, aber wenn du erlebt hättest, was ich hinter mir habe, würdest du mir zustimmen.“ [28]
93. Am 19. September stimmte das Nationalkomitee der britischen Sektion mit elf zu sechs Stimmen gegen Pablos Linie. Healy gab ein internationales Dokument mit dem Titel „Der Kampf gegen den Revisionismus“ heraus, in dem er erklärte:
„Es geht um nicht mehr und nicht weniger als das Schicksal des Trotzkismus, das heißt, des Marxismus, des revolutionären Sozialismus unserer Zeit. (…) Hat sich die Theorie, die unsere Bewegung ein Vierteljahrhundert lang angeleitet hat, überlebt, ist sie veraltet und überholt? Haben die neuen Tatsachen, die ‚neuen Realitäten‘ unserer Zeit, unsere Konzepte der Sowjetbürokratie, des Stalinismus‘ und seiner Beziehungen zu den großen kämpfenden Klassen verändert? Und wenn ja, – müssen wir dann nicht auch unsere eigene Funktion, unsere Rolle verändern, wie wir sie bisher verstanden haben: als Vierte Internationale, als Kern einer unverzichtbaren revolutionären Partei, die aufgebaut werden muss, um der proletarischen Revolution zu ihrem endgültigen Sieg über den Kapitalismus zu verhelfen? (…) Die einzig logische Konsequenz, die aus diesem Revisionismus folgen kann, ist die Liquidierung der Vierten Internationale in der Form, wie wir sie bisher verstanden haben.“ [29]
94. Die Pablisten, so fuhr er fort, behaupteten:
„Wegen einiger wirklicher oder angeblich neuer Fakten zum Stalinismus sollen wir die Vergangenheit vergessen, die Evolution dieses sozialen Phänomens ignorieren – als wäre der ganze Stalinismus nichts weiter als eine zufällige Verirrung von Individuen, die sich jetzt wieder selbst reformieren! Es hat in der marxistischen Bewegung schon viele Versuche gegeben, das Wesen des Kapitalismus und der kapitalistischen Klasse zu reformieren, von [dem deutschen Sozialdemokraten Eduard] Bernstein bis hin zu [Labour-Politiker John] Strachey. Tatsächlich besteht die offizielle Ideologie der Labour Party in diesem Land darin, dass die kapitalistische Klasse sich mehr oder weniger reformiert habe und die Notwendigkeit eines Sozialstaates anerkenne, so wie die Labour-Führer die Notwendigkeit einer ‚gemischten‘ Wirtschaft mit einem Anteil Kapitalismus eingesehen haben.“[30]
Trotskyism versus Revisionism (1974), New Park Publications, Band 1, S. 259/260 [aus dem Englischen]
ibid. S. 267/268
Gerry Healy, zitiert in What Next? The Struggle Against Revisionism, http:///www.whatnextjournal.co.uk/Pages/healy/1953.html, [aus dem Englischen]
ibid.