Immer wieder kommt es am Gleis der Deutschen Bahn zu schweren, lebensbedrohlichen und auch tödlichen Arbeitsunfällen. Die „Generalsanierung“ der Bahn, die eher eine „Generalzerstörung“ ist, trägt mit der Streichung von 30.000 Stellen und dem Abbau wichtiger Infrastruktur dazu bei, die Lage zu verschlimmern.
Ein kurzer Film auf ZDF-Frontal beleuchtet nun zwei tödliche Arbeitsunfälle vom September 2023, für die der Bahnvorstand bis heute keine Erklärung vorgelegt und keine Verantwortung übernommen hat. Das ZDF hat die Kurzreportage „Tod am Gleis. Arbeitsunfälle bei der Bahn“ von Tonja Pölitz sowohl auf Frontal als auch auf Panorama gezeigt, und sie ist mittlerweile auch auf YouTube zu sehen.
Am 8. September 2023 wurde in Hannover-Linden der 19-jährige Bahn-Azubi Simon Hedemann getötet. Er war noch in seiner Ausbildung zum Elektroniker für Betriebstechnik. Am Stellwerk Fischerhof wurde er von einem Güterzug erfasst. Seine Eltern, die im Film zu Wort kommen, bestätigen, dass es auch heute, ein Jahr nach Simons Tod, von offizieller Seite der Bahn keine Erklärung dafür gibt.
Nur drei Tage später, am 11. September 2023, wurde der Weichenmechaniker Ali Ceyhan (33) am S-Bahnhof Köln Trimborner Straße von einem fahrenden Zug erfasst. Er wurde am Kopf so schwer verletzt, dass er wenige Tage später verstarb.
Der Film lässt die Hinterbliebenen zu Wort kommen, in Ali Ceyhans Fall seine Partnerin Katharina Duarte, die bis heute nicht lockerlässt, um das Geschehen aufzuklären. Das Gleisbett wird gezeigt, auf dem Ali zu Tode kam: Es ist ein schmaler Streifen zwischen zwei Gleisen, der bei einer Reparatur unbedingt hätte abgesperrt werden müssen. Aber dies war nicht der Fall. Warum nicht? Darauf gibt die Bahn bis heute keine Antwort.
Der Film macht deutlich, dass es kein Einzelfall ist. Immer wieder und immer häufiger kommt es vor, dass die zwingend erforderliche Gleissperrung ausbleibt, dass Arbeitsschritte unter Druck abgekürzt werden, dass Lokführer zu wenig Informationen über die Baustellen auf ihrer Strecke bekommen.
Im Film bestätigen das mehrere Bahnbeschäftigte, teilweise anonym. Ein Bahnmitarbeiter erklärt, dass sowohl die Deutsche Bahn als auch die Aufsichtsbehörden genau wissen, dass Gleisbautrupps häufiger losgehen, ohne dass die Strecke abgesperrt ist: „Klar! Und den Unfall schiebt man dann auf menschliches Fehlverhalten, auf die Unfallbeteiligten, und hofft, dass die Staatsanwaltschaft nur die kleinen Mitarbeiter verfolgt, und nicht das System obendrüber.“
Auch ein Lokführer, der die selbst erlebten riskanten Situationen schildert, bestätigt: „Wenn ich es hochrechne, kommt es am Tag drei bis vier Mal vor, dass Leute einem Sicherheitsrisiko ausgesetzt sind.“
Und so kommt es immer häufiger zu tödlich verlaufenden Unfällen. Bei der Bahn in Deutschland war dies von Januar 2023 bis Januar 2024 mindestens zwölf Mal der Fall:
- 16. Januar 2023, Parsberg: auf dem Gleis zwischen Nürnberg und Regensburg erfasst eine Lokomotive zwei Arbeiter, die mit Rodungsarbeiten beschäftig sind; einer wird getötet, sein Kollege schwer verletzt.
- 3. Februar 2023, Bebra (Osthessen): Ein Rangierarbeiter wird von einem rollenden Eisenbahnwaggon erfasst und getötet.
- 23. Februar 2023, Bremerhaven: Ein Baggerfahrer (56) wird bei nächtlichen Arbeiten an einer Eisenbahnunterführung tödlich verletzt.
- 4. Mai 2023, Hürth bei Köln: Ein IC erfasst zwei junge Arbeiter, die im Zusammenhang mit einer Kabelverlegung Gleisstopfarbeiten ausführen. Beide sind auf der Stelle tot. Fünf weitere Kollegen können im letzten Augenblick zur Seite springen. Die DB publiziert zunächst einen Tweet über „unbefugte Personen auf der Strecke“, den sie nach Protesten zurückziehen muss.
- 14. Juni 2023, Stade: Ein Bahnmitarbeiter (28) wird vom Regionalzug Hamburg-Cuxhaven erfasst und getötet, während er Rückschnittarbeiten neben dem Gleis ausführt. Seine zwei Kollegen, darunter sein Bruder, können sich retten.
- 21. August 2023, Hannover-Nordstedt: Ein Bauarbeiter (34) wird von der S-Bahn erfasst und getötet.
- 8. September 2023, Hannover-Linden: Der 19-jährige Azubi Simon Hedemann wird bei der Installation von Leit- und Sicherheitstechnik (LST) getötet; die näheren Umstände sind bis heute nicht bekannt.
- 10. September 2023, nahe Paderborn: Lokführer Jonas (32) stirbt, als sein Güterzug, vom Zementwerk kommend, entgleist, sich querstellt und verkeilt. Jonas, der noch versucht hat, eine Notbremsung einzuleiten, wird von den tonnenschweren Kesselwagen erdrückt.
- 11. September 2023, Köln-Trimbornerstraße: Weichenmechaniker Ali Ceyhan (33) wird vom Zug erfasst und erliegt drei Tage später seinen schweren Verletzungen. Genaue Umstände werden von der Bahn bis heute nicht bekanntgegeben.
- 19. Januar 2024, bei Koblenz am Rhein: Ein 39-jähriger Arbeiter einer Gleisbaufirma wird von einem Regionalzug erfasst und tödlich verletzt.
- Mindestens einen weiteren tödlichen Arbeitsunfall registriert die Bahn Anfang 2023, ohne nähere Angaben zu machen.
Jede Aufstellung ist zwangsläufig unvollständig, denn es gibt keine Behörde, die alle Unfälle registriert. Viele werden gar nicht erst gemeldet. Auch darauf geht die Frontal-Reportage ein. „Wir wissen nicht, wie viele Leute am Arbeitsort sterben“, bestätigt der Jurist Wolfhard Kohte, ein Arbeitsrechtler im Ruhestand, im Film.
Was die Liste der tödlichen Arbeitsunfälle im letzten Jahr betrifft, so fühlt sich die Deutsche Bahn AG nur für vier (!) von ihnen zuständig. Die meisten Getöteten waren zwar im Auftrag der DB AG unterwegs, aber bei Fremdfirmen oder bei einem anderen, privatisierten Bahnunternehmen beschäftigt. „Es gibt eben Beschäftigte erster, zweiter und dritter Klasse“, kommentiert Kohte sarkastisch.
Ein Unfall am 4. Mai 2023 bei Köln, bei dem gleich zwei Gleisbauarbeiter ums Leben kamen, kommt in keiner offiziellen Aufstellung vor. Weder die Deutsche Bahn, noch das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) oder die Bundesstelle für Eisenbahnunfall-Untersuchungen (BEU) fühlen sich dafür verantwortlich.
Das Eisenbahn-Bundesamt wird im Film mit der Frage konfrontiert, warum es bei dem Unfalltod von Simon Hedemann – einem Azubi der Deutschen Bahn! – fast ein Jahr später noch keine Ermittlungen aufgenommen habe. Das Amt lässt wissen, es habe „keine Pflicht zur vertieften Untersuchung von Arbeitsunfällen“.
Diese Antwort lässt die Eltern von Simon Hedemann fassungslos zurück. Seit einem Jahr warten sie auf Antworten, und sie fragen: „Was muss denn noch passieren, damit man da ermittelt?“ Für sie ist es eine riesige Enttäuschung, „dass sich bei der Bahn niemand interessiert, das vernünftig aufzuklären“.
Was die Bundesregierung, Besitzerin der DB AG, betrifft, so geht sie gnadenlos mit der Problematik um. Das zeigt sich kurz vor Ende des Films. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) wird damit konfrontiert, dass sein Ministerium nicht einmal weiß, wie viele Menschen am Gleis zu Tode kommen. Der Minister weist jede Verantwortung von sich. Zuständig seien „die Ermittlungsbehörden, die diese Dinge dann untersuchen“ antwortet er ungerührt. „Wir haben seitens des Ministeriums keine Hinweise, dass es zu Versäumnissen gekommen ist.“
Der gut recherchierte Film ist ein erschütterndes Dokument. Dennoch kratzt er nur an der Oberfläche, wie mehrere Bahnarbeiter des Aktionskomitee Bahn finden, die ihn angeschaut haben. Die wirkliche Lage sei noch weit schlimmer.
Das Aktionskomitee Bahn ist im August 2023 entstanden. Eisenbahner, Lokführer und Bahnmitarbeiter, unterstützt von der WSWS und der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP), begannen sich unabhängig von Behörden und Gewerkschaften, die in der Tasche der Wirtschaft stecken, zu organisieren, um ihre Kollegen besser zu informieren und „die Diktatur des EVG-Apparats [später auch der GDL] zu durchbrechen“.
Schon am 4. September 2023 war das Aktionskomitee damit konfrontiert, dass eines seiner Mitglieder, ein Eisenbahner der DB Netz-Instandhaltung, bei Reparaturarbeiten an einer Oberleitung schwer verletzt wurde. Das Komitee begann, eigene Recherchen anzustellen, und sammelte alle relevanten Informationen zu Unfallursachen im Bahnbetrieb. Tonja Pölitz, die Autorin des Films „Tod am Gleis“, greift teilweise auf diese Ergebnisse des Aktionskomitees zurück.
Die Kollegen, die sich den Film angesehen haben, drückten ihre Solidarität mit den Betroffenen aus. So sprach ein Bahnarbeiter aus Sachsen, der im Grünschnitt arbeitet und seit 15 Jahren am Gleis unterwegs ist, die Hoffnung aus, dass wir „damit wieder etwas anstoßen: für die Hinterbliebenen und auch für die Kolleginnen und Kollegen, die noch im Dienst sind und auch noch arbeiten wollen“.
Er fuhr fort: „Das EBA kann man abschaffen, dabei kommt nichts Besseres raus. Die kommen immer kontrollieren und drohen mit Strafzahlungen oder ordnen sie an, aber Lösungen haben sie nie. Alles wird am grünen Tisch nach Aktenlage entschieden und beurteilt. Die Praktiker werden niemals gefragt.“
Er schilderte seine Erfahrung als Arbeiter am Gleis: „Die Sicherungspläne (z.B. Vegetationspflege auf Strecke XY, von dann bis dann) werden bei der für den Bahnbetrieb zuständigen Stelle (BzS) angemeldet, welche dann den Sicherungsplan erstellt. (…) Eigentlich sollte es UV-Sperrungen [Streckensperrungen] geben, aber das geht nur bei großen Baustellen und selten kurzfristig.“ Ein Problem bestehe darin, dass der Fahrdienstleiter oft 200 km weit weg sitze: „Der weiß also nicht, wie es aussieht vor Ort. Früher gab es einen Stellwerker in der Nähe, aber das ist größtenteils lange her.“
Im Prinzip dürften sie also oft gar nicht rausgehen, aber die Arbeit dränge, „also macht man es trotzdem. Früher gab es einen Absperrposten mit Mehrklang-Signalhorn, aber das ist nicht mehr gewollt. Diese würde man wegen der Frequenz der alten Geräte gar nicht mehr hören, sagt die Physik. Weil ‚nicht sein kann, was nicht sein darf‘. Aber neuere Sachen hört man teilweise noch schlechter als die alten Hörner. Da gibt es immer wieder gefährliche Situationen.“
Mit anderen Worten: für die Männer, die die Arbeiten am Gleis verrichten, hat sich ihre Arbeit in eine Art Himmelfahrtskommando verwandelt. Sie wissen im Voraus, dass niemand für ihre Sicherheit sorgt, dass die Strecke nicht gesperrt ist und dass keiner sie vernünftig vor herannahenden Zügen warnt. Der Arbeiter fuhr fort: „Bei uns ist im letzten Jahr auch einer zu Tode gekommen, ein Kollege aus Osteuropa. Ich weiß nicht, ob er überhaupt sprachlich verstanden hatte, was seine Aufgabe war.“
Seine Bilanz: „Am Ende wird alles auf dem Rücken der Arbeiter ausgetragen. Die immer neuen Sicherheitsanweisungen sind kaum umzusetzen. Aber wir gehen trotzdem raus und arbeiten, und dann heißt es, der Arbeiter hat sich nicht an die Sicherheitsvorschriften gehalten. Das klang ja im Beitrag des ZDF auch nur teilweise an.“
Ein Bahnarbeiter von DB Cargo erklärte: „Das ist nur ein kurzer Film, und nach meinem Empfinden stellt er die Probleme zu klein dar. Bei uns geht es um viel mehr, und man müsste alles grundlegend ändern!“
Er schilderte, welche Folgen die neue Sparorgie bei DB Cargo bereits hat, dass heute schon ganze Schichten wegfallen, und dass die Kollegen, die gekündigt haben, nicht mehr ersetzt werden. „Viele haben Zukunftsangst, dass Cargo ganz geschlossen wird. Schon ist vom Sozialplan die Rede. Für diejenigen, die geblieben sind, verschärft dies den Stress jeden Tag.“
Die gefährlichen Situationen und Beinahe-Unfälle werden systematisch vertuscht. Gerade in dieser Woche ist es erneut zu einem schweren Unfall beim Rangieren einer Lok gekommen: Am Dienstag, 3. September, geriet in Wörth an der Isar ein 56-jähriger Lokführer zwischen seine Lok und einen Lastwagen, der mit dem Zug zusammenprallte. Der Lokführer wurde eingeklemmt und so schwer an den Beinen verletzt, dass ein Hubschrauber ihn ins nächste Krankenhaus bringen musste.
Die Sparpläne der Regierung als Folge ihrer Kriegspolitik und der jahrzehntelange Kahlschlag bei der Deutschen Bahn kosten Menschenleben. Schreibt uns, wenn ihr Informationen für die Kolleginnen und Kollegen habt und wenn ihr am Aufbau des Aktionskomitees Bahn teilnehmen könnt! Schreibt über Whatsapp,+49-163-337-8340 und registriert euch über das untenstehende Formular!