Den folgenden Vortrag hielt Joseph Kishore, der nationale Sekretär der Socialist Equality Party (USA), auf der Summer School der SEP (USA), die vom 2. bis 9. August 2025 stattfand. Er ist der zweite Teil eines Vortrags über die Ursprünge des Trotzkismus; der erste Teil findet sich hier.
Die WSWS wird außerdem Leo Trotzkis Schrift „Der neue Kurs“ veröffentlichen, die zwischen Dezember 1923 und Januar 1924 verfasst wurde und für die Linke Opposition grundlegend war. Wir empfehlen unseren Lesern, diesen Text zusammen mit diesem Vortrag zu studieren.
In den kommenden Wochen wird die WSWS alle Vorträge der Schule veröffentlichen. Erschienen sind bisher die Einführung in die Schule durch den nationalen Vorsitzenden der SEP, David North: „Der Platz von ‚Sicherheit und die Vierte Internationale‘ in der Geschichte der trotzkistischen Bewegung“, sowie der erste Teil dieses Vortrags, „Die permanente Revolution und die Ursprünge des Trotzkismus“ von Christoph Vandreier, dem Vorsitzenden der Sozialistischen Gleichheitspartei.
Der erste Teil dieses Vortrags gab einen Überblick über die theoretischen und politischen Kämpfe, die im Oktober 1917 in der Machteroberung der Bolschewiki gipfelten. Die Revolution war nicht einfach ein nationales Ereignis, sondern der erste Schritt bei der Verwirklichung von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution – einer Strategie, die in der Perspektive der Weltrevolution wurzelt und ihren organisatorischen und politischen Ausdruck in der Gründung der Kommunistischen Internationale 1919 fand.
Die Jahre nach der ersten revolutionären Welle, insbesondere zwischen 1921 und 1924, markierten einen entscheidenden Wendepunkt. Nach sieben Jahren Krieg und Bürgerkrieg war Russland wirtschaftlich am Boden und sozial zerrüttet. Die Tatsache, dass es der Arbeiterklasse nicht gelungen war, die Macht in Europa zu ergreifen, führte zur Isolation der Sowjetunion. Als Reaktion auf die katastrophalen wirtschaftlichen Bedingungen führte die Sowjetregierung im März 1921 im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) gewisse Marktmechanismen wieder ein – ein vorübergehender und notwendiger Rückzug.
Die NEP hatte jedoch auch gesellschaftliche und politische Folgen. In Verbindung mit der vorübergehenden Stabilisierung des Kapitalismus in Westeuropa trug sie zum Anwachsen einer konservativen Stimmung innerhalb der Kommunistischen Partei und des Staatsapparats sowie zum Wiederaufleben nationalchauvinistischer Tendenzen bei. Die nächste Phase musste in einem unerbittlichen politischen Kampf gegen diese Tendenzen bestehen. Dieser begann mit Lenins letztem Kampf und gipfelte in der Bildung der Linken Opposition und dem Kampf gegen die antimarxistische Theorie des „Sozialismus in einem Land“. In dieser Zeit entstand das Bündnis zwischen Lenin und Trotzki gegen die aufstrebende Bürokratie.
Lenins letzter Kampf gegen Nationalismus und Bürokratie
Dieser Konflikt drehte sich um eine Reihe von Fragen, die zwar inhaltlich und zeitlich miteinander verknüpft waren, die ich hier jedoch getrennt betrachten werde.
Das Außenhandelsmonopol
An erster Stelle stand der Konflikt um das Außenhandelsmonopol, der die Beziehung zwischen der Sowjetunion und dem Weltkapitalismus und damit die Grundvoraussetzungen der Oktoberrevolution betraf. Wie Lenin Ende Februar 1922 bekräftigte, ging die Revolution von der Perspektive der sozialistischen Weltrevolution aus:
Nicht zu Ende geführt haben wir jedoch die Errichtung auch nur des Fundaments der sozialistischen Wirtschaft. Das können die uns feindlichen Kräfte des sterbenden Kapitalismus noch rückgängig machen. Man muss sich dessen klar bewusst sein und es offen zugeben, denn es gibt nichts Gefährlicheres als Illusionen (…) wir haben stets die Abc-Wahrheit des Marxismus verkündet und wiederholt, dass zum Sieg des Sozialismus die gemeinsamen Anstrengungen der Arbeiter mehrerer fortgeschrittener Länder notwendig sind.[1]
Die sowjetische Regierung verstand die NEP, die ein Jahr zuvor eingeführt worden war, als vorübergehenden Rückzug, der aufgrund der wirtschaftlichen Zerstörung Russlands und des Scheiterns der revolutionären Welle in Europa unmittelbar nach dem Krieg notwendig geworden war. „Hätte das europäische Proletariat 1919 die Macht erobert, hätte es unser rückständiges Land mitreißen können“, bemerkte Trotzki später und räumte damit die Möglichkeit eines direkten Übergangs vom „Kriegskommunismus“ zu einer echten sozialistischen Wirtschaft ein. Nur dann konnte die NEP aufrechterhalten werden, ohne die Grundlagen des Arbeiterstaates zu untergraben, wenn strenge Kontrollen, insbesondere des Außenhandels, die Möglichkeiten des Imperialismus einschränkten, die sowjetische Wirtschaft einfach „aufzukaufen“.
Die NEP schuf jedoch auch eine soziale Basis für eine stärkere Liberalisierung in Sowjetrussland, die sich innerhalb der Partei widerspiegelte. Anfang 1922 wuchs der Druck, das Außenhandelsmonopol zu lockern, um ausländische Investitionen zu fördern und Teile der Kleinbourgeoisie und der Bauernschaft zu beschwichtigen. Lenin reagierte entschlossen darauf. In einem Brief an Lew Kamenew vom 3. März betonte er, dass eine Aufhebung des Monopols ausländischem Kapital, das „bereits unsere Beamten mit Bestechungsgeldern aufkauft“, ermöglichen würde, „das, was von Russland noch übrig ist, wegzuschleppen“.[2]
Im Mai 1922 legte Lenin dem Politbüro einen Antrag zur Bekräftigung des Außenhandelsmonopols vor und erhielt die zögerliche Zustimmung Stalins, der schrieb, dass er den Vorschlag zwar unterstütze, „eine solche Schwächung [des Monopols] jedoch unvermeidlich“ sein werde. Trotzki unterstützte Lenins Position, und am 22. Mai akzeptierte das Zentralkomitee Lenins Forderungen.
Am 26. Mai 1922 erlitt Lenin seinen ersten Schlaganfall. Während sich der Gesundheitszustand des ersten Führers der bolschewistischen Partei verschlechterte, gab es Bestrebungen, Trotzki zu isolieren. Im Juli 1922 kursierten Gerüchte über einen Vorschlag, Trotzki aus dem Zentralkomitee zu entfernen, woraufhin Lenin eine wütende Notiz an Kamenew schrieb, in der er eine solche Maßnahme als „Gipfel der Absurdität“ bezeichnete.
Am 6. Oktober, als Lenin wegen seiner schlechten Gesundheit abwesend war, verabschiedete das Zentralkomitee eine weitere Resolution, die das Außenhandelsmonopol schwächte und damit die nur fünf Monate zuvor getroffene Entscheidung rückgängig machte. Lenin sah darin sowohl einen persönlichen Affront als auch ein Symptom für einen politischen Niedergang. Deshalb ging er in die Offensive und schloss in dieser Frage ein Bündnis mit Trotzki.
Auf dem Vierten Kongress der Kommunistischen Internationale im November/Dezember 1922 trat Lenin zum letzten Mal öffentlich auf. Auf diesem Kongress hielt Trotzki einen umfassenden Bericht über die Lage der Sowjetregierung, in dem er den globalen Kontext der Revolution hervorhob und Themen weiterentwickelte, über die Lenin zu Beginn des Jahres geschrieben hatte:
Wir sind noch immer vom Kapitalismus eingekreist (...) Daher hat das Monopol für uns eine prinzipielle Bedeutung. Das ist der Schutz gegen den Kapitalismus, der den beginnenden Sozialismus aufkaufen will.[3]
In einer Reihe von Briefen, die Mitte Dezember 1922 geschrieben wurden, drängte Lenin auf eine Lösung der Außenhandelsfrage und versuchte, sein Bündnis mit Trotzki zu festigen, um die Entscheidung vom Oktober rückgängig zu machen. In einem Brief an Stalin verurteilte er Nikolai Bucharin für seine Maßnahmen gegen dieses Monopol:
Praktisch stellt sich Bucharin auf den Standpunkt der Verteidigung des Spekulanten, des Kleinbürgers und der bäuerlichen Oberschichten gegen das Industrieproletariat, das absolut nicht in der Lage ist, seine Industrie wiederherzustellen und Russland zu einem Industrieland zu machen, wenn das Land nicht ausschließlich durch das Außenhandelsmonopol, sondern nur irgendwie durch die Zollpolitik geschützt ist. (…) Vom Standpunkt des Proletariats und seiner Industrie ist deshalb dieser Kampf von ganz grundlegender, prinzipieller Bedeutung.[4]
Am selben Tag schrieb Lenin an Trotzki und bat ihn, „unseren gemeinsamen Standpunkt“ öffentlich zu verteidigen und ihre Position auf der bevorstehenden Plenarsitzung zu vertreten. In einem Folgebrief an Trotzki vom 15. Dezember bekräftigte er: „Ich bin der Meinung, dass wir eine Einigung erzielt haben. Ich bitte Sie, die Verteidigung unserer gemeinsamen Auffassung zu übernehmen (…).“ Der Antrag wurde angenommen, aber fast unmittelbar darauf, nach einem zweiten Schlaganfall, beschloss das Zentralkomitee unter Berufung auf Lenins Gesundheitszustand, jede weitere Kommunikation mit ihm über politische Fragen zu unterbinden. Stalin wurde mit der Durchsetzung dieses Beschlusses beauftragt.
Am 21. Dezember schrieb Lenin an Trotzki: „Wie es scheint, ist es uns gelungen, die Stellung ohne einen einzigen Schuss, durch einfaches Manövrieren, zu nehmen. Ich schlage vor, nicht stehenzubleiben, sondern die Offensive fortzusetzen.“[5] Am folgenden Tag griff Stalin Lenins Frau Nadeschda Krupskaja scharf an, weil sie Lenin erlaubt hatte, den Brief an Trotzki zu diktieren. Lenin erfuhr von diesem Vorfall erst im März 1923, was ihn darin bestärkte, die Absetzung Stalins als Generalsekretär zu fordern. Darauf werden wir später noch zurückkommen.
Der Kampf gegen den großrussischen Chauvinismus
Parallel dazu tauchte in der zweiten Hälfte des Jahres 1922 ein noch grundlegenderes Problem auf: der Kampf gegen das Wiederaufleben des russischen Nationalismus in der Führung der bolschewistischen Partei.
Die bolschewistische Revolution basierte auf Internationalismus, nicht nur in ihrer Ausrichtung auf die Weltrevolution, sondern auch in ihrer Innenpolitik gegenüber den vom Zarenregime unterdrückten Nationalitäten. Die Oktoberrevolution hatte den unterdrückten Völkern, die lange unter der Herrschaft des Zaren und dem großrussischen Chauvinismus gelitten hatten, Selbstbestimmung und Gleichheit versprochen. Mit der teilweisen Stabilisierung des Sowjetstaates unter der NEP erhob sich jedoch erneut ein starker nationalistischer Druck.
Das zentrale Thema war Stalins Vorschlag, die nichtrussischen Republiken – Ukraine, Georgien, Aserbaidschan, Armenien und andere – unter dem Deckmantel der „Autonomisierung“ in die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) zu integrieren, wodurch faktisch die russische Vorherrschaft wiederhergestellt worden wäre. Am 26. September 1922 schlug Lenin stattdessen die Bildung einer Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vor, die eine Föderation gleichberechtigter Republiken mit offiziellem Sezessionsrecht sein sollte.
Nach Lenins Plan sollte die RSFSR den neuen föderalen Exekutivorganen unterstellt werden, wodurch alle Republiken gleichgestellt worden wären. Wir haben kürzlich speziell im Zusammenhang mit Putins Angriff auf Lenin über die Bedeutung dieser Position geschrieben.
Auf einer Sitzung am 6. Oktober 1922 verabschiedete das Zentralkomitee eine Resolution auf der Grundlage von Lenins Vorschlag; es war dieselbe Sitzung, die den Vorschlag zur Schwächung des Außenhandelsmonopols angenommen hatte. Dazu erklärte Lenin in einem Brief an Kamenew vom 7. Oktober 1922:
Dem großrussischen Chauvinismus erkläre ich den Kampf auf Leben und Tod. Sobald ich erst den verfluchten Zahn los bin, werde ich mich mit allen gesunden Zähnen auf ihn stürzen. Man muss unbedingt darauf bestehen, dass im Zentralexekutivkomitee der Union der Reihe nach ein Russe, ein Ukrainer, ein Georgier usw. den Vorsitz führt. Unbedingt. Ihr Lenin.[6]
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung um die nationale Frage standen Konflikte zwischen der Kommunistischen Partei Russlands und der Führung der Kommunistischen Partei Georgiens. Ende November kam ans Licht, dass Sergo Ordschonikidse, Stalins Beauftragter in Georgien, während einer Auseinandersetzung ein Mitglied des georgischen Zentralkomitees tätlich angegriffen hatte, was Lenin aufs Schärfste verurteilte.
Am 30. und 31. Dezember fasste Lenin die Probleme in diktierten Notizen „Zur Frage der Nationalitäten oder der ‚Autonomisierung‘“ zusammen. In diesem Dokument kritisierte Lenin scharf die seiner Meinung nach „wahrhaft russische“ bürokratische Tendenz, die sich innerhalb des Staatsapparats in den fünf Jahren entwickelt hatte, „in denen uns die Hilfe anderer Länder fehlte und wir uns vorwiegend militärisch ‚betätigten‘ und die Hungersnot bekämpften“. Er warnte:
Unter diesen Umständen ist es ganz natürlich, dass sich die „Freiheit des Austritts aus der Union“, mit der wir uns rechtfertigen, als ein wertloser Fetzen Papier herausstellen wird, der völlig ungeeignet ist, die nichtrussischen Einwohner Russlands vor der Invasion jenes echten Russen zu schützen, des großrussischen Chauvinisten, ja im Grunde Schurken und Gewalttäters, wie es der typische russische Bürokrat ist. Kein Zweifel, dass der verschwindende Prozentsatz sowjetischer und sowjetisierter Arbeiter in diesem Meer des chauvinistischen großrussischen Packs ertrinken wird wie die Fliege in der Milch.[7]
Lenin nannte ausdrücklich Stalins „Hang zum Administrieren“ und seine „Wut“ als die treibende Kraft hinter den Zentralisierungsbemühungen. Die Durchsetzung der russischen Vorherrschaft unter dem Deckmantel der sowjetischen Einheit sei Verrat am proletarischen Internationalismus, auf dem die Oktoberrevolution gegründet war. Lenin schrieb,
dass es nicht angeht, abstrakt die Frage des Nationalismus im Allgemeinen zu stellen. Man muss unterscheiden zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden Nation und dem Nationalismus einer unterdrückten Nation, zwischen dem Nationalismus einer großen Nation und dem Nationalismus einer kleinen Nation.[8]
Und in einer sehr direkten politischen Anschuldigung erklärte Lenin:
Politisch verantwortlich für diese ganze wahrhaft großrussisch-nationalistische Kampagne müssen natürlich Stalin und Dzierzynski gemacht werden.[9]
Das Anwachsen des Bürokratismus und Lenins Block mit Trotzki
Was diese Auseinandersetzung anheizte, war ein gesellschaftlicher Prozess, in dem die sowjetische Bürokratie erstarkte. Die wirtschaftlichen Zugeständnisse an die Bauernschaft und die kleinbürgerlichen Schichten im Rahmen der NEP schufen einen fruchtbaren Boden für das Wiederaufleben einer bürgerlichen und nationalistischen Stimmung. Wie Genosse North erklärte:
Das Wiederaufleben nationaler Gefühle widerspiegelte nicht nur die Einstellung der Bauernschaft, sondern auch jene der wachsenden Bürokratie, deren Angehörige die Revolution immer mehr unter dem Blickwinkel der Privilegien sahen, die sie den Posteninhabern des neuen sowjetischen Nationalstaates beschert hatte.[10]
Wie Trotzki später bemerkte, lautete die Sichtweise der Bürokraten: „Aber doch nicht immer und nicht alles nur für die Revolution, man muss auch an sich denken.“[11] Lenin selbst erkannte diese Gefahren, die wir hier betrachten, im Laufe der Zeit immer deutlicher. In seinem politischen Bericht an den 11. Parteitag im März 1922 beschrieb er den zentralen Widerspruch, mit dem der Sowjetstaat konfrontiert war:
Man nehme doch Moskau – die 4700 verantwortlichen Kommunisten – und dazu dieses bürokratische Ungetüm, diesen Haufen, wer leitet da und wer wird geleitet? Ich bezweifle sehr, ob man sagen könnte, dass die Kommunisten diesen Haufen leiten. Um die Wahrheit zu sagen, nicht sie leiten, sondern sie werden geleitet. (…) [I]st hier nicht der Fall eingetreten, dass 4700 Kommunisten (fast eine ganze Division, und allesamt die besten) einer fremden Kultur unterlegen sind? Allerdings könnte hier der falsche Eindruck entstehen, dass die Besiegten eine hohe Kultur besitzen. Nichts dergleichen. Ihre Kultur ist armselig, ist sehr niedrig, aber dennoch steht sie höher als die unsrige.[12]
Diese Warnung spiegelte Lenins wachsendes Bewusstsein darüber wider, dass die kulturellen und politischen Errungenschaften der Revolution durch genau die Rückständigkeit untergraben wurden, die der Sowjetstaat hatte überwinden wollen.
Auf dem 11. Parteitag (März–April 1922) wurde eine scheinbar nebensächliche Entscheidung getroffen, die jedoch schicksalhafte Folgen haben sollte: die Ernennung Stalins zum Generalsekretär, in ein neu geschaffenes Amt. Sinowjew und Kamenew unterstützten diesen Schritt als ein Gegengewicht zu Trotzki. Lenin, der nur sporadisch am Parteitag teilnahm, äußerte seine Bedenken hinsichtlich Stalins politischem Charakter und machte seine berühmte Bemerkung: „Dieser Koch wird uns nur scharfe Suppen kochen.“[13] Da er jedoch davon ausging, dass dieser Posten zu dem Zeitpunkt nur von untergeordneter Bedeutung war, verzichtete er darauf, dieser Ernennung zu widersprechen.
Ein wichtiger Schritt bei der Entstehung der bürokratischen Schicht erfolgte im August 1922 auf dem 12. Parteitag, auf dem erstmals materielle Privilegien für führende Parteifunktionäre legalisiert wurden. In seiner Analyse der erstarkenden Bürokratisierung legt Wadim S. Rogowin den Schwerpunkt auf diese Neuerung in einem Dokument, welches
diese Privilegien legitimierte – die Resolution „Über die materielle Lage der aktiven Parteifunktionäre“, in der die Zahl der „aktiven Parteifunktionäre“ genau festgelegt (15.325 Personen) und eine streng hierarchische Aufteilung in sechs Gehaltsgruppen eingeführt wurde. Entsprechend der höchsten Gruppe sollten die ZK- und ZKK-Mitglieder, die Abteilungsleiter des ZK, die Mitglieder der Gebietsbüros des ZK sowie die Sekretäre der Gebiets- und Gouvernementskomitees entlohnt werden.[14]
Lenins Sorgen verstärkten sich, als er im Herbst 1922, nach seinem ersten Schlaganfall, ins aktive politische Leben zurückkehrte. Er sah sich nun einer Partei und einem Staatsapparat gegenüber, den Stalins Einfluss bereits stark prägte.
Anfang Dezember 1922, als der Konflikt um das Außenhandelsmonopol und der Kampf gegen den Nationalchauvinismus ihren Höhepunkt erreichten, fand Lenins letztes politisches Gespräch mit Trotzki statt. Thema war der Kampf gegen den wachsenden Bürokratismus im sowjetischen Apparat. Trotzki berichtete später, in seiner Stalin-Biografie, über dieses Gespräch:
Lenin hatte mich gebeten, ihn in seinem Zimmer im Kreml zu besuchen. Er hatte, als er seine Tätigkeit wieder aufnahm, festgestellt, dass der Bürokratismus in unserem Sowjet-„Apparat“ in erschreckendem Maße gewachsen war (…). Er schlug die Bildung einer besonderen Kommission des Zentralkomitees vor und bat mich, an ihr aktiv teilzunehmen. Ich antwortete: „(…) dass wir bei dem Kampf gegen den Sowjetbürokratismus nicht eine Erscheinung übersehen dürfen (…) eine ganz besondere Auslese (…) die auf der Ergebenheit gegenüber gewissen Persönlichkeiten (…) und gegenüber gewissen Gruppen innerhalb des Zentralkomitees selbst basiert. (…)“
Lenin blieb einen Augenblick lang nachdenklich und sagte dann – ich zitiere ihn wörtlich – „Mit anderen Worten, ich schlage einen Feldzug gegen den Bürokratismus im Sowjetapparat vor und Sie schlagen mir vor, ihn zu verbreitern und ihn auch gegen den Bürokratismus im Organisationsbüro der Partei zu führen?“
Das kam mir so unerwartet, dass ich lachen musste: „Nehmen wir an, es sei so!“
„Also gut“, antwortete Lenin, „ich schlage Ihnen einen ‚Block‘ vor.“
„Es ist ein Vergnügen, mit einem tüchtigen Menschen einen ‚Block‘ zu bilden“, sagte ich.[15]
Lenins „Testament“ und der unvollendete Kampf gegen Stalin
In den letzten Monaten seines aktiven politischen Lebens – zwischen Dezember 1922 und März 1923 – wurde sich Lenin in wachsendem Maße der tiefen Krise bewusst, die die Kommunistische Partei und den Sowjetstaat erfasst hatte. Obwohl die Krankheit ihn immer mehr schwächte und er am 15. Dezember einen zweiten Schlaganfall erlitt, diktierte Lenin weiterhin Briefe, politische Notizen und mehrere Dokumente, die zusammen als sein Testament bekannt geworden sind. Diese Schriften sind Lenins deutlichste Warnungen vor den Gefahren, die von der bürokratischen Degeneration der Partei ausgingen.
Am 23. und 25. Dezember 1922 diktierte Lenin einen Brief an den bevorstehenden 12. Parteitag. In seiner Analyse der Klassenwidersprüche innerhalb der sowjetischen Gesellschaft warnte Lenin vor der latenten Instabilität der Revolution und der Gefahr einer Spaltung der Kommunistischen Partei:
Unsere Partei stützt sich auf zwei Klassen, und deshalb ist ihre Instabilität möglich und ihr Sturz unvermeidlich, wenn es dahin käme, dass zwischen diesen beiden Klassen kein Einvernehmen erzielt werden könnte. (…) Keinerlei Maßnahmen werden in diesem Fall eine Spaltung verhindern können.[16]
In seiner Bewertung der Führung der Kommunistischen Partei schrieb er:
Gen. Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen. Anderseits zeichnet sich Gen. Trotzki (…) nicht nur durch hervorragende Fähigkeiten aus. Persönlich ist er wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK, aber auch ein Mensch, der ein Übermaß von Selbstbewusstsein und eine übermäßige Vorliebe für rein administrative Maßnahmen hat.[17]
Lenins Überlegungen zu einzelnen Persönlichkeiten in der Führung der Bolschewistischen Partei gingen von einem Verständnis der gesellschaftlichen Kräfte und Spannungen aus, die, wie er schrieb, „unbeabsichtigt zu einer Spaltung führen“ können. Genosse North erklärte dazu:
Weshalb, könnte man fragen, maß Lenin dem Verhältnis zwischen diesen beiden Männern eine so immense politische Bedeutung bei? Immerhin hatte Lenin sich oftmals gegen die vulgäre Tendenz gewandt, komplexe politische Probleme auf die Ebene von Individuen und deren subjektiven Absichten hinunterzuzerren. Mit Sicherheit hatte er seine Herangehensweise an politische Probleme nicht geändert. Lenin muss erkannt haben, dass sich in Form der ständigen Spannung zwischen Trotzki und Stalin innerhalb der Bolschewistischen Partei reale soziale Konflikte widerspiegelten, die die Russische Revolution gefährdeten.[18]
Am 4. Januar 1923 griff Lenin Stalin direkter an und forderte ausdrücklich dessen Absetzung als Generalsekretär:
Stalin ist zu grob, und dieser Mangel (…) kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen (…) Es könnte so scheinen, als sei dieser Umstand eine winzige Kleinigkeit. Ich glaube jedoch, [dass es] entscheidende Bedeutung erlangen kann.[19]
Am 5. März 1923 schrieb Lenin erneut an Trotzki und drängte ihn, in der nationalen Frage ihre gemeinsame Position offen zu vertreten. Am selben Tag sandte Lenin einen Brief an Stalin und drohte ihm mit dem Abbruch der persönlichen Beziehungen. In Bezug auf ein vorangegangenes Telefonat, in dem Stalin Krupskaja dafür kritisiert hatte, dass sie Lenin das Diktieren eines Briefes an Trotzki erlaubt hatte, schrieb Lenin:
Sie waren so unhöflich, meine Frau ans Telefon zu rufen und sie zu beschimpfen (...) Ich bitte Sie daher, zu erwägen, ob Sie bereit sind, das Gesagte zurückzunehmen und sich zu entschuldigen, oder ob Sie es vorziehen, die Beziehungen zwischen uns abzubrechen.[20]
Lenin hatte die Absicht, all diese Fragen vor den 12. Parteitag zu bringen und in Zusammenarbeit mit Trotzki einen offenen Kampf gegen die bürokratische Degeneration der Parteiführung aufzunehmen.
Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Fünf Tage später, am 10. März 1923, erlitt Lenin seinen dritten Schlaganfall, der ihn dauerhaft arbeitsunfähig machte. Er starb zehn Monate später, am 21. Januar 1924. Die stalinistische Fraktion unterdrückte Lenins Testament, doch die Fragen, die in seinem letzten Lebensjahr aufgekommen waren, wurden von der Linken Opposition aufgegriffen und weiterentwickelt.
Die Gründung der Linken Opposition: Von der Niederlage der deutschen Revolution zum „Neuen Kurs“
Die Entstehung der Linken Opposition im Jahr 1923 war die bewusste politische Antwort auf die anwachsende bürokratische Degeneration der Sowjetunion. Wie wir betont haben, hatte diese Degeneration ihre Wurzeln in den objektiven Bedingungen, die den Sowjetstaat nach der Oktoberrevolution und dem verheerenden Bürgerkrieg prägten. Wie Genosse North jedoch in seiner Antwort auf die fatalistische Apologetik des stalinistischen Historikers Eric Hobsbawm betont hat, finden objektive Bedingungen ihren Ausdruck im politischen Kampf:
Die Risse, die sich nach 1921 in der russischen Kommunistischen Partei auftaten, zeugen davon, dass die objektiven Bedingungen ein breites Spektrum an Reaktionen hervorriefen. Die verschiedenen Antworten der Parteiführer auf die Probleme, und die Tendenzen, die sich um sie sammelten, widerspiegelten nicht nur unterschiedliche Einschätzungen der objektiven Umstände, sondern auch unterschiedliche Beziehungen zu verschiedenen und sogar einander feindlichen gesellschaftlichen Kräften.[21]
Den einen Pol dieses Konflikts vertraten Trotzki und die Linke Opposition, die die Interessen des Industrieproletariats und das Programm der sozialistischen Weltrevolution formulierten. Der andere Pol war die Clique um Stalin, die zunehmend die Weltanschauung und die materiellen Interessen der wachsenden bürokratischen Kaste zum Ausdruck brachte.
Trotzkis Brief vom 8. Oktober und die Erklärung der 46
Zwischen Lenins drittem Schlaganfall am 10. März 1923 und dem Herbst desselben Jahres kam es zu einer kritischen politischen Zwischenphase. Trotzki verzichtete mehrere Monate lang darauf, entschieden in die Offensive zu gehen, da er hoffte, dass sich Lenins Gesundheitszustand verbessern und ihr geplantes Bündnis wiederbelebt werden könnte.
Während des gesamten Sommers 1923 trat Stalin neben Sinowjew und Kamenew als Chef der herrschenden „Troika“ immer dominanter auf. Er unternahm gezielte Schritte, um seine Kontrolle über den Parteiapparat zu festigen, unter anderem indem er Trotzkis Verbündete Rakowski und Preobraschenski ausschaltete. Unterdessen verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage in der Sowjetunion rapide. Die sogenannte „Scherenkrise“ – die wachsende Diskrepanz zwischen Industrie- und Agrarpreisen – erreichte im Herbst einen kritischen Punkt. Fabrikdirektoren konnten die Löhne nicht mehr bezahlen, und die Bauern litten stark unter dem ungünstigen Preisverhältnis zwischen Agrar- und Industriepreisen. In den großen Industriezentren brach eine Streikwelle aus.
Das von der Troika dominierte Politbüro weigerte sich, Trotzkis Vorschläge zur Bewältigung der Notlage auch nur zu diskutieren, die sich auf die Notwendigkeit einer besseren Wirtschaftsplanung und den Ausbau der staatlichen Industrie konzentrierten. Dies und die Entwicklung in Deutschland, wo die Lage reif für eine Revolution war, die die internationale Lage drastisch verändern konnte, zwangen Trotzki zu dem Schluss, dass ein offener Kampf notwendig war.
Am 8. Oktober 1923 reichte Trotzki einen Brief an das Zentralkomitee und die Zentrale Kontrollkommission der RKP ein – ein Dokument von „epochaler Bedeutung“, wie Genosse North in einem Leitartikel im International Workers Bulletin im Oktober 1993 schrieb, als das Dokument erstmals ins Englische übersetzt wurde. Mit diesem Brief wurden die politischen Grundlagen der Linken Opposition gelegt. [Siehe auch: David North, „Zur Gründung der Linken Opposition“]
Der Brief war eine Kriegserklärung an die bürokratische Degeneration der Partei. Er begann mit der Feststellung „Die extreme Verschlechterung der innerparteilichen Situation hat zwei Gründe“:
a) das von Grund auf falsche und ungesunde innerparteiliche Regime, und b) die Unzufriedenheit der Arbeiter und Bauern mit der schwierigen ökonomischen Lage, die sich nicht nur als Resultat objektiver Schwierigkeiten entwickelt hat, sondern auch als Folge offensichtlicher schwerer Fehler der Wirtschaftspolitik.[22]
Trotzki deckte auf, wie das von Stalin dominierte Regime der Sekretariatsauswahl eine sich selbst reproduzierende Hierarchie von ernannten Funktionären geschaffen hatte. Diese Sekretäre, die den Mitgliedern gegenüber nicht rechenschaftspflichtig waren, wurden nicht aufgrund ihrer politischen Klarheit oder revolutionären Erfahrung ausgewählt, sondern aufgrund ihrer Unterordnung unter die herrschende Clique. Trotzki warnte, dass sich in der gesamten Partei „innere Geschwüre“[23] bildeten, und dass die Unterdrückung von Diskussionen die Opposition nur in den Untergrund treibe und die Entstehung illegaler Gruppierungen begünstige.
Er untersuchte in dem Brief die wirtschaftliche Lage. Die NEP als vorübergehender Rückzug erforderte eine sorgfältige und bewusste Wirtschaftsplanung, um zu vermeiden, dass kapitalistische Elemente gestärkt würden. Stattdessen würden, so Trotzki, „die wichtigsten Fragen im Politbüro entschieden – in aller Eile, ohne wirkliche Vorbereitung, außerhalb eines planmäßigen Kontextes“.[24] Die daraus resultierende „Scherenkrise“ zerstörte das Bündnis zwischen Proletariat und Bauernschaft.
All dies, so Trotzki, deute auf eine existenzielle Bedrohung der Revolution hin. Die Partei, schrieb er, „tritt in die womöglich entscheidende Epoche ihrer Geschichte ein, belastet mit der schweren Bürde, die die Fehler ihrer Leitungsorgane ihr auferlegt haben“.[25]
Für viele der erfahrensten marxistischen Führer der Partei war dieser Brief ein Anziehungspunkt. Nur eine Woche später, am 15. Oktober, reichten 46 prominente Altbolschewiken eine Erklärung beim Politbüro ein, in der sie Trotzkis Analyse unterstützten und die Linke Opposition gründeten. Die Erklärung warnte davor, dass die Wirtschaftskrise durch das innerparteiliche Regime enorm verschärft werde:
Als Ergebnis einer durch solche engstirnigen Manipulationen entstellten Parteiführung hört die Partei in beträchtlichem Maße auf, jenes lebendige, an Eigeninitiative reiche Kollektiv zu sein, das in feinfühliger Weise die lebendige Wirklichkeit erfasst. (…) Stattdessen beobachten wir eine immer weiter voranschreitende, schon fast durch nichts mehr bemäntelte Teilung der Partei in eine Hierarchie von Sekretären und in „Laien“, in von oben ausgewählte hauptamtliche Parteifunktionäre und in die übrige Parteimasse, die am öffentlichen Leben keinen Anteil nimmt. (…) Die Wirtschaftskrise in Sowjetrussland und die Krise der Fraktionsdiktatur in der Partei werden, wenn die entstandene Lage nicht in allernächster Zukunft radikal geändert wird, die Arbeiterdiktatur in Russland und die Kommunistische Partei stark in Mitleidenschaft ziehen.[26]
„Der neue Kurs“ und der Kampf um die Partei
Zu diesem Zeitpunkt fühlte sich der wachsende bürokratische Apparat jedoch noch nicht stark genug, um die vernichtende Kritik von Trotzki und den führenden Bolschewiki, die die „Erklärung der 46“ unterzeichnet hatten, einfach zu unterdrücken. Innerhalb der Arbeiterklasse und der Parteimitgliedschaft genoss Trotzki immensen Respekt. Die Führung war gezwungen, gewisse taktische Zugeständnisse zu machen.
Am 5. Dezember 1923 verabschiedete das Zentralkomitee eine Resolution „Über den Parteiaufbau“, die zumindest auf dem Papier einige der zentralen Kritikpunkte Trotzkis, darunter die Bürokratisierung des innerparteilichen Regimes, bestätigte.
Auf diese Resolution reagierte Trotzki am 8. Dezember 1923 mit einem Brief, „Der neue Kurs (Brief an Parteiversammlungen)“, der in der Prawda abgedruckt wurde. Darin forderte er die vollständige Umsetzung der Resolution. „Der neue Kurs, der in der Resolution des ZK proklamiert wird, ist gerade dadurch charakterisiert, dass der Hauptakzent, der beim alten Kurs fälschlich auf den Apparat gelegt wurde, jetzt auf die Aktivität, die kritische Selbsttätigkeit, die Selbstverwaltung der Partei als der organisierten Avantgarde des Proletariats verlagert werden muss.“[27]
Stalin und die erstarkende bürokratische Schicht, die er vertrat, reagierten mit einem Angriff auf Trotzki, um die bereits verabschiedete Resolution zu sabotieren. Am 15. Dezember 1923 veröffentlichte Stalin in der Prawda einen Artikel, in dem er alte Streitigkeiten aus der Zeit vor der Oktoberrevolution wieder ausgrub, um Trotzki als langjährigen Gegner des Leninismus hinzustellen. Die Kampagne der Geschichtsfälschung hatte begonnen.
Trotzki reagierte mit einer Reihe von Artikeln, die sich an die Parteimitglieder richteten und zwischen Dezember 1923 und Januar 1924 veröffentlicht wurden. In diesen Artikeln, die in seiner Schrift „Der neue Kurs“ gesammelt sind, formulierte Trotzki die politischen Grundlagen der Linken Opposition und entwickelte die Argumente aus seinem Brief vom 8. Oktober weiter. Die Titel spiegeln die grundlegenden Fragen wider, mit denen sich Trotzki befasste: „Die Frage der Generationen in der Partei“; „Die soziale Zusammensetzung der Partei“; „Gruppierungen und Fraktionsbildungen“; „Bürokratismus und Revolution“, „Tradition und revolutionäre Politik“; „‚Unterschätzung‘ der Bauernschaft“; „Planwirtschaft“.
Die Isolation der Revolution verschärfte die Probleme, vor denen die Partei in einer komplexen Wirtschafts- und Gesellschaftslage stand. Trotzki betonte, dass diese Probleme nur durch die aktive Beteiligung der Parteimitglieder und die Hebung ihres politischen Niveaus gelöst werden konnten.
Die gesamte vorangegangene Arbeit der Säuberung der Partei und der Hebung ihres politischen und theoretischen Niveaus, sowie die Festsetzung einer bestimmten Mitgliedschaftsdauer für Funktionsträger der Partei muss in eine Ausweitung und Vertiefung der Selbsttätigkeit des gesamten Parteikollektivs münden – denn das ist die einzige wirkliche Garantie gegen alle Gefahren, die aus der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) und aus der Verzögerung der europäischen Revolution erwachsen.[28]
Trotzki betonte den Zusammenhang zwischen dem Scheitern der deutschen Revolution, auf das wir gleich noch eingehen werden, und der Notwendigkeit, dass die Partei in der Sowjetunion ihren Charakter veränderte. „Das Herannahen der deutschen Ereignisse zwang die Partei, sich aufzuraffen. Gerade in diesem Moment stellte sich mit besonderer Schärfe heraus, wie sehr die Partei in zwei Etagen wohnt: in der oberen – die entscheidet, und in der unteren – die von den Beschlüssen nur erfährt.“
Die Veränderung des inneren Regimes wurde „aufgeschoben“, als sich in Deutschland neue Ereignisse ankündigten. „Als klar wurde, dass sich eine Entscheidung durch die Entwicklung der Ereignisse verzögerte, setzte die Partei die Frage nach dem neuen Kurs auf die Tagesordnung.“[29]
Während Trotzki die objektiven und internationalen Faktoren hervorhob, die den Gefahren für den Sowjetstaat zugrunde lagen, betonte er gleichzeitig die Rolle des subjektiven Faktors, die Reaktion der Partei:
Die Geschichte wird von Menschen gemacht, aber die Menschen machen die Geschichte, ihre eigene inbegriffen, keineswegs immer und überall mit Bewusstsein.
In letzter Instanz wird die Frage natürlich durch die großen Faktoren von internationaler Bedeutung entschieden: durch den Gang der revolutionären Entwicklung in Europa und das Tempo unseres wirtschaftlichen Aufbaus. Aber es wäre ebenso verfehlt, die ganze Entwicklung fatalistisch nur in Abhängigkeit von diesen objektiven Faktoren zu sehen, wie es verfehlt wäre, eine Garantie nur im eigenen, aus der Geschichte ererbten Radikalismus zu suchen. In einer bestimmten revolutionären Situation und unter bestimmten internationalen Bedingungen kann die Partei den Degenerationstendenzen besser oder schlechter Widerstand leisten – je nach dem Grad der Bewusstheit, mit der sie sich den Gefahren gegenüber verhält, und entsprechend der Aktivität, mit der sie dagegen ankämpft.[30]
Einen Monat später, am 21. Januar 1924, starb Lenin. Zur gleichen Zeit beriefen Stalin und seine Verbündeten den 13. Parteitag ein und eröffneten eine Verleumdungskampagne gegen Trotzki und die Linke Opposition.
Die „Lehren des Oktobers“, die „literarische Diskussion“ von 1924 und die Annahme von „Sozialismus in einem Land“
Zeitgleich mit diesen inneren Konflikten hatte die Entwicklung außerhalb der Grenzen der Sowjetunion immense Bedeutung für den weiteren politischen Verlauf. Hier ist allen voran das Scheitern der deutschen Revolution von 1923 zu nennen.
Die Bürokratisierung des sowjetischen Staates war sowohl Ursache als auch Folge der anhaltenden Isolation der Weltrevolution von Mitte bis Ende der 1920er Jahre. Mit zunehmender Macht der Bürokratie war die Komintern immer weniger in der Lage, eine revolutionäre Politik zu betreiben, und dies verstärkte wiederum den nationalistischen Druck innerhalb der Sowjetunion. Ein entscheidender Wendepunkt war dabei das Scheitern der deutschen Revolution.
Die deutsche Revolution von 1923: Eine verpasste Chance und ihre Folgen
Ich kann im Rahmen dieses Vortrags nicht detailliert auf die Ereignisse von 1923 eingehen, die in dem ausgezeichneten Essay des Genossen Peter Schwarz, „1923: Die verpasste Revolution“, ausführlich beschrieben sind. Aber es ist notwendig, einen grundlegenden Überblick zu geben, um die darauffolgende Entwicklung zu verstehen.
Im Sommer und Herbst 1923 hatten die Zustände in Deutschland einen Siedepunkt erreicht. Die Hyperinflation machte die Währung wertlos und die französische Besetzung des Ruhrgebiets verschärfte noch die Situation. Millionen Menschen wurden in Armut gestürzt. Eine Streikwelle fegte über Deutschland hinweg und gipfelte am 10. August in einem Generalstreik, der die Regierung von Reichskanzler Wilhelm Cuno zu Fall brachte. Unterdessen planten reaktionäre Kräfte Staatsstreiche und Aufstände.
Vor diesem Hintergrund verabschiedete das Politbüro der Kommunistischen Partei Russlands auf Drängen Trotzkis am 21. August eine Resolution, in der die Komintern angewiesen wurde, einen Aufstand in Deutschland vorzubereiten. Waffenlieferungen wurden vorbereitet, sowjetische Berater reisten nach Deutschland, und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) begann mit der Bildung von Arbeitermilizen. Der Einfluss der KPD in der Arbeiterklasse wuchs rasch, während die Sozialdemokraten in wachsendem Maß verachtet wurden. Es war eine äußerst günstige revolutionäre Situation.
Stalin, der die konservativen Ängste der sowjetischen Bürokratie zum Ausdruck brachte, wollte sich zurückziehen. In einem Brief an Sinowjew vom 7. August 1923 warnte er: „Meiner Ansicht nach müssen wir die Deutschen zurückhalten und sie nicht anspornen.“[31] Trotzki hingegen bestand darauf, dass die Revolution entschlossen und ohne Zögern vorbereitet werden müsse. Er drängte auf die Festlegung eines endgültigen Datums und warnte, dass die Gelegenheit nicht ewig währen werde.
Ende September befand sich Deutschland im Ausnahmezustand. Am 1. Oktober unterstrich ein gescheiterter Putsch rechtsextremer Militärs die Instabilität des Weimarer Regimes. Und doch, am 21. Oktober, gerade als die KPD sich darauf vorbereitete, den Aufstand zu führen, sagte sie ihn plötzlich ab. Das war nur zwei Wochen nach Trotzkis Brief vom 8. Oktober. Die Entscheidung – ein Ergebnis des Zögerns der deutschen und der russischen Führung – führte zu einem politischen Fiasko. Indessen erreichte die Entscheidung die Stadt Hamburg nicht rechtzeitig, wodurch es dort zu einem isolierten Aufstand kam, der innerhalb von drei Tagen niedergeschlagen wurde.
Das Scheitern in Deutschland führte zur weiteren Isolation der Sowjetunion und versetzte der internationalen Arbeiterklasse einen niederschmetternden Schlag. Die Folgen wirkten sich auf das gesamte 20. Jahrhundert aus, da sie die reaktionären Kräfte stärkten, die ein Jahrzehnt später – unter Beihilfe der kriminellen Politik der Komintern und der Sozialdemokratie – 1933 zur Machtübernahme Hitlers führten.
„Die Lehren des Oktobers“
Im Herbst 1924 schrieb Trotzki ein Vorwort zum dritten Band seiner gesammelten Reden und Artikel aus dem Jahr 1917. Dieser Text, der unter dem Titel „Die Lehren des Oktobers“ veröffentlicht wurde, entwickelte sich zu einem Grundlagendokument der Linken Opposition.
Das Dokument ist von grundlegenden Prinzipien geprägt. Erstens verstand Trotzki, dass es in dem Konflikt, der sich innerhalb der Partei entwickelte, unerlässlich war, die Arbeiterklasse über die historischen Erfahrungen der Revolution aufzuklären. Trotzki verstand auch, dass sich der Konflikt mit der aufstrebenden Bürokratie nicht nur um Programm und Politik drehte, sondern um die Interpretation der Geschichte selbst:
Es ist wünschenswert, dass die gesamte Partei und besonders die junge Generation Schritt für Schritt den Oktoberumsturz erfaßt; die Erfahrungen dieser Revolution stellen die tiefste und unbestrittenste Prüfung der Vergangenheit dar und öffnen weite Perspektiven für die Zukunft.[32]
Er begann diesen Essay mit einem Hinweis auf die Vernachlässigung der eigenen revolutionären Erfahrungen durch die Partei. „Nach vollbrachtem Umsturz schien es uns“, stellte er fest, „als ob wir mit der Möglichkeit einer Wiederholung nicht zu rechnen hätten. Es war, als ob wir vom Studium des Oktoberumsturzes (…) keinen unmittelbaren Nutzen (…) erwarten würden.“[33]
Zweitens näherte sich Trotzki der historischen Aufarbeitung des Oktobers nicht nur aus innerparteilichen Erwägungen, sondern behandelte sie als drängende Frage für das internationale Proletariat. Er lehnte die Vorstellung ab, dass die Oktoberrevolution ein in sich geschlossenes nationales Ereignis gewesen sei, und bestand stattdessen darauf, dass es sich um eine welthistorische Erfahrung handelte. „Wir sind ein Teil der Internationale“, schrieb er, „aber das Proletariat aller anderen Länder steht erst vor der Lösung seiner ‚Oktober‘-Aufgaben.“[34]
Neben den Erfahrungen in Deutschland hatte, wie Trotzki schrieb, die Kommunistische Partei Bulgariens im Juni 1923 einen „selten günstigen Moment für eine revolutionäre Aktion“[35] verstreichen lassen, um dann im September einen unvorbereiteten und abenteuerlichen Aufstand zu riskieren.
In Deutschland, wo die objektiven Bedingungen günstiger waren als 1917 in Russland, führte das Fehlen einer weitsichtigen und entschlossenen Führung dazu, dass eine revolutionäre Chance von weltgeschichtlicher Bedeutung verpasst wurde. Trotzki betonte: „Das Studium des Oktobers allein führt natürlich nicht zum Siege in den anderen Ländern, aber es kann Situationen geben, wo alle Voraussetzungen für eine Revolution offensichtlich vorliegen und nur eine weitsichtige und entschlossene Führung fehlt. Diese erwächst aus einem Verstehen der Gesetze und Methoden der Revolution. Gerade so lag die Situation im vorigen Jahre in Deutschland (…).“[36]
Drittens war die zentrale Schlussfolgerung, die Trotzki aus den Erfahrungen des Oktobers zog, die entscheidende Rolle der revolutionären Partei. „Das Hauptmittel des proletarischen Umsturzes ist die Partei. Schon auf Grund unserer einjährigen Erfahrung (…) kann man es als ein fast allgültiges Gesetz ansehen, dass beim Übergang von der revolutionären Vorbereitungsarbeit zum unmittelbaren Kampf um die Machtergreifung eine Parteikrisis ausbricht.“[37]
Jede ernsthafte taktische Wende, so Trotzki, führe zu Reibungen und Krisen. „[K]ommt der Umsturz sehr plötzlich“, warnte er, „und hat die vorhergehende Periode viele konservative Elemente in den führenden Organen der Partei angesammelt, so wird sie sich im entscheidenden Moment als unfähig erweisen, ihre Führerrolle zu erfüllen (…). Die Partei wird von Krisen zersetzt, die Bewegung geht an ihr vorüber – zur Niederlage.“
„Die revolutionäre Partei“, fuhr er fort, „befindet sich unter dem Druck fremder politischer Kräfte.“ Und er warnte: „Es besteht daher die Gefahr, dass innere Umgestaltungen der Partei (…) über das Ziel hinauswachsen und verschiedenen Klassentendenzen als Stützpunkt dienen. (…) [E]ine Partei, die mit den historischen Aufgaben ihrer Klasse nicht Schritt hält, läuft Gefahr, zum indirekten Werkzeug anderer Klassen zu werden oder wird es auch tatsächlich.“[38]
Diese Erkenntnis lieferte nicht nur eine Diagnose der Krise der Partei im Jahr 1917, sondern auch eine Warnung vor der Krise, mit der sie 1924 konfrontiert war. Trotzki machte deutlich, dass im Moment des Aufstands die latente Verwirrung an die Oberfläche tritt:
Alles, was in der Partei vorhanden ist an unentschlossenen, skeptischen, opportunistischen, menschewistischen Elementen, erhebt sich gegen den Aufstand, sucht für seine Opposition nach theoretischen Formeln und findet sie – bei den gestrigen Feinden – den Opportunisten. Diese Erscheinung werden wir noch öfter beobachten können.[39]
Viertens war Trotzkis Dokument nicht im Geiste von Fraktionsintrigen geschrieben. Er lehnte es ausdrücklich ab, die Konflikte von 1917 für kleinliche gegenseitige Beschuldigungen zu nutzen. „[E]s wäre sehr kleinlich“, schrieb er, „wollte man jetzt, nachdem einige Jahre verstrichen sind, aus ihnen Waffen schmieden gegen diejenigen, die sich damals geirrt haben. Noch weniger zulässig wäre es aber, würde man wegen dieser untergeordneten Erwägungen persönlichen Charakters die wichtigsten Probleme des Oktoberumsturzes von internationaler Bedeutung verschweigen.“[40]
Trotzkis Ziel war es, das politische Niveau der gesamten Partei und insbesondere ihrer jüngeren Schichten anzuheben. Nur auf der Grundlage von Klarheit – vor allem historischer Klarheit – konnte die Partei die wachsenden inneren Gefahren überwinden und ihre Rolle als Führerin der internationalen Revolution erfüllen.
Der Hauptteil des Dokuments war eine Rückschau auf die inneren Konflikte der bolschewistischen Partei im Jahr 1917 – Konflikte, die der breiten Parteimitgliedschaft weitgehend unbekannt waren und die Christoph in seinem Vortrag untersucht hat. Er hat detailliert die anfängliche Rückkehr Stalins und Kamenews nach der Februarrevolution zu einer defensiven und versöhnlerischen Position beschrieben, sowie den heftigen Widerstand vieler führender Bolschewiki gegen Lenins Aprilthesen und die Opposition Sinowjews und Kamenews gegen den Aufstand, der die Arbeiterklasse an die Macht brachte.
All dies machte „Die Lehren des Oktobers“ für den stalinistischen Apparat so bedrohlich. Er reagierte mit einer anhaltenden Kampagne, um Trotzki zu isolieren und zu diskreditieren. Kamenew, Sinowjew und Stalin initiierten die „literarische Diskussion“, eine sorgfältig inszenierte ideologische Kampagne der Verleumdung und Fälschung.
Aus dieser Kampagne entstand die offizielle Mythologie des „Trotzkismus“ als eigenständige und feindliche Strömung. Dies war, wie Trotzki selbst ironisch bemerkte, die „Theorie der Erbsünde“: Trotzki sei nie wirklich ein Bolschewik gewesen, er habe „die Bauernschaft unterschätzt“, seine politische Rolle sei von Anfang an eine Abweichung gewesen. Stalin begann auch, die Geschichte des Oktober zu verfälschen, indem er Trotzkis zentrale Rolle im Aufstand herunterspielte und die Legende eines „praktischen Zentrums“ erfand, das angeblich er (Stalin) selbst angeführt habe.
Trotzkis Absicht war es, auf der historischen Grundlage der Oktoberrevolution eine neue Generation revolutionärer Marxisten in Russland und international heranzubilden sowie die strategischen Schlussfolgerungen zu ziehen, die notwendig waren, um diesen Sieg zu bewahren und auszubauen. Seine zentrale These – dass das Schicksal der Arbeiterklasse von ihrer Führung abhängt – bleibt bis heute eine der wichtigsten Lehren des 20. Jahrhunderts.
„Sozialismus in einem Land“: Das theoretische Banner der bürokratischen Reaktion
Die politische und ideologische Kampagne gegen Trotzki gipfelte in einer grundlegenden Revision des Marxismus und einem entscheidenden Bruch mit den internationalistischen Grundlagen des Bolschewismus: der Theorie des „Sozialismus in einem Land“.
Vor Ende 1924 stellte kein führender Bolschewik das Prinzip, dass der Sozialismus isoliert nicht erreicht werden kann, in Frage. Anfang 1924 hatte Stalin selbst eingeräumt, dass „die Anstrengungen eines einzelnen Landes, insbesondere eines so bäuerlichen Landes wie Russland, nicht ausreichen“, um den Sozialismus endgültig zu besiegen. Lenin hatte wiederholt betont, dass das Überleben der Sowjetrepublik von der Ausweitung der Revolution auf die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, insbesondere auf Europa, abhänge.
Doch im Dezember 1924 vollzog Stalin eine Kehrtwende. Zusammen mit Bucharin beharrte er nun darauf, dass das Proletariat den Sozialismus in einem Land „aufbauen kann und muss“. Stalin behauptete: „Unglaube an die Kräfte und Fähigkeiten unserer Revolution, Unglaube an die Kräfte und Fähigkeiten des russischen Proletariats – das ist die Grundlage der Theorie der ‚permanenten Revolution‘.“[41]
Stalin erklärte, die Theorie der permanenten Revolution sei eine „Variante des Menschewismus“, da die Menschewiki die Machtübernahme durch die Arbeiterklasse in Russland mit der Begründung abgelehnt hatten, dass das Land wirtschaftlich rückständig sei. Das war der Gipfel der Sophisterei. Wie Christoph im ersten Vortrag dargelegt hat, argumentierte Trotzki in seiner Theorie der permanenten Revolution gegen die menschewistische Auffassung. Er betonte, dass die Arbeiterklasse in Russland die Macht ergreifen und die Bauernmassen anführen müsse, um einen Arbeiterstaat zu errichten. Gerade wegen des globalen Charakters der Revolution, von der die Russische Revolution ein Teil war, war dies sowohl möglich als auch notwendig.
Stalin verwandelte dies in einen „Mangel an Vertrauen in das russische Proletariat“. Was er wirklich meinte, war, dass Trotzkis Theorie der permanenten Revolution auf einer internationalen Perspektive beruhte, auf einem Verständnis der Russischen Revolution als Teil einer Weltrevolution. Das war der Kern des Konflikts zwischen Trotzkismus und Stalinismus – die „Theorie der permanenten Revolution“ gegen „Sozialismus in einem Land“.
Genosse North betont diesen Punkt in seiner Antwort an den Historiker Thomas M. Twiss. Dieser (und, wie man hinzufügen könnte, auch die Staatskapitalisten) argumentierte, dass das Wesentliche an Trotzkis Kritik am Stalinismus in der Opposition zum Bürokratismus liege. Das war aber falsch. „Das Problem der Sowjetbürokratie war für Trotzki völlig zweitrangig gegenüber der Frage des revolutionären Internationalismus“, erklärt Genosse North.
Er fährt fort:
In Wirklichkeit erschloss sich der wahre Charakter der stalinistischen Bürokratie nur aus dem Verhältnis der Sowjetunion zum internationalen Klassenkampf und zum Schicksal des Weltsozialismus. Der Stalinismus entstand als Tendenz innerhalb der Bolschewistischen Partei unter den Bedingungen der Niederlagen, die die Arbeiterklasse in Mittel- und Westeuropa nach der Oktoberrevolution erlitten hatte, und stellte eine nationalistische Reaktion gegen den marxschen Internationalismus dar. Trotzki schrieb dazu nur ein Jahr vor seiner Ermordung: „Man kann sagen, dass der ganze ‚Stalinismus‘ in ‚theoretischer‘ Hinsicht aus der Kritik der Theorie der permanenten Revolution, so wie sie im Jahre 1905 formuliert worden war, hervorgegangen ist.“[42]
Die Theorie des Sozialismus in einem Land wurde 1925 auf dem 14. Parteitag offiziell verabschiedet. Sie wurde zum ideologischen Banner der aufstrebenden nationalistischen Bürokratie. Die Folgen waren katastrophal, wie die nächsten Vorträge zeigen werden.
Die Untersuchung „Sicherheit und die Vierte Internationale“ hat damit begonnen, die Umstände des Mordes an Leo Trotzki zu untersuchen. Damit hat sie notwendigerweise die gesamte Geschichte der trotzkistischen Bewegung neu untersucht und weiterentwickelt. Die heftige Opposition gegen diese Untersuchung – insbesondere seitens der Pablisten – wurzelt in ihrer eigenen Anpassung an den Stalinismus. Ihre politische Entwicklung gipfelte 1982 darin, dass die von Agenten unterwanderte Socialist Workers Party unter Jack Barnes Leo Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution offen ablehnte.
Wenn sich aus einem Rückblick auf die Ursprünge der Linken Opposition eine Schlussfolgerung ergibt, dann ist es die ungebrochene Kontinuität der Perspektive, die die Russische Revolution beflügelte, bis hin zum Kampf unter Trotzkis Führung gegen die aufstrebende stalinistische Bürokratie. Diese historische Kontinuität widerlegt die antikommunistische Verleumdung, der Stalinismus sei das unvermeidliche Ergebnis der Oktoberrevolution gewesen. Ganz im Gegenteil! Was der Stalinismus durch Ausschlüsse, Verleumdungen, Fälschungen und schließlich politischen Völkermord zu unterdrücken suchte, war die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution, das Programm des Marxismus selbst.
„Sicherheit und die Vierte Internationale“ hatte das Ziel, diese Kampagne von Morden und Attentaten aufzudecken. Damit hat sie die Linie der historischen Kontinuität gewahrt und dem Stalinismus und seinen Helfershelfern einen außerordentlichen Schlag versetzt. Sie hat darüber hinaus die Theorie der permanenten Revolution bestätigt, die bei allen Tragödien und Verrätereien des 20. Jahrhunderts im Zentrum dieses Kampfes stand. Die permanente Revolution bleibt die wesentliche theoretische Grundlage der politischen Orientierung der Arbeiterklasse und der Jugend in der revolutionären Periode, die sich heute auf explosive Weise entwickelt.
Wladimir I. Lenin, „Notizen eines Publizisten“, in: Werke, Bd. 33, Berlin 1977, S. 191 (Hervorhebung hinzugefügt).
Wladimir I. Lenin, „Letter to L.B. Kamenev (3.III.1922)”, in: Lenin Coll. Works, Bd. 45 (aus dem Englischen). https://www.marxists.org/archive/lenin/works/cw/volume45.htm#1922-mar-03
Leo Trotzki, Die neue ökonomische Politik Sowjetrusslands und die Weltrevolution, Hamburg 1923, S. 22–23.
Wladimir I. Lenin, „Über das Außenhandelsmonopol“, in: Werke, Bd. 33, Berlin 1977, S. 444.
Wadim S. Rogowin, Trotzkismus, Essen 2010, S. 60.
Wladimir I. Lenin, „Notiz für das Politbüro über den Kampf gegen den Großmachtchauvinismus“, in: Werke, Bd. 33, Berlin 1977, S. 358.
Wladimir I. Lenin, „Zur Frage der Nationalitäten oder der ‚Autonomisierung‘“, in: Werke, Bd. 36, Berlin 1962, S. 591.
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David North, „Lenin, Trotzki und die Ursprünge der Linken Opposition“, November 1993, World Socialist Web Site. 7. November 2023.
Leo Trotzki, „Der Tod Lenins und die Machtverschiebung“, in: Mein Leben, Berlin 1990, S. 450.
Wladimir I. Lenin, „Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPR (B)“, 27. März 1922, in: Werke, Bd. 33, Berlin 1977, S. 275.
Zitiert nach: Leo Trotzki, Stalin. Eine Biographie, Essen 2001, S. 399.
Wadim S. Rogowin, Trotzkismus, Essen 2010, S. 58.
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David North, „Lenin, Trotzki und die Ursprünge der Linken Opposition“, November 1993, World Socialist Web Site. 7. November 2023.
Wladimir I. Lenin, „Ergänzung zum Brief vom 24. Dezember 1922“, 4. Januar 1923, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1922/12/brief.html
Wadim S. Rogowin, Trotzkismus, Essen 2010, S. 93. Siehe auch: Wladimir I. Lenin, Briefe, Band IX, S. 547.
David North, „Leo Trotzki und das Schicksal des Sozialismus im 20. Jahrhundert: Eine Antwort auf Professor Eric Hobsbawm“, in: Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert, Essen 2014, S. 127. World Socialist Web Site, https://www.mehring-verlag.de/library/north-russische-revolution-unvollendete-zwanzigste-jahrhundert/05.html
Leo Trotzki, „Erster Brief an das ZK und die ZKK der KPR“, 8. Oktober 1923, in: Trotzki, Schriften, Band 3.1, Hamburg 1997, S. 152.
Ebd., S. 162.
Ebd., S. 153.
Ebd., S. 168–169.
„Die Erklärung der 46“, World Socialist Web Site, https://www.wsws.org/de/articles/2023/10/22/yyac-o22.html
Leo Trotzki, „Der neue Kurs (Brief an Parteiversammlungen)“, in: Trotzki, Schriften, Band 3.1, Hamburg 1997, S. 286.
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Leo Trotzki, „Die Fragen der Generationen in der Partei“, ebd., S. 217.
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Leo Trotzki, Stalin. Eine Biographie, Essen 2001, S. 411.
Leo Trotzki, „Die Lehren des Oktobers“, in: Oktoberrevolution 1917, Dortmund 1978, S. 16, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1924/lehren/einleit.htm
Ebd., S. 13.
Ebd., S. 13–14.
Ebd., S. 14.
Ebd., S. 16–17.
Ebd., S. 17.
Ebd., S. 17–18.
Ebd., S. 19.
Ebd., S. 14.
J. W. Stalin, „Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten“, Dezember 1924, in: Werke, Band 6, Berlin 1952, S. 195.
David North, Vorwort zu: Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21. Jahrhundert, Essen 2024, S. 17–18.