Die Erstürmung des brasilianischen Regierungssitzes am 8. Januar durch einen faschistischen Mob von Anhängern des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro hat den fortschreitenden Niedergang der Demokratie in Südamerikas größtem Land deutlich vor Augen geführt.
Der faschistische Angriff in Brasilia, der brasilianischen Hauptstadt, fand genau eine Woche nach der Amtsübernahme des gewählten Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei (PT) statt.
In seiner Antrittsrede als Präsident, der dritten in der Karriere des ehemaligen Gewerkschafters, der bereits zwischen 2003 und 2010 der brasilianischen Regierung vorstand, würdigte Lula den außergewöhnlichen Charakter der jüngsten Wahlen. Er sagte, dass ein „autoritäres Machtprojekt“ in der Lage war, den „öffentlichen Apparat“ zu übernehmen. Dieses habe mit einer breiten „Mobilisierung öffentlicher und privater Ressourcen“ versucht, die Demokratie in Brasilien zu stürzen.
Die von Lula genannten Bedrohungen sind für Millionen Brasilianer besorgniserregend. Der ehemalige faschistische Präsident des Landes, Jair Bolsonaro, hat in den letzten zwei Monaten einen systematischen Angriff auf das demokratische System geführt und versucht, die rechtmäßigen Wahlergebnisse zu kippen.
Am 1. Januar versicherte Lula der brasilianischen Bevölkerung jedoch, dass diese „schreckliche Bedrohung“ überwunden sei. Er behauptete, dass die PT durch die Förderung einer „demokratischen Front“ der offiziellen bürgerlichen Parteien, von der traditionellen Rechten bis zur Partei des Sozialismus und der Freiheit (PSOL), in der Lage gewesen sei, den Faschismus in Brasilien endgültig zu zerschlagen. „Die Demokratie ist der große Gewinner dieser Wahl“, erklärte der Präsident.
Doch am darauf folgenden Sonntag waren die Faschisten an der Reihe, ihre „Antrittsfeier“ abzuhalten. Dieselbe Polizei, die während der Amtseinführung Lulas ein beispielloses Sicherheitsregime aufgebaut hatte, weil sie mögliche terroristische Aktionen von Bolsonaro-Anhängern voraussah, eskortierte den faschistischen Mob bei dem Angriff am 8. Januar zur Einnahme des Regierungssitzes.
Dieses Ereignis zeigt, dass entgegen den Behauptungen Lulas eine faschistische Verschwörung im brasilianischen Staat aktiv bleibt.
Als Reaktion auf die außergewöhnlichen Ereignisse vom Sonntag haben die PT-Regierung und die staatlichen Institutionen Maßnahmen ergriffen, um den Mob von Bolsonaro-Anhängern zu unterdrücken.
Lula hat eine föderale Intervention für den Bundesdistrikt angeordnet, die es seiner Regierung erlaubt, die Kontrolle über die Sicherheit in Brasilia zu übernehmen und Beamte aus dem ganzen Land zur Verstärkung der Polizei heranzuziehen. Der verantwortliche Gouverneur Sergio Ibaneis wurde vom Obersten Gerichtshof (STF) vorübergehend seines Amtes enthoben, und seinem Sicherheitsminister Anderson Torres droht die Verhaftung. Das Lager, in dem Bolsonaro-Anhänger seit November vor den Toren des Armeehauptquartiers campiert hatten, wurde aufgelöst. Fünfzehnhundert Teilnehmer des Lagers, die bei der Erstürmung von Brasilia am 8. Januar dabei waren, wurden verhaftet.
Laut Lula und seiner Regierung werden diese Maßnahmen „ein für alle Mal garantieren, dass so etwas in Brasilien nie wieder passiert“.
Justizminister Flávio Dino sagte, das Land bewege sich „mit großer Geschwindigkeit auf eine absolute institutionelle Normalisierung zu“. Dino, der den Bundesstaat Maranhão im Namen der maoistisch orientierten Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB) regierte, schloss: „Die brasilianischen Streitkräfte bleiben bislang dem Rahmen der demokratischen Legalität treu. Das ist eine Tatsache, die begrüßt werden sollte. Im Allgemeinen würde ich sagen, dass das Schlimmste überstanden ist.“
Politische Analysten in den offiziellen Medien stimmen mit der von der PT vertretenen These überein und bezeichnen den Einmarsch in Brasilia als Niederlage der rechtsextremen Bewegung in Brasilien.
„Der Bolsonarismo hat sich selbst in den Fuß geschossen, indem er die so genannte ‚Machtergreifung‘ in Brasilia förderte“, heißt es im Estado de São Paulo. „Die Aktion der Extremisten, die das Herz des Staates ins Chaos gestürzt haben, wird den Präsidenten, Luiz Inácio Lula da Silva, zumindest vorübergehend gestärkt daraus hervorgehen lassen“, so die Schlussfolgerung.
Diese Einschätzungen sind absolut falsch. Insbesondere die von Dino aufgestellte Behauptung, das Militär bleibe „bislang dem Rahmen der demokratischen Legalität treu“, geht an der Realität vorbei.
In den letzten Monaten haben sich die Streitkräfte in einer noch nie dagewesenen Weise in die brasilianische Politik eingemischt. Die militärischen Befehlshaber haben zivile Regierungsvertreter öffentlich getadelt, weil diese sich kritisch über die Streitkräfte geäußert haben. Das Militär hat auch falsche Anschuldigungen bezüglich der Gefahr von Wahlbetrug erhoben.
Unterdessen verteidigen die hohen Militärs die Demonstrationen rund um die Kaserne, bei denen ein Militärputsch gefordert wurde, als legitime „Volksbewegung“. Und das in einem Land, in dem das Militär 1964 die Macht ergriff und zwanzig Jahre lang eine blutige Diktatur ausübte.
Außerdem schwiegen die Militärs über die Vorbereitungen für den Sonntag und frühere gewalttätige Angriffe ihrer faschistischen Schützlinge. Die Stürmung der Regierungsgebäude begann vor den Toren des Armeehauptquartiers in Brasilia und und wurde dort organisiert, in einer Sperrzone, in der sich die Faschisten mit Erlaubnis der Generäle aufhalten durften.
Die Tatsache, dass das Militär bisher mit der Regierung Lula kollaboriert, steht weder im Widerspruch zu seiner bisherigen Haltung, noch stellt dies eine politische Wende dar.
Tatsächlich hat sich keiner der politischen Akteure, die direkt an der Entstehung einer faschistischen Bewegung in Brasilien beteiligt sind, zu den Anschlägen vom Sonntag bekannt. Bolsonaro und Mitglieder seiner Liberalen Partei (PL), der Gouverneur und der Sicherheitsminister von Brasilia, die faschistischen Militärs - alle haben die Aktion als Fehltritt verurteilt.
Diese politischen Kräfte wollen glauben machen, dass 5.000 „Terroristen“ in Brasilia eingefallen seien und den Regierungssitz spontan gestürmt hätten. Es ist jedoch offensichtlich, dass die Organisatoren des faschistischen Angriffs in Brasilia tief im Staat und insbesondere im Militär verwurzelt sind.
Der Angriff vom 8. Januar stellt keine Niederlage für diese Kräfte dar. Im Gegenteil, ihre „Zusammenarbeit“ mit der PT-Regierung bei der Bewältigung dieser Krise wird ihnen nur noch mehr Raum in der Regierung verschaffen und sie in die Lage versetzen, diese immer weiter nach rechts zu treiben, während sie gleichzeitig ihren Sturz vorbereiten.
Wie erklärt sich dann die direkte Zusammenarbeit der PT bei der Deckung der Verantwortlichen und ihre Eile, die Situation fälschlicherweise für gelöst zu erklären?
Die brasilianische herrschende Klasse hat unter explosiven politischen und sozialen Bedingungen die PT als Vertreter des Kapitalismus rehabilitiert und wieder an die Macht gebracht. In den letzten Jahren wurde soziale Ungleichheit und Elend massiv sichtbar, es kam zu massenhaften Todesfällen aufgrund der pro-kapitalistischen Corona-Politik, wie auch zu wirtschaftlicher Stagnation inmitten eines immer stärker von Krieg geprägten globalen Wirtschaftsumfelds.
Diese Bedingungen bereiten in Brasilien eine unkontrollierbare Explosion des Klassenkampfs vor. Die Entwicklung einer faschistischen Bewegung und jede Form der politischen Reaktion ist die Antwort der herrschenden Klasse auf diese objektiven Bedingungen.
Die PT, unterstützt von ihren pseudolinken Verbündeten aus der Mittelschicht, spielt eine entscheidende Rolle bei dieser bürgerlichen Reaktion. Indem sie das Ausmaß der Krise des kapitalistischen Staats verschleiert, Illusionen über seinen angeblich demokratischen Charakter fördert und ihren Gewerkschaftsapparat zur Unterdrückung der Kämpfe der Arbeiterklasse einsetzt, ebnet die PT den faschistischen Kräften den Weg, sich zu entwickeln und die Bedingungen für einen Staatsstreich zu schaffen.
Die internationale Arbeiterklasse muss das Vorgehen der Faschisten in Brasilia als ernste Warnung verstehen. Da die Widersprüche des Kapitalismus heftig zutage treten, schürt die herrschende Klasse international faschistische Bewegungen.
Die Errichtung faschistischer Diktaturen, auch in den kapitalistischen Kernländern, sollte nicht als unwahrscheinliche Möglichkeit angesehen werden. Ebenso wie die Gefahr eines atomaren Vernichtungskriegs ist diese Bedrohung absolut real. Sie kann nur durch die Entwicklung einer Bewegung der Arbeiterklasse bekämpft werden: Letztlich muss die Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms die politische Macht in Brasilien und in der ganzen Welt übernehmen.
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