Die gigantischen Kosten der europäischen Aufrüstung, die Folgen des internationalen Handelskriegs und die Profitansprüche von Banken und Unternehmen sind nicht mit dem Sozialstaat vereinbar, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa entstanden ist. Renten, Gesundheitsvorsorge und viele andere staatliche Leistungen können in der jetzigen Form nicht mehr finanziert werden. Ein rigoroser Sparkurs und eine weitere Deregulierung der Wirtschaft sind unausweichlich.
Das sind die wichtigsten Schlussfolgerungen aus dem Bericht des Internationalen Währungsfonds zur wirtschaftlichen Lage in Europa, den der Europadirektor des IWF, Alfred Kammer, am 4. November in Brüssel einer Versammlung von Bankern vorstellte. Der Bericht mit dem Titel „Wie kann Europa für Dinge bezahlen, die es sich nicht leisten kann?“ zeichnet ein dramatisches Bild der finanziellen und wirtschaftlichen Lage.
„Europa steht aufgrund neuer politischer Prioritäten (z. B. Verteidigung, Energiesicherheit), steigender Kosten für die alternde Bevölkerung (Renten und Gesundheitsversorgung) und steigender Zinszahlungen für die ohnehin schon hohe Verschuldung unter enormem finanzpolitischem Druck,“ heißt es in der Einleitung des Berichts. „Ohne rasche politische Maßnahmen könnte sich die Staatsverschuldung in den nächsten 15 Jahren mehr als verdoppeln. Dies könnte zu einem Anstieg der Zinssätze führen, das ohnehin schon schwache Wirtschaftswachstum weiter verlangsamen und das Vertrauen der Märkte untergraben.“
Als Gegenmaßnahmen verlangt der Bericht Strukturreformen und Einsparungen im Haushalt. Für hoch verschuldete Länder reiche dies jedoch nicht aus, „sodass ihnen keine andere Wahl bleibt, als den Umfang der öffentlichen Dienstleistungen und den Sozialvertrag grundlegend zu überdenken, um die Lücke zu schließen“. Eine Verzögerung werde „die Haushaltslage weiter verschlechtern und die Aufgabe für die politischen Entscheidungsträger noch schwieriger machen“.
„Wir alle kennen die schwierige Haushaltslage,“ sagte Kammer. Tatsächlich sei die Lage jedoch noch schlechter. Zusätzliche Ausgaben für Verteidigung, Energiesicherheit, höhere Renten und Gesundheitskosten beliefen sich bis 2040 auf viereinhalb bis fünfeinhalb Prozent des BIPs, steigende Schulden und Zinssätze führten zu einem Anstieg der Zinslast und mittelmäßige Wachstumsaussichten belasteten die Steuereinnahmen und erhöhten den Verschuldungsdruck.
Deshalb sei völlig klar: „Nichtstun ist keine Option!“ Bei Beibehaltung der gegenwärtigen Politik werde die Schuldenquote der europäischen Länder in den nächsten 15 Jahren stark ansteigen und durchschnittlich 130 Prozent erreichen, 40 Prozent mehr als tragfähig sein und 70 Prozent mehr als die EU zulasse. Die EU-Länder müssten dann zwischen dreieinhalb und fünf Prozent des BIP einsparen, um die Staatsfinanzen zu konsolidieren. Das sei eine fast unmögliche Aufgabe und werde „tiefgreifende Einschnitte in das europäische Modell und den Sozialvertrag erfordern“. Deshalb müsse jetzt rigoros gespart werden.
Medienkommentare lassen keinen Zweifel, was das bedeutet. Es sei höchste Zeit, dass die Regierungen „die ausufernden Sozialsysteme kürzen. Nicht mit der Nagelschere, sondern mit der Sense,“ heißt es etwa auf T-Online. Sie bräuchten den „Mut, den Bürgern harte Einschnitte zuzumuten – auch ihrer Wählerklientel“.
Und weiter: „Wer sieht, wie schwer sich die SPD tut, auch nur ein paar Millionen aus dem Sozialstaatsspeck herauszuoperieren, oder wie unverantwortlich Frankreichs linke Parteien jeden Einschnitt ins luxuriöse Rentensystem verhindern, kann bezweifeln, dass Europa in der Lage ist, sich aus dem Schlamassel zu retten. Aber eine Alternative gibt es nicht, das ist die ebenso bittere wie wahre Botschaft des IWF.“
Arbeiter sollte diese Drohung ernst nehmen. Eine Alternative gibt es tatsächlich nicht, solange das kapitalistische Privateigentum unangetastet bleibt und Profitinteressen Vorrang vor gesellschaftlichen Bedürfnissen haben. Wer – wie Die Linke in Deutschland oder Mélenchons LFI in Frankreich – verspricht, man müsse sie nur wählen und sie würden dann den Sozialabbau stoppen und zurücknehmen, ohne die kapitalistische Herrschaft anzutasten, ist ein Lügner.
Der Angriff auf die sozialen Errungenschaften, die die europäischen Arbeiter nach dem Zweiten Weltkrieg in heftigen Klassenkämpfen errungen hatten, hat vor über vierzig Jahren angefangen. Reformistische und angeblich linke Parteien haben dabei regelmäßig vor dem Diktat der Finanzmärkte kapituliert.
Das begann mit François Mitterrand, der 1981 mit dem Versprechen sozialer Reformen zum französischen Präsidenten gewählt wurde und nach weniger als zwei Jahren auf einen brutalen Sparkurs umschwenkte. Als die Sozialdemokraten nach zwei Jahrzehnten konservativer Herrschaft in den meisten europäischen Ländern wieder an die Macht gelangten, waren es der britische Premier Tony Blair und der deutsche Kanzler Gerhard Schröder, die den bisher umfassendsten Angriff auf Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen führten. Und im Juli 2015 kapitulierte der griechische Regierungschef Alexis Tsipras von der pseudolinken Syriza vor dem Spardiktat von IWF, EZB und EU, das die Bevölkerung nur eine Woche vorher in einem Referendum abgelehnt hatte.
Als Folge dieser Politik hat sich eine steinreiche Oligarchie herausgebildet, die Milliarden besitzt, während die Mehrheit der Bevölkerung immer schwerer über die Runden kommt. Sie verteidigt ihren Reichtum mit allen Mitteln. Im Kampf um Absatzmärkte, Rohstoffe und Profite haben Handelskrieg und militärische Gewalt den „freie Wettbewerb“ abgelöst, im Innern wird der Widerstand gegen Krieg und Sozialabbau mit diktatorischen Maßnahmen unterdrückt.
Am deutlichsten zeigt sich das in den USA, wo Donald Trump eine Präsidialdiktatur errichtet und Truppen in die Städte schickt. Doch Europa geht denselben Weg, daran lässt der Bericht des IWF keinen Zweifel. Die „tiefgreifenden Einschnitte in den Sozialvertrag“, die er für unausweichlich erklärt, lassen sich nur mit autoritären Maßnahmen durchsetzen.
Alternativlos ist diese Entwicklung allerdings nicht. Sie kann durch die Arbeiterklasse gestoppt werden. Dazu müssen Aktionskomitees gebildet werden, die die Arbeitsplätze, die Löhne und den Lebensstandard verteidigen, Widerstand gegen Krieg und Diktatur leisten und diese Kämpfe koordinieren. Sie müssen zum Ausgangspunkt für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft werden. Ohne die Vermögen der Milliardäre und ihre Kontrolle über Banken, Konzerne und Immobilien anzutasten, kann nichts erreicht werden. Diese müssen vergesellschaftet und unter die demokratische Kontrolle der Arbeiter gestellt werden.
Für diese Perspektive treten die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre Schwesterorganisationen im Internationalen Komitee der Vierten Internationale ein.
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