Die World Socialist Web Site und der Verlag Mehring Yayıncılık veranstalteten in Zusammenarbeit mit der Verwaltung von Adalar (Prinzeninsel) am 16. August eine Gedenkveranstaltung auf der türkischen Insel Büyükada (Prinkipo) mit dem Titel: „Der 85. Jahrestag des Mordes an Leo Trotzki: Historische Bedeutung und bleibende Folgen“.
Hauptredner bei der Veranstaltung war David North, der Vorsitzende der internationalen Redaktion der WSWS. Er sprach in einem Online-Interview über die Umstände der Ermordung Trotzkis und die laufende Untersuchung mit dem Titel „Sicherheit und die Vierte Internationale“, die das Internationale Komitee der Vierten Internationale im Jahr 1975 eingeleitet hatte. Eine Abschrift des Interviews wird in den kommenden Tagen auf der WSWS veröffentlicht.
Die Eröffnungsrede hielt Ali Ercan Akpolat, Bürgermeister von Adalar, gefolgt von einer Rede der Künstlerin Gülhan über ihre Ausstellung „Trotzkis Weg“, die am Veranstaltungsort eröffnet wurde.
Hier veröffentlichen wir die Rede von Ulaş Ateşçi, einem führenden Mitglied der Sozialistischen Gleichheitsgruppe, mit der er das Interview mit David North einleitete.
Liebe Gäste,
mein Name ist Ulaş Ateşçi. Ich bin Redakteur bei Mehring Yayıncılık und der World Socialist Web Site, die zur Organisation dieser Veranstaltung beigetragen haben. Ich heiße euch alle noch einmal willkommen. Es ist mir eine Ehre, heute bei dieser bedeutenden Veranstaltung vor euch sprechen zu dürfen.
Zuerst möchte ich mich bei der Gemeinde Adalar unter der Leitung von Ali Ercan Akpolat dafür bedanken, dass wir hier die „3. Internationale Gedenkfeier für Leo Trotzki“ veranstalten dürfen, und bei Gülhan, die hier ihre Ausstellung „Trotzkis Weg“ vorgestellt hat.
Auf dieser Insel, die diesem großen russischen Revolutionär – oder, aufgrund seiner Theorie der permanenten Revolution und seines politischen Vermächtnisses genauer gesagt: dem „Weltrevolutionär“ – zwischen 1929 und 1933 als Heimat diente, findet heute ein intellektuelles Ereignis von internationaler Bedeutung statt, das schon zur Tradition geworden ist. Und die Restaurierung des Trotzki-Hauses auf der Insel in einer Weise, die diesem großen Revolutionär angemessen ist, wird eine Initiative von großer Bedeutung sein. Das Haus wird in ein Kulturzentrum umgewandelt, das Arbeitern, Jugendlichen und Intellektuellen aus aller Welt zugänglich sein wird.
Wie wir bereits in der Überschrift der ersten Gedenkveranstaltung vor zwei Jahren feststellten, hat die Anwesenheit des im Exil lebenden Weltrevolutionsführer diese Insel ins Zentrum der Weltgeschichte gerückt.
Nicht nur Agenten der stalinistischen Geheimpolizei GPU folgten Trotzki aufmerksam. Trotzki korrespondierte ständig und traf sich mit den Führern der Internationalen Linken Opposition, die aus dem Widerstand gegen die politische Degeneration der stalinisierten Komintern hervorgegangen war. Trotzkis Schriften wurden nicht nur in Moskau aufmerksam gelesen, sondern auch in den Hauptstädten Amerikas, Europas und der restlichen Welt. Auf Prinkipo verfasste Trotzki einige seiner wichtigsten Werke: seine Autobiografie „Mein Leben“, die „Geschichte der Russischen Revolution“ und mehrere Schriften, in denen er vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland warnte und den Weg aufzeigte, wie man Hitlers Sieg hätte verhindern können. Sie wurden im Band „Der Kampf gegen den Faschismus in Deutschland“ (deutsch: „Porträt des Nationalsozialismus“) zusammengefasst.
In Mexiko, seinem letzten Exil, wo er schließlich ermordet wurde, schrieb Trotzki 1938 das Gründungsdokument der Vierten Internationale. Darin warnte er: „Ohne sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht die ganze menschliche Kultur in einer Katastrophe unterzugehen.“ Trotzki hätte keine Schwierigkeiten damit gehabt, die heuten Bedingungen zu verstehen, die die Kultur der Menschheit mit Faschismus, Völkermord und Atomkrieg bedrohen. Und mit jedem Jahr, das vergeht, eskalieren diese vom imperialistisch–kapitalistischen System verursachten Katastrophen weiter.
Der Vorsitzende der internationalen World Socialist Web Site-Redaktion, David North, erklärte in seiner Rede am 25. August letzten Jahres:
Fast 80 Jahre nach dem Zusammenbruch von Hitlers Drittem Reich und dem Ende des Zweiten Weltkriegs erleben wir das Wiederaufleben des Faschismus, den Einsatz von Völkermord als Instrument staatlicher Politik und die Eskalation militärischer Konflikte hin zu einem nuklearen dritten Weltkrieg.
Nur wenige Monate nach dieser Rede kehrte der Faschist Donald Trump ins Weiße Haus der Vereinigten Staaten zurück. Seither versucht er, unter Missachtung der Verfassung eine Präsidialdiktatur in dem Land, das zwei große demokratische Revolutionen erlebt hat, zu errichten.
Der Völkermord an den Palästinensern in Gaza, den Israel, unterstützt von USA und Nato, im Oktober 2023 begonnen hat, verschärft sich immer weiter. Er hat die Form von massenhaftem Verhungern, ethnischer Säuberung und Massakern angenommen. Im letzten Juni erlebten wir einen imperialistischen Angriff der USA und Israels auf unseren Nachbarn Iran, der Teil des Plans war, einen „Neuen Nahen Osten“ unter vollständiger Kontrolle der USA zu schaffen.
Der Krieg der USA und der Nato gegen Russland um die Ukraine und die Vorbereitungen auf einen Krieg gegen China gehen weiter. Die Gefahr eines atomaren Konflikts zwischen Großmächten wächst mit jedem Tag. All das geht einher mit dem weltweiten Anwachsen von sozialem Widerstand gegen Völkermord, imperialistischen Krieg, soziale Konterrevolution und autoritäre Regime sowie den zunehmenden Klassenkämpfen.
Die Türkei ist von diesen globalen Ereignissen nicht ausgenommen. Im Gegenteil, sie ist ein wichtiges Epizentrum von Konflikten und Spannungen. Hier in Istanbul, wo wir heute Trotzkis gedenken, wurde vor fünf Monaten der gewählte Bürgermeister, Ekrem İmamoğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP) und laut Umfragen führender Präsidentschaftskandidat, verhaftet und ins Gefängnis gesperrt. Diese Welle von politischen Verhaftungen, die u.a. auch Nesimi Aday, Mitglied des Gemeinderats von Adalar, und viele andere betrifft, löste eine Massenbewegung aus, die sich in der zweiten Märzhälfte auf das ganze Land ausbreitete.
Viele Jugendliche und Arbeiter gehen auf die Straße, um ihre demokratischen Grundrechte zu verteidigen, einschließlich des aktiven und passiven Wahlrechts, des Rechts auf einen fairen Prozess, freie Meinungsäußerung, Versammlungs-, Demonstrations- und Pressefreiheit. Weitere Auslöser dieser sozialen Explosion sind die immer schlimmeren Lebensbedingungen, verursacht durch die sozialen Angriffe der herrschenden Klasse im Zuge des Völkermords in Gaza und des eskalierenden globalen Kriegs. Die Unzufriedenheit und die Angst vor der Zukunft nehmen ständig zu. Zu diesem Anlass möchte ich, ohne die politischen Differenzen zwischen uns zu verheimlichen, erneut die Forderung nach der Freilassung aller politischen Gefangenen, eine Forderung von Millionen Menschen, noch einmal bekräftigen.
In Wirklichkeit sind dieselben Widersprüche, die 1917 zur Oktoberrevolution und der darauf folgenden internationalen revolutionären Welle geführt haben, heute im globalen Maßstab noch viel akuter. Hinzu kommt, dass die Strategen der imperialistischen und kapitalistischen Regime neue revolutionäre soziale Explosionen nicht nur als möglich, sondern als unvermeidlich erachten und bereit sind, zu allen Mitteln zu greifen, um eine Wiederholung des Erfolgs der Bolschewiki zu verhindern.
Trotzki führte gemeinsam mit Wladimir Lenin die Oktoberrevolution von 1917 an, die ein neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte aufschlug. Weniger als zwölf Jahre nach der Revolution wurde er vom bürokratischen Regime unter Stalin, das die Macht von der sowjetischen Arbeiterklasse usurpiert hatte, zwangsweise in die Türkei verbannt.
Die politische Bedeutung von Trotzkis Ausschluss aus der herrschenden Kommunistischen Partei, der Kommunistischen Internationale und der UdSSR kann nicht genug betont werden. Neben Lenin war er der entschiedenste Verteidiger und die Verkörperung des sozialistischen Internationalismus sowie des Programms der sozialistischen Weltrevolution, das die Grundlage der Revolution bildete. Selbst Stalin musste Trotzkis entscheidende Rolle bei der Oktoberrevolution anerkennen. Dieser hatte die Rote Armee, die die vom Imperialismus unterstützten konterrevolutionären Kräfte besiegte, gegründet und angeführt. Gemeinsam mit Lenin leitete Trotzki die Kommunistische Internationale, die als Zentrum der sozialistischen Weltrevolution gegründet wurde, bei ihren ersten vier Kongressen. In den Sowjetrepubliken und auf der ganzen Welt wurden zwei Namen am häufigsten genannt, wenn über das junge bolschewistische Regime gesprochen wurde: Lenin und Trotzki. Die neue Regierung wurde oft als Lenin-Trotzki-Regierung bezeichnet.
Die revolutionären Erhebungen der Arbeiterklasse in Russland und international – und die Reaktion der Regierungen darauf – hatten Lenin und Trotzki im Jahr 1917, nach Jahren im Exil, in kürzester Zeit an die Macht gebracht. Genauso muss auch Trotzkis Entmachtung in einem breiteren Kontext betrachtet werden. Seine Verbannung in die Türkei und seine spätere Ermordung am 20. August 1940 durch einen stalinistischen Agenten können nicht von den internationalen Klassenkämpfen, Revolutionen und Konterrevolutionen sowie der Reaktion darauf getrennt werden.
Der Stalinismus, von Trotzki als „Agentur des Imperialismus innerhalb der Arbeiterbewegung“ bezeichnet, diente dem Imperialismus durch diesen Mord, indem er Trotzki, der die Gefahr der sozialistischen Weltrevolution verkörperte, beseitigte. Dieser Mord stellte den Höhepunkt des politischen Völkermords dar, der 1936 in der UdSSR begonnen hatte und hunderttausende sozialistische Intellektuelle und Arbeiter ermordete. Nicht nur Stalin, der „Totengräber der Revolution“, sondern auch Hitler und andere imperialistische Führer begrüßten angesichts des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs Trotzkis Ermordung mit großer Genugtuung.
Obwohl das stalinistische Regime es schaffte, Trotzki heimtückisch zu ermorden, gelang es ihm nicht, die Vierte Internationale zu zerstören, zu deren Gründung Trotzki 1933 auf Prinkipo aufgerufen und die er bei ihrer Gründung 1938 angeführt hatte. Ebenso wenig konnte der Stalinismus den Kampf für den internationalen Sozialismus eliminieren.
David North, den wir heute zum dritten Mal willkommen heißen, ist seit fast 50 Jahren führendes Mitglied des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI). Das IKVI verteidigt seit 1953 die politische Kontinuität der Bewegung und dieses Kampfes.
North spielte die führende Rolle in der Untersuchung „Sicherheit und die Vierte Internationale“, die das IKVI im Mai 1975 eingeleitet hatte. Es ist die erste umfassende und systematische Untersuchung der Umstände von Trotzkis Ermordung. Heute werden wir mit David North über den Mord an Trotzki und diese noch immer laufende historische Untersuchung sprechen.
David Norths Tätigkeit als revolutionärer Journalist, Historiker und politischer Führer der internationalen Arbeiterbewegung und der trotzkistischen Bewegung erstreckt sich über 55 Jahre. North ist eine politische Autorität zum Thema Leo Trotzki. Er hat unter anderem folgende Werke verfasst: „Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21. Jahrhundert“, „Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus“ und „Verteidigung Leo Trotzkis“ (die der Verlag Mehring Yayıncılık in der Türkei veröffentlicht hat), sowie: „Die Logik des Zionismus: Vom nationalistischen Mythos zum Genozid in Gaza“, „Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert“ und „Das Erbe, das wir verteidigen: Ein Beitrag zur Geschichte der Vierten Internationale“.