Dritter Vortrag: Die Ursprünge des Bolschewismus und Was tun?

Von David North 

September/Oktober 2005

Die Socialist Equality Party (USA) und die World Socialist Web Site veranstalteten vom 14. bis 20. August eine Sommerschule in Ann Arbor, Michigan. Der vorliegende Vortrag stammt von David North, dem Chefredakteur der WSWS.

Die Ursprünge des russischen Marxismus

Unser heutiger Vortrag beschäftigt sich mit einem der wichtigsten, tiefgründigsten und fraglos revolutionärsten Werke politischer Theorie, die jemals geschrieben wurden: Lenins Was tun? Kaum ein anderes Werk ist derartig oft falsch ausgelegt und verfälscht worden. Für die unzähligen Lenin-Hasser im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb - von denen sich einige bis 1991 als große Bewunderer Lenins bezeichnet hatten - ist dieses Buch letztlich für viele, wenn nicht alle Übel des 20. Jahrhunderts verantwortlich. Ich möchte auf diese Verleumdungen antworten und auch erklären, warum dieses Werk - das im Jahre 1902 für eine kleine sozialistische Bewegung geschrieben wurde, die ihre politische Arbeit unter den Bedingungen des zaristischen Russlands leistete - auch für die sozialistische Bewegung im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts von außergewöhnlich großer, theoretischer und praktischer Bedeutung ist.

Als ich über die Entwicklung der marxistischen Bewegung in Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sprach, betonte ich den stürmischen und scheinbar unaufhaltsamen Charakter ihrer Entwicklung. Innerhalb einer erstaunlich kurzen Zeitspanne entwickelte sich die Sozialdemokratische Partei zur Massenorganisation der Arbeiterklasse. Ihre Erfolge wären ohne Kämpfe und Opfer nicht möglich gewesen, dennoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die deutschen Sozialisten in einem Umfeld arbeiteten, das im Vergleich zu den Umständen, denen die russischen Revolutionäre ausgesetzt waren, relativ günstig war.

In einem seiner späteren Werke versuchte Lenin zu erklären, warum gerade in Russland die - wie sich herausstellen sollte - mächtigste revolutionäre sozialistische Organisation entstand. Er schrieb, den "Marxismus als die einzige richtige revolutionäre Theorie hat sich Russland wahrhaft in Leiden errungen, durch ein halbes Jahrhundert unerhörter Qualen und Opfer, beispiellosen revolutionären Heldentums, unglaublicher Energie und hingebungsvollen Suchens, Lernens, praktischen Erprobens, der Enttäuschungen, des Überprüfens, des Vergleichens mit den Erfahrungen Europas." [1]

Ab dem Jahre 1825, als eine Gruppe hochrangiger Offiziere in der russischen Armee den untauglichen Versuch unternahm, die zaristische Autokratie zu stürzen, entwickelte sich in Russland eine Tradition der Selbstaufopferung, Unbestechlichkeit und furchtlosen Leidenschaft. Die Suche nach einem Weg, um die schreckliche und erniedrigende Wirklichkeit der zaristischen Selbstherrschaft und die gesellschaftliche Rückständigkeit, über der sie thronte, zu überwinden, nahm die Form eines Kreuzzugs an. Daraus ging das außergewöhnliche gesellschaftliche und kulturelle Phänomen der russischen Intelligenzija hervor. Mit ihr entstand der russische Roman und die Literaturkritik ebenso wie die russische revolutionäre Bewegung.

In seiner Biografie Der junge Trotzki beschreibt Max Eastman (der damals noch Sozialist war) in einer sehr schönen Passage die Persönlichkeit des russischen Revolutionärs:

"Eine wundervolle Generation von Männern und Frauen war dazu bestimmt, diese Revolution in Russland zu vollbringen. Man kann in einem beliebigen, entlegenen Teil des Landes reisen und man sieht ein stilles, starkes, nachdenkliches Gesicht in einem Bahnabteil oder Omnibus - einen Mann mittleren Alters mit einer weißen philosophischen Stirn und einem sanften braunen Bart, oder eine ältere Frau mit scharf geschnittenen Augenbrauen und einem strengen mütterlichen Zug um den Mund, oder vielleicht einen Mann mittleren Alters oder eine jüngere Frau, die immer noch sinnlich schön ist, aber ihrem Verhalten nach einen schweren Weg hinter sich hat - man wird nachfragen und herausfinden, dass sie ‚alte Parteiarbeiter’ sind. Erzogen in der Tradition der terroristischen Bewegung, einem strengen und erhabenen Erbe des Märtyrerglaubens, schon als Kind dazu angehalten, die Menschheit zu lieben, unsentimental zu denken, ihr eigener Herr zu sein und den Tod als Begleiter zu akzeptieren, lernten sie in ihrer Jugend etwas weiteres hinzu - praktisch zu denken. Sie wurden im Feuer des Kerkers und des Exils gehärtet. Sie wurden fast zu einem adligen Orden, zu einer auserlesenen Gruppe von Männern und Frauen, auf deren Heroismus man sich verlassen konnte, wie die Ritter der Tafelrunde oder die Samurai, mit dem Unterschied, dass ihr Adelsnachweis in der Zukunft lag, und nicht in der Vergangenheit." [2]

Die russische revolutionäre Bewegung wandte sich anfangs nicht der Arbeiterklasse zu. Sie war vielmehr an der Bauernschaft orientiert, die den allergrößten Teil der Bevölkerung ausmachte. Die formale Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft, im Jahre 1861 von Zar Alexander II angeordnet, verschärfte die Widersprüche in der sozioökonomischen Struktur des Russischen Reiches. In den 1870-er Jahren entstand eine bedeutende Bewegung der studentischen Jugend, die aufs Land und zu den Bauern ging, um sie zu erziehen und in das bewusste gesellschaftliche und politische Leben zu führen. Der wichtigste politische Einfluss in dieser Bewegung ging von den Theorien des Anarchismus aus, insbesondere von Lawrow und Bakunin. Vor allem Letzterer hoffte auf die revolutionäre Umgestaltung Russlands durch eine Erhebung der Bauernmassen. Das Zusammenspiel von bäuerlicher Gleichgültigkeit und staatlicher Repression brachte die Bewegung dazu, sich konspirativer und terroristischer Kampfmethoden zu bedienen. Die wichtigste dieser terroristischen Organisationen war Narodnaja Wolja, der ‚Volkswille’.

Der Beitrag Plechanows

Die theoretischen und politischen Grundlagen der marxistischen Bewegung in Russland wurden in den 1880er Jahren gelegt, als G.W. Plechanow seinen Kampf gegen den dominanten Einfluss der Volkstümler und ihre terroristische Orientierung führte. Die wesentliche Frage, die dem Kampf zwischen den Narodniki und der neuen marxistischen Tendenz zugrunde lag, betraf die historische Perspektive: War Russlands Weg zum Sozialismus durch eine Bauernrevolution zu verwirklichen, in der die traditionellen Formen des bäuerlichen Gemeinschaftseigentums die Grundlage für den Sozialismus stellen würden? Oder würde sich der Sturz des Zarismus, die Errichtung einer demokratischen Republik und der Beginn des Übergangs zum Sozialismus auf der Grundlage eines Wachstums des russischen Kapitalismus und des Auftretens eines modernen Industrieproletariats vollziehen?

Plechanow, der selbst ein führendes Mitglied der Narodniki gewesen war, wandte sich gegen den Terrorismus und die Charakterisierung der Bauernschaft als entscheidende revolutionäre Kraft. Er argumentierte, dass sich Russland entlang kapitalistischer Linien entwickle und dass das Anwachsen eines Industrieproletariats eine unvermeidliche Folge dieses Prozesses sein werde. Diese neue gesellschaftliche Klasse werde notwendigerweise die entscheidende Kraft beim revolutionären Sturz der Autokratie, der Demokratisierung Russlands, der Abschaffung aller politischen und wirtschaftlichen Überbleibsel des Feudalismus und dem Beginn des Übergangs zum Sozialismus sein.

Als Plechanow im Jahre 1883, dem Todesjahr von Karl Marx, die Gruppe Befreiung der Arbeit gründete, war dies eine Tat von großem politischem Weitblick, von intellektuellem und physischem Mut. Mit den Argumenten, die er gegen die Volkstümler vorbrachte, legte Plechanow die programmatischen Grundlagen, auf die sich später die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands stützen sollte. Er nahm damit aber auch viele entscheidende Fragen der Klassenorientierung und der revolutionären Strategie vorweg, die die sozialistische Bewegung über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg und bis zum heutigen Tag beschäftigen sollten.

Heute erinnert man sich Plechanows hauptsächlich - aber meist ohne ihn ausreichend zu würdigen - als einen der wichtigsten Interpreten der marxistischen Philosophie in der Ära der Zweiten Internationale (1889-1914). Ein großer Teil seines diesbezüglichen Werks ist zum Gegenstand erbitterter und in der Regel ignoranter Kritik geworden - insbesondere von Seiten jener, die Plechanow vorwerfen, er habe die Bedeutung Hegels und der dialektischen Methode verkannt. Liest man dieses polemische Gezeter, kann man nur wünschen, die Autoren würden sich die Zeit nehmen, Plechanows Werk zu studieren, bevor sie es verurteilen. Ich werde an späterer Stelle noch über die Frage der intellektuellen Haltung Plechanows zur marxistischen Philosophie sprechen. Dieses Thema beansprucht allerdings mehr Zeit, als wir gegenwärtig zur Verfügung haben.

Ich möchte mich an dieser Stelle auf einen anderen Gesichtspunkt konzentrieren, den Plechanow zur revolutionären Strategie beigetragen hat und der im Allgemeinen unterschätzt, wenn nicht sogar völlig ignoriert wird: Plechanow beharrte darauf, dass das Proletariat sich der Bedeutung seines unabhängigen Kampfes gegen die Bourgeoisie bewusst werden müsse; die Entwicklung dieses Bewusstseins war für ihn eine höchst bedeutende und unverzichtbare Triebkraft bei der Herausbildung von sozialistischem Bewusstsein.

In seinem wichtigsten Frühwerk, Sozialismus und politischer Kampf, das er kurz nach der Gründung der Gruppe Befreiung der Arbeit schrieb, wandte sich Plechanow gegen die Ansichten der russischen Anarchisten, die der Politik jede Bedeutung absprachen und sogar den Standpunkt vertraten, die Arbeiter sollten sich nicht durch ein Interesse an Politik besudeln. Plechanow bemerkte dazu, dass "keine einzige Klasse, die die politische Herrschaft errungen hat, Gründe hat, ihr Interesse für die ‚Politik’ zu bereuen; wenn im Gegenteil jede von ihnen den höchsten, den Kulminationspunkt ihrer Entwicklung erst erreichte, nachdem sie die politische Herrschaft erlangte, so müssen wir zugeben, dass der politische Kampf ein Mittel der sozialen Umgestaltung ist, dessen Tauglichkeit durch die Geschichte bewiesen ist."

Plechanow ging dann der Frage nach, in welchen Stufen sich Klassenbewusstsein entwickelt. Ein längeres Zitat ist hier angebracht, da dieser Passage eine dauerhafte Bedeutung zukommt:

"Die unterjochte Klasse macht sich nur allmählich den Zusammenhang zwischen ihrer ökonomischen Lage und ihrer politischen Rolle im Staate klar. Lange Zeit begreift sie nicht einmal ihre ökonomische Aufgabe in ihrer ganzen Fülle. Die Individuen, aus denen sie besteht, führen einen harten Kampf um ihre tägliche Existenz und denken nicht einmal darüber nach, welchen Seiten der gesellschaftlichen Organisation sie ihre Notlage schulden. Sie bemühen sich, den Schlägen, die ihnen versetzt werden, auszuweichen, und fragen nicht, woher und durch wen ihnen diese Schläge in letzter Instanz versetzt werden. Sie haben noch kein Klassenbewusstsein, in ihrem Kampf gegen die einzelnen Unterdrücker ist keine richtungsweisende Idee. Die unterdrückte Klasse existiert noch nicht für sich ; in der Zukunft wird sie die führende Klasse der Gesellschaft sein, aber sie ist noch nicht dabei, es zu werden. Der bewusst organisierten Kraft der herrschenden Klasse stehen nur unkoordinierte, vereinzelte Bemühungen einzelner Personen oder einzelner Personengruppen gegenüber. So ist es zum Beispiel auch heute noch keine Seltenheit, einen Arbeiter zu treffen, der einen besonders energischen Ausbeuter hasst, aber noch nicht ahnt, dass die gesamte Klasse der Ausbeuter bekämpft und selbst die Möglichkeit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt werden muss.

Nach und nach tut indes der Prozess der Verallgemeinerung das Seine, und die Unterdrückten beginnen, sich als Klasse zu verstehen. Aber sie verstehen die Besonderheiten ihrer Klassenlage noch zu einseitig: die treibenden Kräfte des gesellschaftlichen Mechanismus in seiner Gesamtheit bleiben noch vor ihrem geistigen Auge verborgen. Die Klasse der Ausbeuter stellt sich ihnen als die einfache Gesamtheit der einzelnen Unternehmer dar, unverbunden durch die Fäden der politischen Organisation. Auf dieser Stufe der Entwicklung ist in den Vorstellungen der Unterdrückten [...] der Zusammenhang zwischen ‚Gesellschaft’ und ‚Staat’ noch nicht klar. Man nimmt an, die Staatsgewalt stünde höher als der Antagonismus der Klassen, ihre Vertreter scheinen die natürlichen Richter und Aussöhner der sich befehdenden Seiten zu sein. Die unterdrückte Klasse wendet sich in vollem Vertrauen an sie und gerät in große Verwunderung, wenn die von ihrer Seite an sie gerichteten Bitten um Hilfe ohne Antwort bleiben. Ohne auf spezielle Beispiele einzugehen, wollen wir doch bemerken, dass eine ähnliche Verwirrung der Begriffe bis vor kurzem bei den englischen Arbeitern zutage trat, die einen äußerst energischen Kampf auf ökonomischem Gebiet führten und es zur selben Zeit für möglich hielten, zu der einen oder anderen bürgerlichen politischen Partei zu gehören.

Erst auf der folgenden letzten Stufe der Entwicklung macht sich die unterdrückte Klasse allseitig ihre Lage klar. Jetzt versteht sie, welcher Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Staat besteht, und appelliert auf die Schikanen ihrer Ausbeuter hin nicht an den, der das politische Organ eben dieser Ausbeutung ist. Sie weiß, dass der Staat eine Festung ist, die ihren Unterdrückern zur Stütze und Verteidigung dient, eine Festung, die man einnehmen kann und muss, die man nach den Interessen der eigenen Verteidigung umgestalten kann und muss, die man aber nicht im Vertrauen auf ihre Neutralität umgehen kann. Indem die Unterdrückten sich nur auf sich selbst verlassen, beginnen sie zu begreifen, dass die ‚politische Selbsthilfe’, wie Lange sagt, ‚die wichtigste aller Arten der sozialen Selbsthilfe ist’. Sie streben dann nach der politischen Herrschaft, um sich mittels der Veränderung der bestehenden sozialen Verhältnisse und der Anpassung des gesellschaftlichen Systems an die Bedingungen ihrer eigenen Entwicklung und ihres eigenen Wohlstands zu helfen. Natürlich erlangen sie die Herrschaft auch nicht auf einmal; nur schrittweise werden sie eine furchteinflößende Kraft, die in den Köpfen ihrer Gegner jeden Gedanken an Widerstand ausschließt. Lange Zeit suchen sie nur Zugeständnisse zu erreichen, fordern sie nur solche Reformen, die ihnen nicht die Herrschaft geben werden, sondern nur die Möglichkeit zu erstarken und reif zu werden für die zukünftige Herrschaft; Reformen, die ihre lebensnotwendigsten, allernächsten Bedürfnisse befriedigen und, wenn auch nur ein wenig, die Sphäre ihres Einflusses auf das gesellschaftliche Leben des Landes verbreiten. Nur durch eine harte Schule des Kampfes um einzelne Stückchen feindlichen Territoriums erwirbt die unterdrückte Klasse die Hartnäckigkeit, Entschlossenheit und Reife, die für die Entscheidungsschlacht unentbehrlich sind. Hat sie aber einmal diese Fähigkeiten erworben, so kann sie ihre Gegner als eine endgültig von der Geschichte verurteilte Klasse betrachten; sie kann an ihrem Sieg nicht mehr zweifeln. Die sogenannte Revolution ist nur der letzte Akt in dem langen Drama des revolutionären Klassenkampfs, der nur in dem Maße bewusst wird, wie er zum politischen Kampf wird.

Es fragt sich nun, ob die Sozialisten zweckmäßig vorgehen würden, wenn sie die Arbeiter von der ‚Politik’ fernhalten würden mit der Begründung, die politische Struktur der Gesellschaft sei durch ihre ökonomischen Verhältnisse bedingt. Natürlich nicht. Sie würden den Arbeitern einen Stützpunkt für ihren Kampf rauben, würden ihnen die Möglichkeit nehmen, ihre Anstrengungen zu konzentrieren und ihre Schläge gegen die von ihren Ausbeutern geschaffene gesellschaftliche Organisation zu richten. Stattdessen müssten die Arbeiter einen Partisanenkrieg mit den einzelnen Ausbeutern oder höchstens mit einzelnen Gruppen dieser Ausbeuter führen, auf deren Seite immer die organisiert Macht des Staates stehen würde." [3]

Durch seinen Kampf bestimmte Plechanow die wesentlichen Aufgaben der Sozialisten. Sie mussten all ihre Anstrengungen auf die Entwicklung eines politischen Klassenbewusstseins in der Arbeiterklasse konzentrieren und diese auf ihre historische Rolle als Führerin der sozialistischen Revolution vorbereiten. In dieser Definition ist auch die historische Bedeutung der Partei enthalten. Sie stellt das Instrument dar, das dieses Bewusstsein hervorbringt und entwickelt und auf der Grundlage eines bestimmten politischen Programms organisiert.

Die Schriften Plechanows stürzten die Volkstümler in eine Krise. In den späten 1880er Jahren befanden sie sich eindeutig in der Defensive gegenüber den Schlägen eines Mannes, den sie nur zehn Jahre zuvor als Abweichler von der "Volkssache" beschimpft hatten. Der politische Bankrott des Terrorismus wurde immer deutlicher. Plechanow wies nach, dass das Ziel des Terrorismus darin bestand, den Zarismus in Schrecken zu versetzen und die Herrschenden zu einer Änderung des Kurses zu bewegen. Daher bezeichneten Plechanow und die wachsende Schar von Marxisten die Terroristen als "Liberale mit Bomben" - eine Bezeichnung, die heute ebenso angemessen ist wie vor hundert Jahren. Darüber hinaus wies Plechanow nach, dass der Terrorismus, der ohne den langen Kampf für eine Hebung des Bewusstseins in der Arbeiterklasse auszukommen glaubte und die Massen durch Racheakte heldenhafter Individuum elektrifizieren wollte, nur dazu diente, die Bevölkerung zu demoralisieren und abzustumpfen.

Uljanow-Lenin tritt auf

Das bahnbrechende Werk von Plechanow beeinflusste eine ganze Generation von Intellektuellen und Jugendlichen, die in den späten 1880er und frühen 1890er Jahren in den revolutionären Kampf eintraten. Die Wirkung seiner Polemiken waren umso größer, als die gesellschaftlichen Veränderungen in Stadt und Land immer stärker mit Plechanows Analyse korrespondierten.

In den 1890er Jahren wurde zunehmend deutlich, dass Russland eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung durchlief und mit der Industrie eine immer stärker werdende Arbeiterklasse heranwuchs. Dies waren die Bedingungen, unter denen Wladimir Iljitsch Uljanow, der jüngere Bruder eines hingerichteten revolutionären Terroristen, sich der revolutionären Bewegung anschloss. Im Jahre 1894 machte er sich einen Ruf als starker Theoretiker, als er eine bemerkenswerte Kritik an den Narodniki mit dem Titel Was sind die ‚Volksfreunde’ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokratie? veröffentlichte. Auch wenn sich das Werk mit den spezifischen Bedingungen Russlands in den 1890er Jahren beschäftigt, weist es Eigenschaften auf, die es zu einem wichtigen Beitrag für die revolutionäre Arbeiterbewegung machten und ihm eine anhaltende Bedeutung verliehen.

Ein großer Teil von Uljanow-Lenins Werk ist einem Angriff auf Michailowskis subjektive Soziologie gewidmet, wie er es nannte. Er weist nach, dass sich die Politik der Narodniki nicht auf ein wissenschaftliches Studium der gesellschaftlichen Beziehungen in Russland gründete. Die Volkstümler verweigerten die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass sich die Warenproduktion stark entwickelt hatte und dass in großem Maßstab Industrien entstanden waren. Diese waren in den Händen von Einzelpersonen konzentriert, die die Arbeitskraft der besitzlosen Masse von Arbeitern kauften und ausbeuteten. Aber noch bedeutender als die ökonomische Analyse - die er in seinem nächsten Werk Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland weiter ausbaute - war Lenins Charakterisierung des Klassenstandpunkts, den die Bewegung der Narodniki einnahm. Er erklärte, dass die Volkstümler im Wesentlichen kleinbürgerliche Demokraten waren, deren Ansichten die gesellschaftliche Stellung der Bauernschaft widerspiegelten.

Lenin betonte zwar die große Bedeutung demokratischer Fragen - d.h. aller Fragen die sich auf die Abschaffung der zaristischen Autokratie, auf die Zerschlagung der Überbleibsel des Feudalismus auf dem Lande und auf die Nationalisierung des Grundbesitzes bezogen - doch er vertrat nicht weniger leidenschaftlich die Ansicht, dass es grundlegend falsch sei, den Unterschied zwischen der demokratischen und der sozialistischen Bewegung zu ignorieren. Das größte Hindernis, das der Entwicklung von Klassenbewusstsein in der Arbeiterklasse im Wege stehe, sei die Tendenz, das Proletariat den bürgerlichen und kleinbürgerlichen demokratischen Gegnern der Zarenherrschaft unterzuordnen.

In seinem wütenden Angriff auf die Ansichten Michailowskis wies Lenin nach, dass der so genannte ‚Sozialismus’ des kleinbürgerlichen Demokraten absolut nichts mit dem Sozialismus des Proletariats gemein hat. Bestenfalls reflektiere der ‚Sozialismus’ des Kleinbürgertums dessen Frustration über das starke Wachstum des Kapitals und seiner Konzentration in den Händen der Finanz- und Industriemagnaten. Der kleinbürgerliche Sozialismus sei insofern unfähig, die Entwicklung des Kapitalismus wissenschaftlich und historisch zu analysieren, als eine solche Analyse die hoffnungslose Position des Kleinbürgertums selbst beweisen würde, das alles andere als eine aufstrebende Klasse, sondern vielmehr ein Überbleibsel der ökonomischen Vergangenheit darstelle.

Für die revolutionäre sozialistische Bewegung zog Lenin die wichtige Schlussfolgerung, dass diese einen unnachgiebigen Kampf gegen den Einfluss der kleinbürgerlichen demokratischen Ideologie innerhalb der Arbeiterbewegung führen müsse. Den Arbeitern müsse erklärt werden, dass demokratischen Forderungen nichts Sozialistisches anhaftet und dass die Abschaffung der Autokratie und die Zerschlagung des Feudalbesitzes zwar historisch fortschrittlich sei, aber nicht ein Ende der Ausbeutung der Arbeiterklasse bedeute. Tatsächlich würde die Erfüllung dieser Forderungen selbst die Entwicklung des Kapitalismus erleichtern und die Ausbeutung der Lohnarbeit intensivieren. Dies bedeute nicht, dass die Arbeiterklasse nicht den demokratischen Kampf unterstützen solle. Ganz im Gegenteil: Die Arbeiterklasse müsse die Avantgarde im demokratischen Kampf stellen. Aber unter keinen Bedingungen dürfe sie diesen Kampf unter dem Banner der Bourgeoisie oder des Kleinbürgertums führen. Vielmehr müsse sie den Kampf für Demokratie führen, um ihren Kampf gegen die Bourgeoisie selbst zu erleichtern.

Er verurteilte die "Herren Vereiniger" und "Befürworter eines Bündnisses", die im Namen des Kampfs gegen den Zarismus dafür eintraten, dass die Arbeiter ihre unabhängigen Klasseninteressen zurücksteckten und, ohne sich mit programmatischen Fragen zu belasten, Bündnisse mit allen politischen Gegnern des Regimes eingehen sollten. Marxisten fördern den demokratischen Kampf nicht, indem sie sich an die Liberalen und kleinbürgerlichen Demokraten anpassen, sondern indem sie die Arbeiter in ihrer eigenen, unabhängigen Partei organisieren, die auf einem revolutionären sozialistischen Programm beruht.

Das Wesen der Volkstümler fasste Lenin folgendermaßen zusammen: "Glaubt man den schwülstigen Phrasen über die ‚Volksinteressen’ nicht aufs Wort und versucht man, tiefer zu schürfen, so wird man sehen, dass man es mit Ideologen des Kleinbürgertums von reinstem Wasser zu tun hat [...]."

Am Ende seines Werkes betonte Lenin, es sei die vordringliche Aufgabe der revolutionären Partei, dass sie den Arbeiter "über seine Stellung aufklärt, über die politisch-ökonomische Struktur des ihn unterdrückenden Systems und über die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit des Klassenantagonismus in diesem System. [...] Wenn die fortgeschrittenen Repräsentanten der Arbeiterklasse sich die Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus zu eigen gemacht haben, wenn sie sich der historischen Rolle des russischen Arbeiters bewusst sind, wenn diese Ideen weite Verbreitung erlangen, die Arbeiter feste Organisationen gegründet und diese den heute zersplitterten ökonomischen Kampf der Arbeiter in bewusst geführten Klassenkampf verwandelt haben - dann wird sich der russische ARBEITER erheben, sich an die Spitze aller demokratischen Elemente stellen, den Absolutismus stürzen und das RUSSISCHE PROLETARIAT (Schulter an Schulter mit dem Proletariat ALLER LÄNDER) auf dem direkten Wege des offenen politischen Kampfes der SIEGREICHEN KOMMUNISTISCHEN REVOLUTION entgegenführen." [4]

Schon in diesem bedeutenden Werk legte Lenin in ziemlich entwickelter Form die Auffassungen dar, die später den Aufbau der Bolschewistischen Partei anleiten sollte. Lenin erfand nicht das Konzept der Partei oder der unabhängigen politischen Organisation der Arbeiterklasse. Aber er verlieh diesen Konzepten eine politische und ideologische Konkretheit, die ohnegleichen war. Er war überzeugt, dass die politische Organisation der Arbeiterklasse nicht bloß durch Maßnahmen mit praktischem Charakter zu erreichen war, sondern durch einen erbarmungslosen theoretischen und politischen Kampf gegen alle ideologischen Formen, mit denen die Bourgeoisie die Arbeiterklasse zu beeinflussen und zu dominieren versucht. Die politische Einheit der Arbeiterklasse verlange einen unnachgiebigen Kampf gegen alle Theorien und Programme, die die Interessen fremder Klassenkräfte widerspiegeln, die politische Homogenität der Arbeiterklasse könne nur auf der Grundlage höchsten theoretischen Bewusstseins erreicht werden.

Im Jahre 1900 schrieb Lenin in einem Artikel mit dem Titel Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung das Folgende:

"Die Sozialdemokratie ist die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus, ihre Aufgabe besteht nicht darin, der Arbeiterbewegung in jedem einzelnen Stadium passiv zu dienen, sondern darin, die Interessen der Gesamtbewegung als Ganzes zu vertreten, dieser Bewegung ihr Endziel, ihre politischen Aufgaben zu weisen, ihre politische und ideologische Selbständigkeit zu wahren. Von der Sozialdemokratie losgerissen, verflacht die Arbeiterbewegung und verfällt unweigerlich in Bürgerlichkeit: führt die Arbeiterklasse nur den ökonomischen Kampf, so verliert sie ihre politische Selbständigkeit, wird sie zum Anhängsel anderer Parteien und übt Verrat an dem großen Vermächtnis: ‚Die Befreiung der Arbeiter muss das Werk der Arbeiter sein.’ In allen Ländern hat es eine Periode gegeben, in der Arbeiterbewegung und Sozialismus getrennt voneinander bestanden und getrennte Wege gingen - und in allen Ländern hat diese Trennung Schwäche des Sozialismus und der Arbeiterbewegung zur Folge gehabt; in allen Ländern hat erst die Vereinigung des Sozialismus mit der Arbeiterbewegung eine feste Grundlage für beide geschaffen." [5]

Als Lenin diese Worte schrieb, führte er einen erbitterten Kampf gegen eine neue Tendenz, die innerhalb der russischen Sozialdemokratie entstanden war: den Ökonomismus, der mit dem Anwachsen des Bernsteinschen Revisionismus in Deutschland verbunden war. Im Wesentlichen bestanden die Ansichten der Ökonomisten in einem Kleinreden des revolutionären politischen Kampfes. Stattdessen passten sich die Ökonomisten an die spontanen Bewegungen der Arbeiterklasse Mitte der 1890er Jahre an und vertraten den Standpunkt, dass sich die sozialdemokratische Bewegung auf die Entwicklung von Streiks und anderen Aspekten des wirtschaftlichen Kampfes der Arbeiterklasse konzentrieren sollte. Aus dieser Anschauung ergab sich logisch, dass die Arbeiterbewegung ihre revolutionären sozialistischen Ziele als praktisches Vorhaben aufgeben sollte. Der Ehrenplatz im politischen Kampf gegen die Autokratie sollte der liberal-demokratischen bürgerlichen Opposition überlassen werden. Das unabhängige revolutionäre Programm, das Plechanow und Lenin verkündet hatten, sollte über Bord geworfen werden. Stattdessen wollte man sich Gewerkschaftsaktivitäten zuwenden, mit denen die ökonomischen Bedingungen der Arbeiterklasse im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft verbessert werden sollten. So schrieb E. D. Kuskowa in dem berüchtigten Credo, das 1899 erschien:

"Der unduldsame Marxismus, der verneinende Marxismus, der primitive Marxismus (der eine allzu schematische Vorstellung von der Klassenteilung der Gesellschaft hat) wird dem demokratischen Marxismus Platz machen, und die soziale Stellung der Partei in der heutigen Gesellschaft muss sich radikal ändern. Die Partei wird die Gesellschaft anerkennen, ihre eng korporativen, in den meisten Fällen sektiererischen Aufgaben erweitern sich zu gesellschaftliche Aufgaben, und ihr Streben nach Ergreifung der Macht wird zum Streben nach Änderungen, Reformierung der heutigen Gesellschaft in demokratischer Richtung, angepasst an die heutige Lage der Dinge, mit dem Ziel möglichst erfolgreicher, möglichst vollständiger Verteidigung der Rechte (jeder Art) der werktätigen Klassen."

Aber das war noch nicht Alles. Das Credo erklärte, das "Gerede von einer selbständigen politischen Arbeiterpartei ist nichts anderes als ein Produkt der Übertragung fremder Aufgaben, fremder Resultate auf unseren Boden". [6]

Das Auftreten des Ökonomismus war Teil eines internationalen Phänomens: Unter Bedingungen, wo der Marxismus die vorherrschende politische und ideologische Kraft in der Arbeiterbewegung Westeuropas geworden war, entwickelte sich innerhalb dieser Arbeiterbewegung etwas, das auf eine bürgerliche Opposition gegen den Marxismus hinauslief. Mit anderen Worten, das Anwachsen des Revisionismus stellte, wie ich bereits erklärt habe, den Versuch kleinbürgerlicher Ideologen des Kapitalismus dar, die Ausdehnung des marxistischen Einflusses innerhalb der Arbeiterbewegung zu verhindern und zu unterlaufen. Im Jahre 1899 waren die Konsequenzen des Revisionismus schon ziemlich klar geworden, als der französische Sozialist Millerand in eine bürgerliche Regierung eintrat.

Das Aufbrechen des Opportunismus rief eine Krise in der internationalen Sozialdemokratie hervor. Wie ich schon bemerkt hatte, war Plechanow der Erste, der dagegen Stellung bezog. Später leistete Rosa Luxemburg mit ihrer großartigen Broschüre Sozialreform oder Revolution? einen wichtigen Beitrag zu dem Kampf. Widerwillig wurden die deutschen Sozialdemokraten in die Auseinandersetzung gezogen. Aber nirgendwo war der Kampf gegen den Opportunismus so vollkommen entwickelt wie in Russland, unter der Führung von Lenin.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die russische sozialistische Bewegung keine einheitliche politische Organisation. Es existierten zahllose Tendenzen und Gruppen, die sich selbst als sozialistisch und sogar marxistisch bezeichneten, aber ihre politische und praktische Arbeit auf lokaler Basis oder als Vertreter einer bestimmten ethnischen oder religiösen Gruppe innerhalb der Arbeiterklasse leisteten. Der jüdische Bund war die bekannteste unter den letztgenannten Organisationen.

Als die russische Arbeiterbewegung in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre an Stärke gewann, wurde die programmatische und organisatorische Geschlossenheit zur offensichtlichen und dringenden Aufgabe. Der erste Versuch, einen gesamtrussischen Kongress der Sozialdemokraten in Minsk 1898 abzuhalten, scheiterte an der Polizeirepression und der Verhaftung von Delegierten. Nach diesem Rückschlag verkomplizierten sich die Pläne zur Einberufung eines Parteitags durch den zunehmend heterogenen Charakter der russischen sozialistischen Bewegung. Das Aufkommen der Ökonomistischen Tendenz war ein bedeutender Ausdruck dieser Entwicklung.

Auch wenn Plechanow immer noch als theoretischer Führer des russischen Sozialismus verehrt wurde, trat Uljanow-Lenin als wichtigste Gestalt im Zuge der intensiven Vorbereitungsarbeiten für die Einberufung eines Vereinigungsparteitages der russischen Sozialdemokraten hervor. Die Grundlage seines Einflusses war seine führende Rolle bei der Herausgabe der neuen politischen Zeitung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands mit dem Namen Iskra (Der Funke). Unter der Emigrantenbewegung und unter den Marxisten, die praktische revolutionäre Arbeit in Russland leisteten, gewann die Iskra ein enormes Prestige, weil sie theoretische, politische und organisatorische Geschlossenheit auf einer gesamtrussischen Basis für eine Bewegung bot, die ohne sie vereinzelt und verstreut geblieben wäre.

Die erste Ausgabe der Iskra erschien im Dezember 1900. Lenin erklärte in einer größeren Stellungnahme auf der Titelseite: "Die politische Entwicklung und die politische Organisation der Arbeiterklasse zu fördern - das ist unsere wichtigste und grundlegende Aufgabe. Jeder, der diese Aufgabe in den Hintergrund schiebt, der ihr nicht alle Teilaufgaben und einzelnen Kampfmethoden unterordnet, beschreitet einen falschen Weg und fügt der Sache ernsten Schaden zu."

In Worten, die auch nach einem Jahrhundert für die heutigen Bedingungen hochrelevant bleiben, kritisierte Lenin jene, "die es für möglich und angebracht halten, den Arbeitern nur in besonderen Momenten ihres Lebens, nur bei feierlichen Anlässen ‚Politik’ vorzusetzen [...]". Lenin griff die Vertreter der Ökonomistischen Tendenz scharf an, für die das militante Gewerkschaftertum und die Agitation für wirtschaftliche Forderungen das Alpha und Omega radikaler Aktivität in der Arbeiterklasse bildeten. Er bestand darauf, dass die entscheidende Aufgabe, vor der die Sozialisten standen, die politische Erziehung der Arbeiterklasse und der Aufbau ihrer unabhängigen sozialistischen Partei sei. "Keine einzige Klasse in der Geschichte ist zur Herrschaft gelangt", schrieb Lenin, "ohne ihre eigenen politischen Führer, ihre fortschrittlichen Vertreter hervorgebracht zu haben, die fähig waren, die Bewegung zu organisieren und zu leiten.". Mit etwas lakonischen Worten schloss Lenin mit dem Vorschlag: "Den Organisationsfragen beabsichtigen wir in den nächsten Nummern eine Reihe von Artikeln zu widmen. Das ist einer unserer wundesten Punkte." [7]

Was aus diesem Vorschlag hervorging, war die wahrscheinlich brillanteste, einflussreichste und umstrittenste politische Schrift des 20. Jahrhunderts, Lenins Was tun?. Angesichts der erbitterten Kontroversen, die dieses Buch insbesondere nach der Bolschewistischen Revolution von 1917 provozierte, ist es bemerkenswert, dass Was tun? bei seiner Erstveröffentlichung 1902 von führenden russischen Sozialdemokraten - und besonders wichtig, von Plechanow - als Erklärung der Parteiprinzipien zu Fragen der politischen Aufgaben und der Organisation anerkannt wurde. Dies ist von politischer Bedeutung, da viele Verleumder von Lenins Broschüre behaupten, Was tun? habe ein konspiratives und totalitäres Element in den Marxismus eingeführt, das nicht aus dem klassischen Marxismus abzuleiten sei. Wir wollen uns mit dieser Kritik auseinandersetzen, wenn wir uns mit dem Werk beschäftigen.

Was tun?

Lenin setzt sich eingangs mit der Forderung der russischen Ökonomisten - d.h. der russischen Anhänger von Eduard Bernstein - nach "Freiheit der Kritik" auseinander. Er stellt diese Parole - die zunächst einmal überaus demokratisch und ansprechend klingt - in den Kontext der Auseinandersetzung, die in den Reihen der internationalen Sozialdemokratie zwischen den Verteidigern des orthodoxen Marxismus und den Revisionisten tobt, die einen systematischen theoretischen und politischen Angriff auf diese Orthodoxie begonnen haben.

Lenin bemerkt, dass Bernsteins theoretische Revisionen der programmatischen Grundlagen der deutschen Sozialdemokratischen Partei ihren logischen politischen Ausdruck darin gefunden haben, dass der französische Sozialist Alexandre Millerand der Regierung von Waldeck-Rousseau beigetreten ist, und stellt dann fest, dass "die ‚Freiheit der Kritik’ die Freiheit der opportunistischen Richtung in der Sozialdemokratie ist, die Freiheit, die Sozialdemokratie in eine demokratische Reformpartei zu verwandeln, die Freiheit bürgerliche Ideen und bürgerliche Elemente in den Sozialismus hineinzutragen". [8]

Niemand verweigere den Revisionisten das Recht, Kritik zu üben, antwortet er den Ökonomisten. Aber die Marxisten, darauf beharrte er, hätten ebenso das Recht, diese Kritik zurückzuweisen und dagegen zu kämpfen, dass die Sozialdemokratie in eine reformistische Partei verwandelt werden solle.

Lenin geht dann kurz auf die Ursprünge der ökonomistischen Tendenz in Russland ein und bemerkt, dass sie theoretischen Fragen gleichgültig gegenüberstehe. Er stellt fest, dass die von den Ökonomisten "vielgerühmte Freiheit der Kritik nicht das Ablösen einer Theorie durch eine andere bedeutet, sondern das Freisein von jeder geschlossenen und durchdachten Theorie, dass sie Eklektizismus und Prinzipienlosigkeit bedeutet". Die Revisionisten, so Lenin, rechtfertigen diese Gleichgültigkeit gegenüber der Theorie mit einem aus dem Zusammenhang gerissenen Ausspruch von Marx, wonach jeder Schritt wirklicher Bewegung wichtiger sei als ein Dutzend Programme. "Diese Worte in einer Zeit der theoretischen Zerfahrenheit wiederholen", antwortet Lenin, "ist dasselbe, als wolle man beim Anblick eines Leichbegräbnisses ausrufen: ‚Mögen euch immer so glückliche Tage beschieden sein!’" [9]

Es folgen Worte, die nicht oft genug zitiert werden können: "Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser Gedanke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart." [10] Er argumentiert, dass " nur eine Partei [...] , die von einer fortgeschrittenen Theorie geleitet wird ", die revolutionäre Führung der Arbeiterklasse übernehmen kann, und erinnert daran, welche große Bedeutung Engels der revolutionären Theorie beimaß: "Engels spricht nicht von zwei Formen des großen Kampfes der Sozialdemokratie (dem politischen und dem ökonomischen) - wie das bei uns üblich ist - sondern von drei, indem er neben diese auch den theoretischen Kampf stellt." [11] Weiterhin zitiert Lenin folgende Aussage Engels: "Ohne Vorausgang der deutschen Philosophie, namentlich Hegels, wäre der deutsche wissenschaftliche Sozialismus - der einzige wissenschaftliche Sozialismus, der je existiert hat - nie zustande gekommen. Ohne theoretischen Sinn unter den Arbeitern wäre dieser wissenschaftliche Sozialismus nie so sehr in ihr Fleisch und Blut übergegangen, wie dies der Fall ist." [12]

Das zweite Kapitel von Was tun? trägt die Überschrift "Spontaneität der Massen und Bewusstheit der Sozialdemokratie". Dies ist zweifellos der wichtigste Abschnitt von Lenins Broschüre und unvermeidlich derjenige, der den unablässigen Angriffen und Falschdarstellungen am stärksten ausgesetzt war. In diesem Teil des Buches, erklärt man uns regelmäßig, erweise sich Lenin als arrogant und elitär, blicke voller Verachtung auf die Masse der Arbeiter und ihre Erwartungen, zeige sich feindlich gegenüber ihren tagtäglichen Kämpfen, giere nach persönlicher Macht und träume nur von dem Tag, an dem er und seine verfluchte Partei ihre erbarmungslose totalitäre Diktatur über die arglose russische Arbeiterklasse errichten könnten. Es lohnt sich, diesen Abschnitt des Werks mit besonderer Sorgfalt zu untersuchen.

Die zentrale Frage, die Lenin analysiert, ist einerseits das Wesen der Beziehung zwischen dem Marxismus und der revolutionären Partei und andererseits die spontane Bewegung der Arbeiterklasse und die Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins, die sich im Laufe dieser Bewegung unter Arbeitern entwickeln. Er beginnt, ausgehend von den Klassenkonflikten der 1860er und 1870er Jahre, die Herausbildung von Bewusstseinsformen unter russischen Arbeitern nachzuvollziehen.

Der Charakter dieser Kämpfe war äußerst primitiv. Unter anderem zerstörten die Arbeiter Maschinen. Die spontanen Ausbrüche wurden von Verzweiflung getrieben, es fehlte ihnen jedes Verständnis für den sozialen Inhalt und den Klassencharakter der Revolte, Klassenbewusstsein gab es nur in einer "Keimform".

Die Situation, die sich drei Jahrzehnte später entwickelte, war bedeutend fortgeschrittener. Verglichen mit den frühen Kämpfen offenbarten die Streiks der 1890er Jahre ein wesentlich höheres Niveau an Klassenbewusstsein unter den Arbeitern. Die Streiks waren viel besser organisiert und es wurden sogar recht detaillierte Forderungen aufgestellt. Aber das Bewusstsein, das die Arbeiter in diesen Kämpfen zeigten, war eher gewerkschaftlich als sozialdemokratisch geprägt. Das heißt, in den Streiks wurden weder politischen Forderungen aufgestellt, noch zeigte sich in ihnen ein Verständnis des unversöhnlichen Konflikts zwischen den Arbeitern und der vorherrschenden sozioökonomischen und politischen Ordnung. Die Arbeiter versuchten lediglich, ihr Los im Rahmen des bestehenden Gesellschaftssystems zu verbessern.

Diese Beschränkung war unvermeidlich, weil die spontane Bewegung der Arbeiterklasse nicht aus sich selbst heraus, "spontan" ein sozialdemokratisches, d.h. revolutionäres Bewusstsein entwickeln konnte. An dieser Stelle führt Lenin das Argument an, das so viele Verleumdungen provoziert hat. Er schreibt:

"Wir haben gesagt, dass die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewusstsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, dass die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewusstsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abtrotzen u.a.m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. Ebenso entstand auch in Russland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches und unvermeidliches Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revolutionären sozialistischen Intelligenz." [13]

Um sein Verständnis der Beziehung zwischen dem Marxismus und des sich spontan entwickelnden gewerkschaftlichen, d.h. bürgerlichen Bewusstseins der Arbeiterklasse zu untermauern, zitiert Lenin Karl Kautskys Kommentare zum Programmentwurf der österreichischen Sozialdemokratischen Partei:

"’Je mehr die Entwicklung des Kapitalismus das Proletariat anschwellen macht, desto mehr wird es gezwungen und befähigt, den Kampf gegen ihn aufzunehmen. Es kommt zum Bewußtsein’ der Möglichkeit und Notwendigkeit des Sozialismus etc. In diesem Zusammenhang erscheint das sozialistische Bewusstsein als das notwendige direkte Ergebnis des proletarischen Klassenkampfes. Das ist aber falsch. Der Sozialismus als Lehre wurzelt allerdings ebenso in den heutigen ökonomischen Verhältnissen wie der Klassenkampf des Proletariats, entspringt ebenso wie dieser aus dem Kampfe gegen die Massenarmut und das Massenelend, das der Kapitalismus erzeugt; aber beide entstehen nebeneinander, nicht auseinander, und unter verschiedenen Voraussetzungen. Das moderne sozialistische Bewusstsein kann nur entstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht. In der Tat bildet die heutige ökonomische Wissenschaft ebenso eine Vorbedingung sozialistischer Produktion wie etwa die heutige Technik, nur kann das Proletariat beim besten Willen die eine ebensowenig schaffen wie die andere; sie entstehen beide aus dem heutigen gesellschaftlichen Prozess. Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz (hervorgehoben von K.K.); in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hineingetragen, wo die Verhältnisse es gestatten. Das sozialistische Bewusstsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes. Dem entsprechend sagt auch das alte Hainfelder Programm ganz richtig, dass es zu den Aufgaben der Sozialdemokratie gehöre, das Proletariat mit dem Bewusstsein (hervorgehoben von K.K.) seiner Lage und seiner Aufgaben zu erfüllen. Das wäre nicht notwendig, wenn dies Bewusstsein von selbst aus dem Klassenkampf entspränge." [14]

Aus dieser Passage zieht Lenin den folgenden Schluss:

"Kann nun von einer selbständigen, von den Arbeitermassen im Verlauf ihrer Bewegung selbst ausgearbeiteten Ideologie keine Rede sein, so kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht (denn eine ‚dritte’ Ideologie hat die Menschheit nicht geschaffen, wie es überhaupt in einer Gesellschaft, die von Klassengegensätzen zerfleischt wird, niemals eine außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehen Ideologie geben kann). Darum bedeutet jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abschwenken von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie. Man redet von Spontaneität. Aber die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung führt eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie, sie verläuft eben nach dem Programm des ‚Credo’, denn spontane Arbeiterbewegung ist Trade-Unionismus, ist Nur-Gewerkschafterei, Trade-Unionismus aber bedeutet eben ideologische Versklavung der Arbeiter durch die Bourgeoisie. Darum besteht unsere Aufgabe, die Aufgabe der Sozialdemokratie, im Kampf gegen die Spontaneität, sie besteht darin, die Arbeiterbewegung von dem spontanen Streben des Trade-Unionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben, abzubringen und sie unter die Fittiche der revolutionären Sozialdemokratie zu bringen." [15]

Bürgerliche Kritik an Was tun?

Diese Passagen sind immer wieder als der Inbegriff des bolschewistischen "Elitismus" angeprangert worden, in denen sich zudem der Keim zukünftiger totalitärer Entwicklung erkennen ließe. In einem Buch mit dem Titel Die Saat des Bösen bezeichnet Robin Blick, ein ehemaliger Trotzkist, den oben zitierten Satz (in dem Lenin "von dem spontanen Streben des Trade-Unionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben" spricht) als "eine absolut außergewöhnliche Formulierung für jemanden, der sich normalerweise so sehr um die Verteidigung marxistischer ‚Orthodoxie’ bemüht. Sie steht in ihrer Unverfrorenheit sicherlich nicht hinter den Revisionen des Marxismus zurück, die der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein unternommen hat. [...] Marx und Engels haben in ihren Schriften nie eine ausgearbeitete Doktrin des politischen Elitismus und der organisatorischen Manipulation dargelegt." [16]

Wesentlich weiter entwickelt findet sich dieses Argument in dem bekannten Werk des akademischen Philosophen Leszek Kolakowski Die Hauptströmungen des Marxismus, das als dreibändiges Werk erstmals im Jahre 1977 erschien. Kolakowski tut Lenins Feststellung, die spontane Arbeiterbewegung könne keine sozialistische Anschauung entwickeln und sei daher zwangsläufig von der bürgerlichen Ideologie geprägt, als etwas "Neues" und "Eigentümliches" ab. Noch mehr beunruhigt Kolakowski die Schlussfolgerung, die Arbeiterbewegung müsse einen bürgerlichen Charakter annehmen, wenn sie nicht von einer sozialistischen Partei geführt werde. "Diese erste wird durch eine zweite Schlussfolgerung ergänzt: Die Arbeiterbewegung im eigentlichen Wortsinne, also die politische, revolutionäre Bewegung, definiert sich überhaupt nicht dadurch, dass sie eine Bewegung der Arbeiter ist, sondern durch die Tatsache, dass sie die ‚richtige’, d.h. marxistische, d.h. per definitionem ‚proletarische’ Ideologie besitzt. Anders gesagt, spielt die klassenmäßige Zusammensetzung der revolutionären Partei für die Bestimmung ihres Klassencharakters keine Rolle". [17]

Er lässt ein paar abfällige und zynische Bemerkungen fallen und behauptet spöttisch: "Die Partei weiß, was im ‚historischen’ Interesse des Proletariats liegt und wie jeweils das wahre Bewusstsein des Proletariats beschaffen sein muss, an welches das empirische Bewusstsein in der Regel nicht heranreicht." [18] Kolakowski hält solche Bemerkungen für unglaublich clever. Seiner Ansicht nach decken sie die absurde Anmaßung einer kleinen politischen Partei auf, ihr Programm artikuliere die Interessen der Arbeiterklasse, auch wenn die große Mehrheit der Arbeiter mit diesem Programm nicht übereinstimmt oder es noch nicht einmal versteht. Doch Argumente dieser Art erscheinen nur so lange clever, wie man nicht sorgfältig über sie nachdenkt.

Wenn Kolakowskis Argument korrekt ist - welchen Bedarf gibt es dann für irgendeine politische Partei, sei sie eine Arbeiterpartei oder eine bürgerliche Partei? Ist es letztlich nicht so, dass alle politischen Parteien und ihre Führer für sich beanspruchen, im Namen einer größeren gesellschaftlichen Gruppe zu sprechen und deren Interessen zu artikulieren? Wenn man die Geschichte der Bourgeoisie betrachtet, dann wurden ihre Interessen als Klasse von politischen Parteien identifiziert, definiert und artikuliert. Und ihre Führer waren nicht selten dazu gezwungen in der Opposition zu arbeiten, als kleine Minderheitsfraktion oder sogar in der Illegalität, bis sie ihre Klasse oder zumindest deren wichtigste Teile für die Perspektive und das Programm gewonnen hatten, für das sie kämpften.

Der Puritanismus existierte in England über ein halbes Jahrhundert hinweg als religiös-politische Tendenz, bevor er sich zur vorherrschenden Tendenz in der aufsteigenden Bourgeoisie entwickelte und unter der Führung Cromwells den Sieg der Revolution über die Stuart-Monarchie sicherte. Einhundertfünfzig Jahre später gingen die Jakobiner als Partei politisch mobilisierter Rousseau-Anhänger aus den erbitterten Fraktionskämpfen innerhalb der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums zwischen 1789 und 1792 als Führung der Französischen Revolution hervor. Nicht weniger bedeutende Beispiele können in der amerikanischen Geschichte gefunden werden, von der Zeit vor der Unabhängigkeit bis heute.

Ein politisches Programm, das die "objektiven" Interessen einer Klasse zum Ausdruck bringt - d.h. ein Programm, das die Mittel erkennt und programmatisch formuliert, die für die Verwirklichung der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen einer Klasse erforderlich sind - wird zu einem gegebenen Zeitpunkt möglicherweise nicht von der Mehrheit oder nicht einmal von einem großen Teil einer Klasse als solches anerkannt.

Die Geschichte hat eindeutig bewiesen, dass die Abschaffung der Sklaverei zur Konsolidierung des amerikanischen Nationalstaats führte und eine enorme Beschleunigung des kapitalistischen Industrie- und Wirtschaftswachstums bewirkte. Und doch waren die politischen Vorkämpfer gegen die Sklaverei, die Abolitionisten, gezwungen, über mehrere Jahrzehnte hinweg einen erbitterten Kampf gegen den heftigen Widerstand der Bourgeoisie der Nordstaaten zu führen, die eine Konfrontation mit den Südstaaten scheute und ablehnte. Die kleine Gruppe der Abolitionisten verstand weitaus besser als die große Zahl der Unternehmer, Kaufleute, Bauern und auch Arbeiter im Norden, was das Beste für die langfristige Entwicklung des amerikanischen Nationalstaats und des Kapitalismus in den Nordstaaten war. Natürlich bezogen sich die Abolitionisten des frühen 19. Jahrhunderts nicht ausdrücklich auf ihre "Klasse", als sie ihr Programm und ihre Handlungen erklärten. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie in der Sprache ihrer Zeit die Interessen der aufsteigenden Bourgeoisie im Norden zum Ausdruck brachten, die von den politisch weitsichtigsten Teilen dieser Klasse wahrgenommen wurden.

Ein jüngeres Beispiel für eine politische Partei, die die objektiven Interessen der Bourgeoisie benannte und gegen den Widerstand großer Teile dieser Klasse für sie kämpfte, war die Demokratische Partei unter Roosevelt. Er repräsentierte die Minderheitsfraktion in der amerikanischen Bourgeoisie, die davon überzeugt war, dass der Kapitalismus in den Vereinigten Staaten nur durch größere Sozialreformen und bedeutende Zugeständnisse an die Arbeiterklasse zu retten sei.

Ich möchte auch hervorheben, dass die herrschenden Eliten Hunderte und Tausende von Experten in ihren Dienst stellen, die sich mit politischen Programmen, Soziologie, Wirtschaft und außenpolitischen Fragen beschäftigen und der herrschenden Klasse helfen, ihre eigenen objektiven Interessen zu erkennen. Zwar ist es aus Gründen, auf die ich noch eingehen werde, für den durchschnittlichen Bourgeois deutlich einfacher als für den Durchschnittsarbeiter, seine wahren Klasseninteressen zu erfassen, aber die Entwicklung der Politik der herrschenden Klasse kann nie einfach nur eine direkte Widerspiegelung dessen sein, was der "durchschnittliche" amerikanische Unternehmer oder der "durchschnittliche" millionenschwere Vorstandsvorsitzende denkt.

Kolakowskis Behauptung, Lenins Verständnis der Beziehungen zwischen der sozialistischen Partei und der Entwicklung von Bewusstsein gründe sich nicht auf den Marxismus, setzt voraus, dass er das von Marx und Engels zu dieser Frage Geschriebene einfach ignoriert. In Die heilige Familie erklärten sie im Jahre 1844 zur Entwicklung des sozialistischen Programms:

"Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet." [19]

In einem anderen Buch, das Was tun? angreift, wird die oben zitierte Passage angeführt - aber nicht, um lediglich Lenin zu diskreditierten, wie dies Kolakowski tut. Der britische Historiker Neil Harding vertritt die Auffassung, dass Lenin tatsächlich ein orthodoxer Marxist war. Die Konzeptionen, die in Was tun? entwickelt werden, basieren schließlich auf dem, was Marx selbst in Die heilige Familie geschrieben hat. Daher ist nach Harding "die privilegierte Rolle, die der sozialistischen Intelligenz zugeschrieben wird, um den Groll des Proletariats zu organisieren und zu artikulieren und dessen politischen Kampf zu führen, keineswegs eine leninistische Abweichung vom Marxismus, sondern wesentlich für die Arroganz des Marxismus als Ganzem. Marx (und alle nachfolgenden Marxisten) mussten behaupten, dass sie sich der langfristigen Interessen und Ziele des Proletariats viel tiefer bewusst seien, als jeder Proletarier oder eine Gruppe von Proletariern dies jemals sein kann." [20]

Obwohl Kolakowski behauptet, Lenin habe Marx revidiert, und Harding darauf beharrt, dass Lenin sich auf Marx stütze, greifen beide Was tun? vom gleichen Ausgangspunkt an: Sie weisen den Anspruch zurück, dass sozialistisches Klassenbewusstsein durch eine politische Partei in die Arbeiterklasse getragen werden müsse und dass eine Partei von sich behaupten könne, die objektiven Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten.

Die marxistische Auffassung, es gebe eine objektive Wahrheit, entspringt einer engen Beziehung zur Wissenschaft, der Überzeugung, dass die Welt im objektiven Sinne erkennbar ist, dass sie Gesetzen unterliegt "und dass die systematische, verallgemeinerte (oder ‚objektive’) Kenntnis der Wissenschaft dem ‚subjektiven’ Wissen, das durch unmittelbare Erfahrung gewonnen wird, überlegen ist". [21]

Harding attackiert die marxistische Vorstellung, dass die objektive Wahrheit getrennt oder sogar im Gegensatz zu den Erkenntnissen betrachtet werden müsse, wie sie aus Meinungsumfragen gewonnen werden. Er schreibt: "Was die Grundlagen seiner Parteitheorie betrifft, ist der Leninismus gänzlich ein Kind des Marxismus. Er beruht auf einem ähnlichen Anspruch, über eine besondere Art des Wissens zu verfügen, und einer ähnlich arroganten, anmaßenden Auffassung, die proletarische Sache könne nicht verstanden werden, indem man einfach die Arbeiter um ihre Meinung fragt." [22]

Harding benutzt den schicken postmodernistischen Jargon, der bei ehemals linken Akademikern so beliebt ist und der wissenschaftliche Kenntnis lediglich als "privilegierten" Diskurs definiert, dem es völlig unabhängig von der Qualität seines Inhalts gelungen ist, seine Überlegenheit über andere, kulturell weniger bevorzugte Ausdrucksweisen zu etablieren. Auf dieser Grundlage weist er den "zwielichtigen Begriff der historischen Immanenz" zurück, dem sich Marx und Lenin verschrieben hätten, die Vorstellung "dass ein umfassendes Studium der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmte allgemeine Tendenzen offen legen würde, die, einmal da und vorherrschend, den Menschen dazu bewegen, auf gegebene Art zu handeln." [23]

Wissenschaft, Gesellschaft und Arbeiterklasse

Dies bringt uns zu den zentralen theoretischen und philosophischen Fragen, die nicht nur Lenins Vorstellung von der Rolle der Partei, sondern dem gesamten marxistischen Unterfangen zugrunde liegen. Wenn die Wahrnehmungen und Ansichten, die Arbeiter aufgrund ihrer unmittelbaren Erfahrung entwickeln, ebenso gültig und begründet sind wie das Wissen, das durch Einsicht in die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung gewonnen wird, wie Harding behauptet, dann gibt es keinen Bedarf für eine politische Partei, die danach strebt, ihre Praxis mit wissenschaftlich erkannten gesetzmäßigen Tendenzen in Einklang zu bringen. Ausgehend von Hardings Argumenten kann man bestreiten, dass überhaupt eine Notwendigkeit für Wissenschaft in irgendeiner Form besteht. Ausgangspunkt der Wissenschaft ist der Unterschied zwischen der Realität, wie sie sich in unmittelbaren Sinneseindrücken zeigt, und der Realität, die durch einen komplexen und langen Prozess der Analyse und theoretischen Abstraktion hervortritt.

Die wesentliche Frage lautet: Kann die objektive gesellschaftliche Realität - vorausgesetzt, man akzeptiert die Existenz einer solchen Realität (was für viele Akademiker mit einem großen Wenn einhergeht) - von einem einzelnen Arbeiter oder der Arbeiterklasse als Ganzer auf der Basis unmittelbarer Erfahrung verstanden werden? Diese Frage studierte Lenin eingehend, insbesondere als er sieben Jahre später die theoretische Schrift Materialismus und Empiriokritizismus verfasste. Lenin schrieb: "Wenn die Menschen miteinander in Verkehr treten, sind sie sich in allen einigermaßen komplizierten Gesellschaftsformationen - und insbesondere in der kapitalistischen Gesellschaftsformation - nicht bewusst, was für gesellschaftliche Verhältnisse sich daraus bilden, nach welchen Gesetzen sie sich entwickeln usw. Zum Beispiel: der Bauer, der Getreide verkauft, tritt mit den Weltgetreideproduzenten auf dem Weltmarkt in ‚Verkehr’, aber er ist sich dessen nicht bewusst, ebenso wenig, wie er sich bewusst ist, welche gesellschaftlichen Beziehungen aus dem Austausch entstehen. Das gesellschaftliche Bewusstsein widerspiegelt das gesellschaftliche Sein - darin besteht die Lehre von Marx. Die Widerspiegelung kann eine annähernd richtige Kopie des Widergespiegelten sein, aber es ist unsinnig, hier von Identität zu sprechen." [24]

"Jeder einzelne Produzent in der Weltwirtschaft ist sich bewusst, dass er die und die Änderung in die Produktionstechnik hineinbringt, jeder Warenbesitzer ist sich bewusst, dass er die und die Produkte gegen andere austauscht, doch diese Produzenten und Warenbesitzer sind sich nicht bewusst, dass sie dadurch das gesellschaftliche Sein verändern. Die Summe aller dieser Veränderungen in allen ihren Verästelungen hätten innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft auch 70 Marxe nicht bewältigen können. Das Höchste, was geleistet werden kann, war, dass die Gesetze dieser Veränderungen entdeckt wurden, dass die objektive Logik dieser Veränderungen und ihrer geschichtlichen Entwicklung in den Haupt- und Grundzügen aufgezeigt wurde - objektiv nicht in dem Sinne, dass eine Gesellschaft von bewussten Wesen, von Menschen, existieren und sich entwickeln könnte unabhängig von der Existenz bewusster Wesen (nur diese Albernheit unterstreicht aber Bogdanow gerade mit seiner ‚Theorie’), sondern in dem Sinne, dass das gesellschaftliche Sein unabhängig ist von dem gesellschaftlichen Bewusstsein der Menschen. Aus der Tatsache, dass ihr lebt und wirtschaftet, Kinder gebärt und Produkte erzeugt, sie austauscht, entsteht eine objektiv notwendige Kette von Ereignissen, eine Entwicklungskette, die von eurem gesellschaftlichen Bewusstsein unabhängig ist, die von diesem niemals restlos erfasst wird. Die höchste Aufgabe der Menschheit ist es, diese objektive Logik der wirtschaftlichen Evolution (der Evolution des gesellschaftlichen Seins) in den allgemeinen Grundzügen zu erfassen, um derselben ihr gesellschaftliches Bewusstsein und das der fortgeschrittenen Klassen aller kapitalistischen Länder so deutlich, so klar, so kritisch als möglich anzupassen." [25]

In welchem Maße sind sich Menschen, die arbeiten gehen, des riesigen Netzes weltweiter Wirtschaftsverbindungen bewusst, von denen ihre Arbeit ein winziger Bestandteil ist? Man kann mit gutem Grund argumentieren, dass selbst der intelligenteste Arbeiter nur eine vage Vorstellung von den Beziehungen seiner Arbeit oder seines Unternehmens zu den immens komplexen Prozessen der modernen transnationalen Produktion und des weltweiten Waren- und Dienstleistungshandels hat. Der einzelne Arbeiter ist auch nicht in der Lage, die Mysterien der internationalen kapitalistischen Finanzen zu durchdringen, die Rolle der globalen Hedge Fonds, und die geheimen und (selbst für Experten auf diesem Gebiet) oft rätselhaften Wege, auf denen Dutzende Milliarden Dollar an Finanzvermögen täglich über internationale Grenzen hinweg bewegt werden. Die Realitäten der modernen kapitalistischen Produktion, ihres Handels und ihrer Finanzen sind so komplex, dass Unternehmensleiter und Spitzenpolitiker auf die Analyse und die Ratschläge größerer Forschungseinrichtungen angewiesenen sind, die wiederum eher häufig als selten uneins sind über die Interpretation der zur Verfügung stehenden Daten.

Aber das Problem des Klassenbewusstseins beschränkt sich nicht auf die offensichtliche Schwierigkeit, die komplexen Phänomene des modernen Wirtschaftslebens zu verstehen. Grundlegender und wesentlicher ist, dass die exakte Beschaffenheit der gesellschaftlichen Beziehung zwischen einem einzelnen Arbeiter und seinem Arbeitgeber, ganz zu schweigen von der zwischen der gesamten Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, nicht auf der Grundlage von Sinneseindrücken und unmittelbarer Erfahrung zu begreifen sind.

Selbst ein Arbeiter, der auf der Basis seiner eigenen bitteren Erfahrung davon überzeugt ist, dass er ausgebeutet wird, kann die zugrunde liegenden sozioökonomischen Mechanismen dieser Ausbeutung nicht wahrnehmen. Darüber hinaus ist der Begriff der Ausbeutung nicht leicht zu verstehen, und er lässt sich erst recht nicht direkt aus dem instinktiven Gespür ableiten, dass man nicht ausreichend bezahlt wird. Der Arbeiter, der sich um eine Stelle bewirbt, nimmt nicht wahr, dass er seine Arbeitskraft zum Kauf anbietet, oder dass die einzigartige Qualität dieser Arbeitskraft in ihrer Fähigkeit besteht, einen Wert zu produzieren, der größer ist als der Preis (der Lohn), zu dem sie gekauft wird, und dass der Profit aus dieser Differenz zwischen den Kosten der Arbeitskraft und dem durch sie erzeugten Wert gewonnen wird.

Wenn der Arbeiter eine Ware für eine bestimmte Summe Geld kauft, ist er sich auch nicht bewusst, dass das Wesen dieses Austauschs nicht eine Beziehung zwischen Dingen ist (ein Mantel oder irgendeine andere Ware gegen eine bestimmte Summe Geld), sondern eine zwischen Menschen. Er versteht das Wesen des Geldes nicht, wie es historisch als Ausdruck der Wertform entstanden ist und wie es in einer Gesellschaft, in der die Produktion und der Austausch von Waren verallgemeinert worden ist, dazu dient, die zugrunde liegenden sozialen Beziehungen der kapitalistischen Gesellschaft zu verschleiern.

Das eben Gesagte könnte als eine allgemeine Einführung in die theoretische und erkenntnistheoretische Grundlage von Marx’ wichtigstem Werk, dem Kapital, dienen. Im Schlussteil des zentralen ersten Kapitels im Band 1 führt Marx seine Theorie des Warenfetischismus ein, die die objektive Quelle der Mystifizierung sozialer Beziehungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft erklärt - d.h. den Grund, warum in diesem spezifischen Wirtschaftssystem die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen notwendigerweise als Beziehungen zwischen Dingen erscheinen. Es ist auf der Grundlage von Sinneswahrnehmung und unmittelbarer Erfahrung für Arbeiter nicht offensichtlich, dass jeder gegebene Warenwert der kristallisierte Ausdruck der in ihr enthaltenen menschlichen Arbeitskraft ist, die im Produktionsprozess aufgewendet wurde. Die Entdeckung des objektiven Wesens der Warenform bedeutete einen historischen Meilenstein im wissenschaftlichen Denken. Ohne diese Entdeckung hätten weder die objektiven sozioökonomischen Grundlagen des Klassenkampfes noch ihre revolutionären Konsequenzen verstanden werden können.

So sehr der Arbeiter die gesellschaftlichen Folgen des Systems, in dem er lebt, verabscheuen mag, ist er nicht in der Lage, auf der Grundlage unmittelbarer Erfahrung die Ursprünge und internen Widersprüche dieses Systems oder den geschichtlich begrenzten Charakter seiner Existenz zu begreifen. Das Verständnis der Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, der ausbeuterischen Beziehung zwischen Kapital und Lohnarbeit, der Unvermeidlichkeit des Klassenkampfes und seiner revolutionären Konsequenzen wurde auf der Grundlage echter wissenschaftlicher Arbeit erlangt, mit der der Name Marx’ für immer verbunden sein wird. Die Kenntnisse, die aus dieser Wissenschaft hervorgingen, und die Methode der Analyse, mit deren Hilfe dieses Wissen erlangt wurde und erweitert wird, müssen in die Arbeiterklasse hineingetragen werden. Das ist die Aufgabe der revolutionären Partei.

Wenn man Lenin als elitär bezeichnet, dann muss man dasselbe über alle sagen, die unter dem Banner der wissenschaftlichen Wahrheit gegen unzählige Formen des Obskurantismus gekämpft haben. Schrieb nicht Thomas Jefferson, er hätte jeder Form der Ignoranz und Tyrannei über den Geist der Menschen ewige Feindschaft geschworen? Der Vorwurf des Elitismus sollte gegen jene erhoben werden, die sich gegen die politische und kulturelle Aufklärung der Arbeiterklasse stellen und sie dadurch auf Gedeih und Verderb ihren Ausbeutern ausliefern.

Widmen wir uns zuletzt dem Vorwurf, Lenins Haltung sei "undemokratisch" oder sogar "totalitär", weil er darauf beharrte, dass ein Kampf gegen die Formen des Bewusstseins in der Arbeiterklasse geführt werden müsse, die sich in der kapitalistischen Gesellschaft spontan entwickeln, und weil er feindselig gegenüber der vulgären öffentlichen Meinung war, die sich unter dem Bombardement der Propaganda der Massenmedien bildet. Hinter dieser Anschuldigung verbirgt sich eine gesellschaftliche Erbitterung, die in Klasseninteressen und sozialen Vorurteilen wurzelt und durch die Bemühungen der sozialistischen Bewegung geweckt wird, eine andere, nicht-bürgerliche Form der öffentlichen Meinung zu schaffen, in der die wirklichen politischen und historischen Interessen der Arbeiterklasse Ausdruck finden.

Es gibt kein anderes Unterfangen, das so grundlegend demokratisch ist, wie die Bemühungen der marxistischen Bewegung, das Klassenbewusstsein der arbeitenden Bevölkerung zu entwickeln. Lenin versuchte nicht, sein wissenschaftlich begründetes Programm der Arbeiterklasse "aufzuzwingen". Vielmehr galt seine ganze politische Arbeit in dem Vierteljahrhundert vor 1917 der Aufgabe, das soziale Denken der fortgeschrittensten Teile der russischen Arbeiterklasse auf das Niveau der Wissenschaft zu heben. Und darin waren er und die Bolschewistische Partei erfolgreich. Indem er dieses Ziel erreichte, wurde Lenin, wie John Reed schrieb: "Ein Volksführer eigner Art - Führer nur dank der Überlegenheit seines Intellekts; [...] mit der Fähigkeit, tiefe Gedanken in einfachste Worte zu kleiden und konkrete Situationen zu analysieren. Sein Scharfsinn ist verbunden mit der größten Kühnheit des Denkens."[26]

Lenin war nicht der Erste, der die Notwendigkeit betonte, sozialistisches Bewusstsein in die Arbeiterklasse zu tragen. Seine Streitschrift gegen die Ökonomisten und ihre Glorifizierung des "spontanen Elements" stützte sich mit Sicherheit auf eine gründliche Lektüre von Marx’ Kapital und auf ein Verständnis, wie der Kapitalismus als System von Produktionsverhältnissen zwischen Menschen die wahren, sozial verankerten Ausbeutungsmechanismen verschleiert. Lenins Originalität als politischer Denker besteht nicht darin, dass er die Notwendigkeit betonte, Bewusstsein in die Arbeiterklasse zu tragen - diese Auffassung wurde von Marxisten in ganz Europa weitgehend geteilt. Das Besondere war, mit welcher Konsequenz und Nachdrücklichkeit Lenin dieses Prinzip anwandte und welche weitreichenden politischen und organisatorischen Schlüsse er daraus zog.

Klassenbewusstsein und "politische Enthüllungen"

Wie sollte demnach das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse entwickelt werden? Die Antwort, die Lenin auf diese Frage gab, verlangt ein aufmerksames Studium. Den Ökonomisten galt die Agitation zu "Brot und Butter"-Fragen und unmittelbaren Problemen im Betrieb als Hauptinstrument, um Klassenbewusstsein zu fördern. Lenin wies die Vorstellung ausdrücklich zurück, dass wirkliches Klassenbewusstsein auf solch einer engen ökonomischen Grundlage entwickelt werden könnte. Die Agitation zu unmittelbaren wirtschaftlichen Anliegen reichte lediglich für die Entwicklung von gewerkschaftlichem Bewusstsein, d.h. des bürgerlichen Bewusstseins der Arbeiterklasse. Die Entwicklung eines revolutionären Klassenbewusstseins setzt nach Lenin voraus, dass Sozialisten ihre Agitation auf "politische Enthüllungen" konzentrierten, wie er es bezeichnete.

"Anders als durch diese Enthüllungen kann das politische Bewusstsein und die revolutionäre Aktivität der Massen nicht herangebildet werden. Darum ist diese Art Tätigkeit eine der wichtigsten Funktionen der gesamten internationalen Sozialdemokratie, denn auch die politische Freiheit beseitigt keineswegs die Sphäre, auf die diese Enthüllungen gerichtet sind, sondern verschiebt sie nur." [27]

In Worten, die an Relevanz nichts verloren haben - oder die durch den enormen Rückgang des sozialistischen Bewusstseins in unserer heutigen Zeit noch an Bedeutung gewonnen haben - schrieb Lenin:

"Das Bewusstsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle von Willkür und Unterdrückung, von Gewalt und Missbrauch zu reagieren, welche Klassen diese Fälle auch betreffen mögen, und eben vom sozialdemokratischen [d.h. revolutionären] und nicht von irgendeinem anderen Standpunkt aus zu reagieren. Das Bewusstsein der Arbeitermassen kann kein wahrhaftes Klassenbewusstsein sein, wenn die Arbeiter es nicht an konkreten und dazu unbedingt an brennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und Ereignissen lernen, jede andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens dieser Klasse zu beobachten; wenn sie es nicht lernen, die materialistische Analyse und materialistische Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden. Wer die Aufmerksamkeit, die Beobachtungsgabe und das Bewusstsein der Arbeiterklasse ausschließlich oder auch nur vorwiegend auf sie selbst lenkt, der ist kein Sozialdemokrat, denn die Selbsterkenntnis der Arbeiterklasse ist untrennbar verbunden mit der absoluten Klarheit nicht nur der theoretischen... sogar richtiger gesagt: nicht so sehr der theoretischen als vielmehr der durch die Erfahrung des politischen Lebens erarbeiteten Vorstellungen von den Wechselbeziehungen aller Klassen der modernen Gesellschaft. Darum ist die Predigt unserer Ökonomisten, dass der ökonomische Kampf das weitest anwendbare Mittel zur Einbeziehung der Massen in die politische Bewegung sei, so überaus schädlich und ihrer praktischen Bedeutung nach so überaus reaktionär." [28]

Die Revisionisten, die die Auffassung vertraten, dass die Aufmerksamkeit und Unterstützung von Arbeitern am schnellsten und einfachsten durch eine Konzentration auf wirtschaftliche und "betriebliche" Fragen zu erreichen sei, und dass die Hauptaktivität der Sozialisten im tagtäglichen ökonomischen Kampf der Arbeiter liegen sollte, trugen nach Lenin im Hinblick auf die Entwicklung sozialistischen Bewusstseins nichts Bedeutendes zur spontanen Arbeiterbewegung bei. Tatsächlich handelten sie nicht als revolutionäre Sozialisten, sondern als bloße Gewerkschafter. Die wirklich wesentliche Aufgabe der Sozialisten bestand nicht darin, mit den Arbeitern über das zu sprechen, was sie bereits wissen - über tagtägliche Betriebs- und Arbeitsplatzfragen, sondern ihnen das zu vermitteln, was sie aus ihrer unmittelbaren ökonomischen Erfahrung nicht gewinnen können: politisches Wissen.

"Dieses Wissen könnt ihr, Intellektuelle, erwerben", schrieb Lenin und legte diese Worte einem Arbeiter in den Mund, "und ihr seid verpflichtet, es uns in hundert- und tausendfach größerem Ausmaß zu übermitteln, als ihr es bis jetzt getan habt, und zwar nicht nur in der Form von Abhandlungen, Broschüren und Artikeln (die oft - entschuldigt unsere Offenheit! - etwas langweilig sind), sondern unbedingt in der Form von lebendigen Enthüllungen dessen, was gerade jetzt unsere Regierung und unsere herrschenden Klassen auf allen Lebensgebieten tun." [29]

Natürlich riet Lenin nicht dazu, den ökonomischen Kämpfen der Arbeiterklasse gleichgültig gegenüber zu stehen oder ihnen gar fern zu bleiben. Aber er stellte sich gegen die ungerechtfertigte und schädliche Fixierung von Sozialisten auf solche Kämpfe, ihre Tendenz, die Agitation und praktische Aktivität auf ökonomische Fragen und Gewerkschaftskämpfe zu beschränken, und ihre Vernachlässigung und ihr Ausweichen vor den kritischen und grundlegenden politischen Fragen, vor denen die Arbeiterklasse als die revolutionäre Kraft in der Gesellschaft steht. Wenn Sozialisten in gewerkschaftliche Kämpfe eingreifen, besteht zudem ihre wirkliche Verantwortung darin, wie Lenin schrieb, "die Funken politischen Bewusstseins, die der ökonomische Kampf in den Arbeitern entstehen lässt, auszunutzen, um die Arbeiter auf das Niveau des sozialdemokratischen politischen Bewusstseins zu heben." [30]

Ich habe dieser Besprechung von Was tun? so viel Zeit eingeräumt, weil ich dabei - und ich hoffe, das ist euch allen klar - über die Theorie und die Perspektive der World Socialist Web Site gesprochen haben.

Anmerkungen:

[1] Lenin, Der "linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Werke Bd. 31, Berlin 1964, S. 10.

[2] Eastman, The Young Trotsky, London 1980, S. 53f. (aus dem Englischen)

[3] Plechanow, Sozialismus und politischer Kampf, Frankfurt/Gelsenkirchen 1980, S.68ff.

[4] Lenin, Was sind die ‚Volksfreunde’ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokratie?, in: Werke Bd. 1, Berlin 1971, S. 299ff.

[5] Lenin, Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung, in: Werke Bd. 4, Berlin 1960, S. 367.

[6] Zit. nach: Lenin, Protest russischer Sozialdemokraten, in: Werke Bd. 4, Berlin 1960, S. 165ff.

[7] Lenin, Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung, a.a.O., S. 368f.

[8] Lenin, Was tun?, in: Werke Bd.5, Berlin 1959, S 364.

[9] Ebenda, S. 379.

[10] Ebenda.

[11] Ebenda, S. 380f, Hervorhebung im Original.

[12] Ebenda, S. 381.

[13] Ebenda, S. 385f.

[14] Ebenda, S. 394f.

[15] Ebenda, S. 395f.

[16] Blick, The Seeds of Evil, London 1995, S. 17 (aus dem Englischen).

[17] Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, Bd. 2, München 1978, S. 436.

[18] Ebenda, S. 437.

[19] Marx/Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, in: MEW Bd. 2, S. 38.

[20] Harding, Leninism, Durham 1996, p.34 (aus dem Englischen).

[21] Ebenda, S.173.

[22] Ebenda, S. 174.

[23] Ebenda, S. 172.

[24] Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke Bd. 14, S. 326.

[25] Ebenda, S. 328f.

[26] Reed, 10 Tage, die die Welt erschütterten, Berlin 1977, S. 180f.

[27] Lenin, Was tun?, in: Werke Bd.5, Berlin 1959, S. 425 (Hervorhebungen im Original).

[28] Ebenda, S. 426 (Hervorhebungen im Original).

[29] Ebenda, S. 430 (Hervorhebungen im Original).

[30] Ebenda, S.429 (Hervorhebungen im Original).

Siehe auch:
Die Russische Revolution und die ungelösten Probleme des 20. Jahrhunderts(14. September 2005)

Marxismus gegen Revisionismus am Vorabend des 20. Jahrhunderts ( 21. September 2005)

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