Am 20. Mai 2025 vollzog die Europäische Union einen beispiellosen Schritt: Erstmals wurden deutsche Staatsbürger und Journalisten im Rahmen des 17. EU-Sanktionspakets gegen Russland mit umfassenden Sanktionen belegt. Betroffen sind der in Berlin lebende türkisch-kurdischstämmige Journalist und deutsche Staatsbürger Hüseyin Doğru, Gründer der Medienplattform Red Media, sowie die in Russland lebenden deutschen Journalisten Alina Lipp und Thomas Röper.
Die Sanktionen gegen Doğru umfassen die Sperrung aller Bankkonten, ein EU-weites Einreise- und Ausreiseverbot sowie ein faktisches Berufsverbot. Das bedeutet konkret: Doğru darf weder einer Lohnarbeit nachgehen noch dürfen ihm wirtschaftliche Ressourcen jeder Art zur Verfügung gestellt werden – womit auch eine selbständige Tätigkeit ausgeschlossen ist. Selbst das Einladen zu einem Kaffee würde rechtlich eine Straftat darstellen.
Die WSWS hatte dazu berichtet.
Mit seiner Berichterstattung über die Palästinasolidaritätsbewegung in Deutschland säe Doğru „ethnische, politische und religiöse Zwietracht“ und leiste so den „destabilisierenden Aktivitäten Russlands“ Beihilfe, wird die Sanktionierung unter anderem begründet.
Nicht nur das Konto Doğrus, sondern auch das seiner schwangeren Frau wurde gesperrt, obwohl sie nicht auf der Liste genannt wird. Zugriff auf ein Existenzminimum hat Doğru nur nach mehrwöchiger Genehmigungsfrist durch die Bundesbank. Seine Reisefreiheit wird beschränkt. Auch ein Anstellungsverhältnis als Journalist – etwa bei der Tageszeitung junge Welt, die entsprechend nachgefragt hatte – darf er nicht eingehen, da dies nach einer Einschätzung aus dem Bundeswirtschaftsministerium gegen das Bereitstellungsverbot verstoße und strafbar wäre.
Am 3. September 2025 berichtete Doğru auf X, dass der EU-Ministerrat mit Schreiben vom 1. September den Widerspruch seiner Anwälte gegen die Sanktionen zurückgewiesen habe. Er veröffentlichte auch die im „evidence pack“ aufgeführten Beweise für seine Sanktionierung. Diese umfassen lediglich einige Tweets von seinem privaten X-Account und von Red Media.
Die NachDenkSeiten konnten durch eine Quelle in der EU-Administration bestätigen, dass dies tatsächlich die einzigen „Belege“ sind, mit denen die EU die Sanktionierung rechtfertigt.
Die als „Beweis“ angeführten Tweets von Doğru und Red sind in jeder Hinsicht durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt. Einer befasst sich mit der NATO-Karriere ehemaliger Wehrmacht-Offiziere wie Adolf Heusinger, zwei andere kritisieren den Aufrüstungsdiskurs von Bundeskanzler Friedrich Merz, weitere äußern sich kritisch über die deutsche Wiedervereinigung („das neoliberale Desaster des Anschlusses“) oder berichten über Pro-Palästina-Proteste und rechtsradikale Aufmärsche in Deutschland sowie über Proteste gegen rassistische Pogrome in Großbritannien.
Ein anderer Tweet beschwert sich über das Desinteresse deutscher Journalisten-Kollegen der Mainstream-Medien, von Gewerkschaften und Journalistenverbänden an Doğrus Fall. Weitere befassen sich mit einer Bundestagsresolution, wonach Kritik an Israel zum Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft führen solle, mit rassistischen Äußerungen eines deutschen Bundestagspolitikers oder äußern sich kritisch über den Ukrainekrieg und die deutsche Aufrüstung, über schlimme Lebensbedingungen ukrainischer Flüchtlinge in Deutschland und über die Beobachtung von Red durch den Verfassungsschutz.
Der EU-Beschluss stellt zudem weitreichende und zugleich vage Behauptungen auf, Hüseyin Doğru und Red hätten „enge finanzielle und organisatorische Verbindungen zu russischen staatlichen Propagandaeinrichtungen und -akteuren“. Sie verfügten über „tiefe strukturelle Verbindungen, einschließlich Verflechtungen zwischen einzelnen Mitarbeitern und Rotationen mit russischen staatlichen Medienorganisationen“.
In den „Beweisen“ fanden sich dazu lediglich drei Medienartikel – vom Tagesspiegel, von der Grünen-nahen taz und von der englischsprachigen israelischen Zeitung Jerusalem Post – wobei die beiden letzten vom selben Journalisten verfasst wurden. Keiner der Artikel enthält viel mehr als Kontaktschuld, Mutmaßungen und verschwörungstheoretisches Geraune. Worin genau die „engen finanziellen und organisatorische Verbindungen“ bestehen und was mit „tiefen strukturellen Verbindungen“ gemeint ist, bleibt offen.
Belegbar sind allenfalls die Übernahme des Redfish-Telegram-Kanals durch Red und frühere Redfish/Russia Today-Verbindungen einzelner Mitarbeiter. Nichtsdestotrotz wurde Doğru in einer Bundespressekonferenz vom 1. Oktober auf Nachfrage des Journalisten Florian Warweg von einem Sprecher des Auswärtigen Amtes als „Desinformationsakteur“ beschimpft und ihm unzweideutig der Status als Journalist abgesprochen. Er erklärte sogar, Doğru handele „im Auftrag mutmaßlich russischer Stellen“, was noch nicht einmal im angeführten EU-Beschluss behauptet worden war.
Allein die Aggressivität, mit der deutsche Stellen die Sanktionierung eines in Deutschland lebenden deutschen Staatsbürger und Journalisten durchsetzen und verteidigen, lässt darauf schließen, dass diese maßgeblich von Deutschland aus initiiert wurde.
Der Beschluss des Rates der EU vom 8. Oktober 2024, auf den die Sanktionen zurückgehen, erfasst ein extrem breites Spektrum angeblicher „russischer Einflussnahme“. So genügt „die Planung, Steuerung, unmittelbare oder mittelbare Beteiligung an, die Unterstützung oder anderweitige Erleichterung des Einsatzes koordinierter Informationsmanipulation und Einflussnahme“, um sanktioniert zu werden. Und dies ist nur einer von acht Gründen. Der Begriff „Desinformation“ taucht hingegen nur in der Präambel, aber nicht in den Artikeln des EU-Beschluss auf. Eine gesetzliche Definition von „koordinierter Informationsmanipulation und Einflussnahme“ gibt es nicht.
Der auswärtige Dienst der EU definiert „Ausländische Informationsmanipulation und Einflussnahme“ (FIMI) so: FIMI „beschreibt ein meist nicht illegales Verhaltensmuster, das Werte, Verfahren und politische Prozesse bedroht oder negativ beeinflussen kann. Solche Aktivitäten sind manipulativer Natur und werden absichtlich und koordiniert von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren durchgeführt, einschließlich ihrer Stellvertreter innerhalb und außerhalb ihres eigenen Hoheitsgebiets.“
Man muss sich das klarmachen: Ein „nicht (!) illegales Verhaltensmuster, das Werte, Verfahren und politische Prozesse bedroht oder negativ beeinflussen kann“ – sprich: der offiziellen Regierungspolitik widerspricht –, reicht aus, um den Betreffenden aller Existenzmittel zu berauben, ihm ein absolutes Berufsverbot und ein Reiseverbot zu erteilen, ihn geheimdienstlich zu überwachen und ihn durch höchste Stellen politisch zu brandmarken.
Dies gilt auch für „nichtstaatliche Akteure einschließlich ihrer Stellvertreter“, wobei es ausreicht, dass sie das angeblich „illegale Verhaltungsmuster“ nur mittelbar unterstützen oder anderweitig erleichtern. Das sind sie Vorschriften einer Polizeidiktatur, die die Meinungsfreiheit mit Füßen tritt.
Wie wenig es braucht, um diesen Vorschriften zum Opfer zu fallen – eine Handvoll kritischer Social-Media-Posts, Unterstützung von Protesten, Kontakte zu „feindlichen“ Staaten und deren Organisationen – hat der Fall von Hüseyin Doğru drastisch deutlich gemacht. Es handelt sich um einen extrem gefährlichen Präzedenzfall, missliebige Journalisten zu unterdrücken. Doğrus Warnung, dass Mainstream-Medien, Gewerkschaften und Journalistenverbände diesen Präzedenzfall ignorieren oder sich sogar daran beteiligen, ist dabei völlig berechtigt.