Ab heute (17. Oktober) läuft „In Liebe, Eure Hilde“ bundesweit in den Kinos. Der Film, den wir all unseren Lesern empfehlen, wurde im Februar im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele Berlin uraufgeführt. Wir veröffentlichen hier erneut unsere damalige Besprechung.
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Einer der herausragenden Filme der diesjährigen Berlinale war „In Liebe, Eure Hilde“, der neue Film des bekannten ostdeutschen Regieveteranen Andreas Dresen. Der Titel des Films bezieht sich auf die letzten Worte der jungen Widerstandskämpferin Hilde Coppi an ihre Mutter, bevor sie 1943 von den Nazis mit dem Fallbeil enthauptet wurde. Vor ihrer Hinrichtung musste Hilde, die der Berliner-Gruppe der Widerstandsorganisation „Rote Kapelle“ angehörte, von ihrem Säugling Abschied nehmen, den sie im Gefängnis zur Welt gebracht hatte.
Es gibt wenige Filme die derart unter die Haut gehen. Die Fachjournalisten klatschen bei einer Presse-Vorführung Beifall. Der neue Dresen-Film zeigt überaus realistisch, wie Hilde gemeinsam mit zwölf weiteren zum Tode verurteilten jungen Frauen auf ihre Hinrichtung wartet, die dann im Eiltempo durchgeführt wird. Eine nach der anderen wird aufgerufen und geköpft. Man spürt förmlich das Zittern, die Angst und Verzweiflung der jungen Frauen, von denen eine noch keine zwanzig Jahre alt ist. Als das Licht im Kinosaal anging, herrschte einen Moment lang schockierte Stille. Dann brach Beifall aus über den Mut und die Tapferkeit, mit der damals junge Menschen gegen Krieg und faschistischen Terror gekämpft haben.
Eine Mitgefangene, die 19-jährige Liane Berkowitz, wurde gezwungen, ihr Baby vor ihrer eigenen Enthauptung aufzugeben. Ihr Baby starb nur wenige Monate später im Krankenhaus. Liane Berkowitz‘ „Verbrechen“ bestand darin, dass sie eine Handvoll kleiner Plakate an die Wände geklebt hatte, auf denen sie das Naziregime verurteilte. Hitler persönlich hatte die Todesurteile unterschrieben und alle Gnadengesuche abgelehnt.
Mit der Darstellung der Antifaschistin Hilde Coppi erinnert Dresens Film an die vielfältigen Formen des Widerstands, der unter Jugendlichen und in Arbeiterkreisen, der so genannten einfachen Bevölkerung, verbreitet war. Der Film widerlegt die Behauptungen der Kollektivschuld-Theorie, wonach die überwältigende Mehrheit der Deutschen den Hitlerfaschismus unterstützt habe. Gleichzeitig hat er eine große Aktualität und fällt mit den Massendemonstrationen zusammen, die in den letzten Monaten im ganzen Land gegen die faschistische Alternative für Deutschland stattgefunden haben.
Die Geschichte von Hans und Hilde Coppi und ihren Mitstreitern im Widerstand war im westdeutschen Nachkriegsdeutschland wenig bekannt, wo führende Alt-Nazis neue Karrieren machten und Mitglieder des Widerstands dämonisieren konnten. Empörenderweise wurde das NS-Urteil wegen Hochverrats gegen Coppi und ihre Mitstreiter erst 2009 aufgehoben. Hitlers Ankläger in Plötzensee, Manfred Roeder, lebte unbehelligt in der Bundesrepublik und wurde ein führender Redner in einer wiederbelebten faschistischen Partei.
In Ostdeutschland waren die Widerstandskämpfer zwar bekannt und wurden verehrt, aber das SED-Regime nutzte sie auch, um davon abzulenken, dass Stalin die Nachrichten und Warnungen der Roten Kapelle in den Wind geschlagen und die KPD-Führung sich geweigert hatte, die Arbeiterklasse gegen die Faschisten zu mobilisieren.
Der Film beginnt mit der Verhaftung von Hilde 1942 und folgt ihr ins Gefängnis bis zu ihrer Hinrichtung. In zahlreichen Rückblenden erinnert sich Hilde an die schöne Zeit davor: Zelten am stillen Lehnitzsee, die erste Begegnung mit Hans und seinem bunten Freundeskreis, ihr erster Aktions-Treff, ihre technische Unterstützung bei der Flugblattherstellung, erste Morseversuche von Hans, seine fast kindliche Freude nach erfolgreichem Testfunkspruch Richtung Moskau.
Ihre Beweggründe, an Aktionen der Gruppe um den Offizier Harro Schulz Boysen und seiner lebenslustigen Frau Liberta teilzunehmen, sind einfach. Neben der Zuneigung zu Hans sind es ihre Aufrichtigkeit und ihre Fähigkeit zu Mitgefühl, die sie 1942 sagen lassen: Es reicht. Über den verbotenen Sender „Radio Moskau“ erfährt sie, dass das NS-Regime die Soldateneltern belügen, wenn die Söhne in sowjetischer Kriegsgefangenschaft geraten sind. Es heißt, die Rote Armee mache keine Gefangenen. Hilde informiert regelmäßig trauernde Eltern, dass ihre Kinder in Wirklichkeit leben.
Wie rüttelt man die Bevölkerung gegen den Krieg auf? Die pazifistische Tucholsky-Losung „Krieg dem Kriege“ wird verworfen. Ein Klebezettel richtet sich gegen die Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“, die den Überfall auf die UdSSR rechtfertigt und im Stil einer Kolonialausstellung ein bolschewistisches Reich präsentiert, regiert von kulturlosen Wilden. Der Zettel kommentiert ironisch: „Das Nazi-Paradies, Hunger, Lügen Gestapo. Wie lange noch?“
Als die Gestapo die Urheber aufspürt, werden neben Hilde eine ganze Reihe junger Menschen zum Tode verurteilt. Wie die anderen ist sie darüber schockiert, bringt aber die Kraft auf, ihr Kind im Gefängnis zur Welt zu bringen und ihm seine ganze Liebe zu geben. Die letzten Augenblicke ihres Lebens laufen, in Echtzeit gedreht, quälend langsam vor dem Zuschauer ab. 13 junge Frauen gehen in Reihe zur Hinrichtungsbaracke, registrieren, dass dies wirklich das Ende ist. Die erst 19-jährige Liane Berkowitz ist besonders verzweifelt und wird von Hilde gestützt.
Dresen ist während des Films nah an den Figuren. Liv Lisa Fries („Babylon Berlin“) ist eine herausragende Hilde, die sich durch Ängste kämpft, um sich der Anforderung des Lebens zu stellen. Der offensichtliche Bezug zum Widerstand der Gegenwart wird durch gemischt-zeitlose Kleidung verstärkt und den Verzicht auf übliche Nazi-Klischees, wie Fahnen, Heil-Rufe, Hackenknallen. Statt eines schablonenhaften Denunzianten gibt es ganz unterschiedliche Haltungen. So zeigt der Kellner im Biergarten den Soldaten nicht an, als der ihm den längst abgelaufenen Front-Urlaubsschein vorzeigt.
Als die Geburt ansteht und das Kind zur Welt kommen will, vergisst die Hebamme, dass Hilde eine Staatsfeindin ist, und bemüht sich mit aller Kraft, während der Blick des Arztes zu sagen scheint: Wozu der Aufwand, Kind und Mutter werden eh nicht lange leben. Die Aufseherin schaut im Hintergrund ausdruckslos wie immer. Später wird sie anfangen, Hilde im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen. Der Pfarrer nötigt der Atheistin vor ihrer Hinrichtung kein Gebet auf, sondern fordert sie auf, ihm den Abschiedsgruß an die Mutter zu diktieren, den er persönlich überbringen will. Als sie, noch nicht fertig, abgeholt wird, ergänzt er: „In Liebe, Eure Hilde.“ Dresen bestätigt, dass es diese Art Solidarität gegeben hat.
Den fließenden Übergang von passiver Solidarität zum aktiven Widerstand bestätigt auch der Dokumentarfilm „Die rote Kapelle“(2004) von Stefan Roloff. Er sieht den Widerstandskreis weniger als straff geführte politische Organisation, als ein recht großes Netzwerk sehr unterschiedlicher Gruppen quer durch die Bevölkerung. Offenbar vermischte sich der politische Widerstand mit einem wesentlich breiteren, anonymen Widerstand im Kleinen.
Die Stimmung ‚Es reicht!‘ vermitteln gut die Postkarten, die das Berliner Arbeiterehepaar, dem Fallada mit dem Roman „Jeder stirbt für sich allein“ ein Denkmal gesetzt hat, zwischen 1940 und 1942 in der Stadt auslegte. Sie prangern die Lügen der Regierung an, die soziale Krise, rufen zu Sabotage in den Betrieben auf, dazu keine Sammlungen für den Krieg zu unterstützen, zum Sturz der Regierung.
Unpolitische Arbeiterjugendliche, organisiert als „Edelweißpiraten“ werden hingerichtet. Ebenso wenige Monate vor Hildes Hinrichtung die Studentin Sophie Scholl, die an der Münchner Uni Flugblätter ausgelegt hatte. Die Härte der Strafen zeigte die Angst vor einer drohenden Massenerhebung.
Der Film von Dresen ist sehr aktuell. Er richtet sich an die junge Generation, die zunehmend in Konflikt mit Regierungen kommt, die – wie in den 1930er Jahren – die Interessen der Bevölkerung mit Füßen treten und in allen Fragen – Krieg, militärische Aufrüstung, Sozialabbau, Umweltschutz etc. – die Interessen der herrschenden Kapitalistenklasse vertreten.
Während Regisseur Dresen in Interviews und Gesprächsrunden den Standpunkt vertritt, dass Anstand und Zivilcourage im Kampf gegen Faschismus und Krieg ausreichen, zeigt sein Film etwas anderes. Er macht in bedrückender Weise deutlich, dass es eine Situation geben kann, in der es zu spät ist und die faschistische Diktatur jeden Widerstand zermalmt. „In Liebe, Eure Hilde“ mahnt, es nicht so weit kommen zu lassen und rechtzeitig den Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung, Krieg und Faschismus aufzunehmen. Die Parole „Nie wieder ist jetzt!“ bekommt dann eine ganz andere Bedeutung.
Darüber hinaus zeigt der Film, dass der Kampf gegen Faschismus und Krieg ohne ein politisches, sozialistisches Programm und ohne eine revolutionäre Partei, die die Lehren aus der Geschichte gezogen hat und die Arbeiterklasse mobilisiert, nicht gewonnen werden kann.
Der Anführer der Roten Kapelle Leopold Trepper ist in seinen Erinnerungen sehr genau auf diese Fragen eingegangen. Er betonte, dass Hitler nur an die Macht kommen konnte, weil Stalin seinen Kurs in der KPD durchsetzte und jeden ernsthaften Kampf der Arbeiterklasse unterdrückte. Er schrieb: „Tatsächlich trägt die Verantwortung für die Liquidierung der Berliner Gruppe die Direktion des militärischen Nachrichtendienstes in Moskau und das Zentralkomitee der illegalen Kommunistischen Partei Deutschlands.“ [Leopold Trepper: Die Wahrheit. Autobiographie, München 1978, S. 149]
Trepper zollte in seiner Autobiographie auch Leo Trotzki und der Linken Opposition seine Anerkennung und Hochachtung: „Wer hat denn damals [während der stalinistischen Repressionen] protestiert? Wer ist denn aufgestanden und hat seinen Ekel hinausgeschrien? Solche Ehre dürfen nur die Trotzkisten für sich in Anspruch nehmen. Gleich ihrem Führer, der für seine Unbeugsamkeit mit einem Eispickel erschlagen wurde, kämpften sie unerbittlich gegen den Stalinismus – als einzige.“