Die Frage nach dem Verhältnis von Parteitradition und lebendiger Parteipolitik ist besonders in unserer Epoche nicht leicht zu beantworten. Wir mussten in letzter Zeit immer wieder von der großen Bedeutung der theoretischen und praktischen Tradition unserer Partei sprechen und haben hervorgehoben, dass wir auf keinen Fall einen Bruch der ideologischen Kontinuität zulassen können. Man muss sich aber völlig darüber im Klaren sein, was wir unter Parteitradition verstehen. Beginnen wir mit historischen Beispielen – Negativbeispielen –, um eine Basis für Schlussfolgerungen zu finden.
Nehmen wir die »klassische« Partei der Zweiten Internationale, die deutsche Sozialdemokratie. Deren »traditionelle« Politik beruhte ein halbes Jahrhundert lang auf der Anpassung an den Parlamentarismus und auf dem ununterbrochenen Wachstum der Organisation, der Presse und der Kasse. Hier setzte sich eine Tradition, die uns völlig fremd ist, halb automatisch durch: Der heutige Tag ergab sich »natürlich« aus dem gestrigen und bereitete ebenso »natürlich« den folgenden Tag vor. Die Organisation wuchs, die Presse entwickelte sich, und die Kassen wurden voller. In diesem Automatismus wurde die ganze Generation erzogen, die auf Bebel folgte – eine Generation von Bürokraten, Philistern und Dummköpfen, deren politische Mentalität sich in den ersten Stunden des imperialistischen Krieges klar enthüllte. Auf jedem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie war unweigerlich von der alten, durch die Tradition geheiligten Taktik der Partei die Rede. Und tatsächlich war diese Tradition mächtig. Es war eine automatische, unkritische, konservative Tradition, die letzten Endes den revolutionären Elan der Partei erstickte.
Als Resultat des Krieges wurde das politische Leben Deutschlands ein für alle Mal aus dem gewohnten »traditionellen« Gleichgewicht gebracht. Die junge Kommunistische Partei trat seit den ersten Tagen ihrer offiziellen Existenz in die stürmische Epoche rasch aufeinanderfolgender Krisen und Erschütterungen ein. Gleichwohl ist in der relativ kurzen Geschichte der deutschen Kommunistischen Partei nicht nur die schöpferische, sondern auch die konservative Rolle der Tradition zu erkennen, die auf jeder neuen Etappe und bei jeder Wende mit den objektiven Bedürfnissen der Bewegung und mit dem kritischen Bewusstsein der Partei zusammenstößt. Zur heroischen Tradition des deutschen Kommunismus wurde schon in der ersten Periode seiner Existenz der unmittelbare Kampf um die Macht. Die schrecklichen Märzereignisse des Jahres 1921 zeigten deutlich, dass der Partei dazu noch die Kräfte fehlten. Eine scharfe Wende war erforderlich – in Richtung auf einen Kampf um die Massen –, bevor man neuerlich mit dem unmittelbaren Kampf um die Macht beginnen konnte. Diese Wende war schwierig, weil sie sich gegen eine bereits gefestigte Tradition richtete. Bei uns erinnert man sich heute an alle, auch an die geringsten Meinungsverschiedenheiten, die in der Partei oder in ihrem Zentralkomitee in den letzten Jahren aufgetaucht sind. Es würde aber auch nichts schaden, sich an die fundamentalen Meinungsverschiedenheiten zu erinnern, die zum Zeitpunkt des III. Kongresses der Komintern aufbrachen. Heute ist schon vollkommen klar, dass die Wendung, die damals unter der Führung des Genossen Lenin (gegen den härtesten Widerstand eines bedeutenden Teils, anfangs der Mehrheit des Kongresses) vollzogen wurde, die Internationale buchstäblich vor Zerstörung und Zerfall gerettet hat, die ihr auf dem Weg jenes automatischen, unkritischen ultralinken Kurses drohten, der sich in kurzer Zeit zu einer Tradition verfestigt hatte.
Nach dem III. Kongress führte die deutsche Kommunistische Partei auf recht schmerzhafte Weise die notwendige Wende durch. Sie begann den Kampf um die Massen unter der Losung der Einheitsfront, mit langen Diskussionen und anderen pädagogischen Maßnahmen. Diese Taktik wurde mehr als zwei Jahre praktiziert und führte zu ausgezeichneten Ergebnissen. Zugleich aber wurden diese langwierigen Propagandamethoden… zu einer halbautomatischen Tradition, die während der Ereignisse des zweiten Halbjahres 1923 eine bedenkliche Rolle gespielt hat.
Heute ist offenkundig, dass das Leben in Deutschland in der Zeit vom Mai, als der Widerstand an der Ruhr begann, oder seit dem Zusammenbruch dieses Widerstandes im Juli bis zum November, als General Seeckt die Macht in die Hand nahm, eine scharf konturierte Periode einer Krise ohnegleichen durchlaufen hat. Der Widerstand, den das halb erwürgte republikanische Deutschland Eberts und Cunos dem französischen Militarismus entgegenzusetzen suchte, war ein Fehlschlag, der das prekäre soziale und politische Gleichgewicht des Landes erschütterte. Die Ruhr-Katastrophe spielte für das »demokratische« Deutschland in gewisser Weise die gleiche Rolle, die die Niederlage der deutschen Truppen fünf Jahre zuvor für das Regime der Hohenzollern gespielt hatte. Es gab eine unglaubliche Entwertung der Mark, ein wirtschaftliches Chaos, allgemeine Unruhe, allgemeine Unsicherheit, es kam zu einem Zerfall der Sozialdemokratie, ein mächtiger Zustrom von Arbeitern zu den Kommunisten setzte ein, und allgemein wurde ein Umsturz erwartet. Hätte die Kommunistische Partei das Tempo ihrer Arbeit jäh geändert und die fünf bis sechs Monate, die ihr von der Geschichte zur Verfügung gestellt wurden, voll und ganz für die unmittelbare politische, organisatorische und technische Vorbereitung der Machteroberung genutzt, so hätten die Ereignisse vielleicht ein ganz anderes Resultat gezeitigt als das, das wir im November sahen. Doch faktisch war es so, dass die Kommunistische Partei in die neue kurze Periode einer Krise, wie sie die Weltgeschichte womöglich noch nicht kannte, mit den fertigen Methoden der vorausgegangenen zweijährigen Periode eines propagandistischen Kampfes um den Einfluss auf die Massen eintrat. Jetzt war eine Neuorientierung der Partei nötig, ein neuer Ton der Agitation, ein neuer Zugang zu den Massen, eine neue Interpretation und Anwendung der Einheitsfrontpolitik, eine neue Methode der Organisation und der technischen Vorbereitung – mit einem Wort: eine jähe taktische Wendung. Das Proletariat musste eine revolutionäre Partei in Aktion sehen, die unmittelbar an die Eroberung der Macht herangeht. Die Partei aber setzte im Wesentlichen ihre gestrige propagandistische Politik fort, nur in größerem Maßstab. Erst im Oktober schlug sie einen neuen Kurs ein. Doch blieb ihr schon zu wenig Zeit für den Anlauf. Die Partei bereitete sich in fieberhaftem Tempo vor, die Massen konnten ihr nicht folgen, Unsicherheit breitete sich auf beiden Seiten aus, und im entscheidenden Moment zog die Partei sich kampflos zurück. Der wichtigste Grund dafür, dass die deutsche Kommunistische Partei ganz außergewöhnliche historische Positionen widerstandslos preisgab, besteht darin, dass sie es nicht vermochte, in der neuen Periode (Mai–Juli 1923) aus der Routine ihrer gestrigen Politik, die für Jahre berechnet war, auszubrechen und das Problem der Machteroberung in aller Schärfe zu stellen – in der Agitation und in der Aktion, organisatorisch und technisch. Die Zeit ist ein wichtiges Element der Politik, besonders in einer revolutionären Epoche. Um verlorene Monate einzuholen, benötigt man manchmal Jahre und Jahrzehnte. So wäre es auch bei uns gewesen, hätte unsere Partei nicht seit April 1917 den erforderlichen Anlauf genommen und im Oktober die Macht erobert. Es gibt allen Grund für die Annahme, dass das deutsche Proletariat für das Versäumnis nicht allzu teuer bezahlen muss, denn die Stabilität des gegenwärtigen deutschen Regimes ist – insbesondere angesichts der internationalen Lage – höchst zweifelhaft.
Es ist ohne Weiteres klar, dass die Tradition als ein konservativer Faktor, als mechanische Herrschaft des Gestern über das Heute, eine außerordentlich wichtige Kraft im Dienst konservativer Parteien ist und einer revolutionären Partei feindselig gegenübersteht. Denn die Kraft einer revolutionären Partei besteht ja gerade in der Freiheit von konservativem Traditionalismus. Bedeutet das eine Freiheit von Traditionen überhaupt? Keineswegs. Aber die Tradition einer revolutionären Partei ist von ganz anderer Art.
Betrachten wir nun unsere Partei vor und nach der Oktoberrevolution, so muss man als ihre wichtigste und wertvollste taktische Qualität ihre unübertroffene Fähigkeit anerkennen, sich schnell zu orientieren und ihre Taktik plötzlich zu ändern, umzurüsten und neue Methoden anzuwenden, mit einem Wort: eine Politik jäher Wendungen zu praktizieren. Die stürmischen historischen Umstände haben eine solche Taktik erforderlich gemacht. Lenins Genie machte daraus eine wirkliche Kunst. Das heißt natürlich nicht, dass unsere Partei gänzlich frei von konservativem Traditionalismus war. Über eine solche ideale Freiheit kann eine Massenpartei nicht verfügen. Aber die Stärke der Partei zeigte sich darin, dass Trägheit, Traditionalismus und Routine durch eine weitblickende, zutiefst revolutionäre taktische Initiative, ebenso kühn wie realistisch, auf ein Minimum beschränkt wurden.
Gerade darin besteht die wirkliche Tradition der Partei – und so muss es sein.
Eine mehr oder minder starke Bürokratisierung des Parteiapparats ist unvermeidlich von einer Entwicklung des konservativen Traditionalismus mit all seinen Folgen begleitet. Diese Gefahr sollte man eher übertreiben als unterschätzen. Dass die konservativeren Elemente des Apparats dazu neigen, ihre Auffassungen, Beschlüsse, Methoden und Fehler mit dem »alten Bolschewismus« zu identifizieren, und versuchen, die Kritik an der bürokratischen Abgeschlossenheit des Apparats als Untergrabung der Tradition zu diffamieren, ist selbst unzweifelhaft ein Symptom geistiger Verknöcherung.
Der Marxismus ist eine Methode der historischen Analyse, der politischen Orientierung – nicht eine Sammlung von Beschlüssen, die auf Vorrat produziert worden sind. Der Leninismus ist die Anwendung dieser Methode unter den Bedingungen einer besonderen historischen Epoche. Gerade aus der Kombination der Besonderheiten der Epoche mit dieser Methode erwuchs die mutige, reife, auf sich selbst vertrauende Politik scharfer Wendungen, die Lenin so meisterhaft beherrschte und die er theoretisch erhellt und verallgemeinert hat.
Marx sagte, dass die entwickelteren Länder den minder entwickelten bis zu einem gewissen Grade das Bild ihrer eigenen Zukunft zeigen. Aus dieser bedingten Aussage hat man versucht, ein absolutes Gesetz zu machen, das dann im Wesentlichen der »Philosophie« des russischen Menschewismus zugrunde lag. Dadurch setzte man dem Proletariat Grenzen, die sich nicht aus dem Verlauf des revolutionären Kampfes ergaben, sondern aus einem mechanischen Schema. Der menschewistische »Marxismus« war und bleibt der einer verspäteten »Demokratie« angepasste Ausdruck der Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft. Tatsächlich zeigte sich, dass Russland, in dessen Ökonomie und Politik extreme Gegensätze miteinander kombiniert waren, als erstes Land den Weg der proletarischen Revolution beschritt. Weder der Oktober noch Brest-Litowsk, weder der Aufbau einer regulären Arbeiter- und Bauernarmee noch die Pflichtablieferung, weder die NEP noch die Staatliche Plankommission wurden vom Marxismus und Bolschewismus vor dem Oktober vorhergesehen oder im Voraus beschlossen. Und das war auch gar nicht möglich. Alle diese Tatsachen und Wendungen kamen durch die selbständige, initiativreiche, kritische Anwendung der Methoden des Bolschewismus auf jeweils neue Situationen zustande. Die Annahme solcher Beschlüsse erfolgte in jedem Fall nicht sofort, sondern erst nach einem Kampf. Der leere Appell an die Tradition entschied nichts und ergab nichts. Denn bei jeder neuen Aufgabe, bei jeder neuen Wende geht es nicht darum, in der Tradition eine Antwort zu suchen und zu finden, die es dort nicht gibt, sondern darum, auf der Grundlage der gesamten Erfahrungen der Partei eine selbständige, der Situation entsprechende Lösung zu finden – und eben dadurch die Tradition zu bereichern. Noch dezidierter lässt sich sagen, dass der Leninismus darin besteht, sich von konservativem Zurückblicken, von der Bindung an Präzedenzfälle, formale Auskünfte und Zitate mutig zu befreien. Lenin hat kürzlich diesen Gedanken selbst mit den Worten Napoleons ausgedrückt: »On s’engage et puis… on voit«, d. h., man führt den Kampf, ohne sich an kanonische Regeln und Rezepte zu halten, man stürzt sich in die Wirklichkeit, wie sie ist, und sucht dort Kräfte und Wege, die zum Sieg führen. Gerade wegen dieser Politik wurde Lenin nicht nur einmal, sondern Dutzende von Malen in seiner eigenen Partei beschuldigt, die Tradition zu verletzen und… den »alten Bolschewismus« zu verwerfen. Erinnern wir uns daran, dass die Otsowisten[1] ständig unter dem Banner der Verteidigung der bolschewistischen Traditionen gegen die leninsche Abweichung aufgetreten sind (hierzu finden sich äußerst interessante Materialien in Krasnaja Letopis, Nr. 9). Im Namen des »alten Bolschewismus« – tatsächlich aber einer formalen, vorgetäuschten, verlogenen Tradition – erhob sich alles, was es an ideologisch Konservativem in der Partei gab, gegen Lenins Aprilthesen. Einer unserer Partei-»Historiker« (die Historiker der Partei haben jetzt anscheinend kein Glück) sagte mir auf dem Höhepunkt der Oktoberereignisse: »Ich bin nicht für Lenin, denn ich bin ein alter Bolschewik und bleibe auf dem Boden der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.« Der Kampf der Linken gegen den Frieden von Brest-Litowsk und für einen revolutionären Krieg stand ebenfalls im Zeichen der Rettung der revolutionären Traditionen der Partei bzw. der Bewahrung der Reinheit des »alten Bolschewismus« vor den Gefahren eines staatlichen Opportunismus. Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass die gesamte Kritik der »Arbeiteropposition« davon geprägt war, dass sie die Partei beschuldigte, ihre alten Traditionen zu verletzen. Vor kurzem erst sahen wir, wie höchst offizielle Interpreten der Parteitraditionen in offenem Widerspruch sowohl zu den Erfordernissen der Parteipolitik in der nationalen Frage als auch zur Position des Genossen Lenin standen. Diesen Beispielen ließen sich beliebig viele – historisch weniger bedeutende, aber nicht minder charakteristische – hinzufügen. Doch schon aus dem Gesagten wird klar, dass jedes Mal, wenn die objektiven Bedingungen eine neue Wende, einen kühnen Umschwung, eine schöpferische Initiative verlangen, der konservative Widerstand dazu tendiert, den neuen Aufgaben, den neuen Bedingungen, dem neuen Kurs die »alten Traditionen«, angeblich den alten Bolschewismus, in Wirklichkeit aber nur die leere Hülle einer vergangenen Periode entgegenzustellen.
Je abgekapselter der Parteiapparat ist, je mehr er von seiner eigenen Bedeutung durchdrungen ist, je verspäteter er auf die Bedürfnisse der Basis reagiert, desto eher neigt er dazu, die neuen Bedürfnisse und Aufgaben in Gegensatz zur formalen Tradition zu bringen. Und wenn irgendetwas wirklich tödlich für das intellektuelle Leben der Partei und die theoretische Erziehung der Jugend werden kann, dann ist es die Verwandlung des Leninismus aus einer Methode, zu deren Anwendung Initiative, kritisches Denken und intellektueller Mut notwendig sind, in einen Kanon, der nur mehr Interpreten benötigt, die ein für allemal berufen worden sind.
Der Leninismus ist ohne theoretische Kenntnisse, ohne kritische Analyse der materiellen Grundlagen des politischen Prozesses ganz undenkbar. Das Instrument der marxistischen Analyse muss ständig neu geschliffen und angewendet werden. Gerade darin besteht die Tradition – nicht in der Ersetzung der Analyse durch formale Auskünfte oder isolierte Zitate. Mit theoretischer Oberflächlichkeit und Schlamperei lässt sich der Leninismus in keiner Weise vereinbaren.
Man kann Lenins Texte nicht mit der Schere in Zitate zerschneiden, die dann für alle Fälle des Lebens passen, denn für Lenin steht eine Formel niemals über der Wirklichkeit – stets bleibt sie ein Werkzeug, ein Instrument zur Beherrschung der Wirklichkeit und zu ihrer Veränderung. Man könnte ohne Schwierigkeit Dutzende und Hunderte von Zitaten bei Lenin finden, die, formal betrachtet, einander zu widersprechen scheinen. Aber das Wesentliche ist nicht die formale Beziehung eines Zitats zum anderen, sondern die reale Beziehung zwischen einem Zitat und der konkreten Wirklichkeit, in die die Formel wie ein Hebel hineingeschoben wurde. Die Leninsche Wahrheit ist immer konkret!
Der Leninismus als ein System revolutionären Handelns verlangt eine durch Nachdenken und Erfahrungen entwickelte revolutionäre Sensibilität, die auf gesellschaftlichem Gebiet dem entspricht, was die Anspannung der Muskeln bei der körperlichen Arbeit ist. Aber revolutionäre Sensibilität ist nicht mit demagogischem Gespür zu verwechseln. Das letztere mag vorübergehend großen Erfolg bringen. Aber es handelt sich dabei um einen politischen Instinkt der niedersten Art, der stets den Weg des geringsten Widerstandes wählt. Während der Leninismus sich darauf konzentriert, die grundlegenden revolutionären Aufgaben zu stellen und zu lösen sowie die Hauptschwierigkeiten zu überwinden, besteht seine demagogische Fälschung darin, die Aufgaben zu umgehen, Menschen auf verlogene Weise zu beruhigen und ihr kritisches Denken einzuschläfern.
Leninismus ist vor allem Realismus, höchst entwickeltes Registrieren der qualitativen und quantitativen Aspekte der Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt des revolutionären Handelns. Aus diesem Grund ist der Leninismus unvereinbar mit einer Flucht vor der Wirklichkeit, die durch hohle Agitation bemäntelt wird, unvereinbar mit passiver Vergeudung der Zeit, mit der hochmütigen Rechtfertigung vergangener Fehler unter dem Vorwand, die Parteitradition zu retten.
Leninismus bedeutet eine wirkliche Freiheit von formalen Vorurteilen, von moralisierendem Doktrinarismus, überhaupt von jeglichem geistigen Konservatismus, der den Willen zum revolutionären Handeln einengt. Es wäre jedoch ein verhängnisvoller Fehler anzunehmen, Leninismus bedeute »Alles ist erlaubt«. Der Leninismus kennt zwar keine formale, aber eine reale revolutionäre Moral der Massenaktion und der Massenpartei. Nichts ist ihm so fremd wie bürokratischer Hochmut und bürokratischer Zynismus. Eine Massenpartei hat ihre eigene Moral, sie verbindet die Kämpfer in und für die Aktion. Die Demagogie ist mit dem Geist der proletarischen Partei unvereinbar, weil sie verlogen ist: Indem der Demagoge in dem einen oder anderen Fall eine simplifizierte Lösung der aktuellen Schwierigkeiten anbietet, untergräbt er unvermeidlich die Zukunft und das Selbstvertrauen der Partei.
Die Demagogie schwankt wie ein Rohr im Winde und schlägt, wenn sie auf wirkliche Gefahren stößt, leicht in Panikmacherei um. Panikmacherei und Leninismus – das lässt sich sogar auf dem Papier nur schwer nebeneinanderstellen.
Der Leninismus ist kämpferisch von Kopf bis Fuß. Kampf aber ist undenkbar ohne List, ohne Finten, ohne Täuschung des Gegners. Siegreiche Kampfeslist geht als ein unentbehrliches Element in die leninsche Politik ein. Gleichzeitig bedeutet Leninismus aber die höchste revolutionäre Ehrlichkeit gegenüber Partei und Klasse. Da gibt es keine Fiktionen, keine Luftblasen, keine imaginären Größen!
Der Leninismus ist orthodox, hartnäckig und unbeugsam, aber es findet sich keine Spur von Formalismus, Kanonisierung und Bürokratismus darin. Im Kampf packt er den Stier bei den Hörnern. Wenn man versucht, die Traditionen des Leninismus zu einer metatheoretischen Garantie für die Geltung und Unabänderlichkeit aller Gedanken und Reden der Interpreten dieser Tradition zu machen, so ist das eine Verhöhnung der wirklichen revolutionären Tradition, die auf diese Weise in eine bürokratische Leerformel verwandelt wird. Es wäre ein lächerlicher und erbärmlicher Versuch, eine große revolutionäre Partei dadurch zu hypnotisieren, dass man die immer gleiche Litanei wiederholt, der zufolge die richtige Linie sich nicht daraus ergibt, wie man ein bestimmtes Problem formuliert und löst, sondern… aus Details der Biografie.
Da ich mich selbst kurz auf dieses Gebiet begeben muss, möchte ich sagen, dass ich den Weg, auf dem ich zum Leninismus gelangt bin, für nicht weniger zuverlässig und sicher als andere Wege halte. Ich kam nach harten Kämpfen zu Lenin, aber dafür voll und ganz. Außer meinen Handlungen im Dienst der Partei kann ich niemandem zusätzliche Garantien geben. Und wenn man die Frage schon auf dem Gebiet biografischer Nachforschungen aufwirft, dann soll man das auch ordentlich machen. Man müsste dann Antworten auf scharfe Fragen geben: Hat jeder, der dem Lehrer in kleinen Dingen treu blieb, sich auch in großen als treu erwiesen? Ist garantiert, dass alle, die sich in Anwesenheit des Lehrers gehorsam zeigten, sich auch in seiner Abwesenheit konsequent verhalten? Erschöpft sich der Leninismus in Gehorsam? Ich habe keineswegs die Absicht, diesen Fragen am Beispiel einzelner Genossen nachzugehen, mit denen ich auch weiterhin Hand in Hand arbeiten will.
Welche Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten es künftig auch geben wird, sie können nur durch die kollektive Denkarbeit der Partei überwunden werden, die sich immer wieder in Frage stellt und gerade dadurch eine Kontinuität in der Entwicklung wahrt.
Mit diesem Charakter der revolutionären Tradition verbindet sich der besondere Charakter der revolutionären Disziplin. Wo die Tradition konservativ ist, da ist auch die Disziplin passiv und bricht beim ersten kräftigen Stoß zusammen. Wo die Tradition aber, wie in unserer Partei, in höchster revolutionärer Aktivität besteht, da ist auch die Disziplin eine höchst angespannte, denn ihre entscheidende Bedeutung zeigt sich immer in der Aktion. Daher stammt die unlösbare Verbindung von revolutionärer Initiative, kühner und kritischer Durcharbeitung der Probleme – und eiserner Disziplin in der Aktion. Und nur im Medium dieser höchsten Aktivität können die Jungen diese Tradition der Disziplin von den Alten übernehmen.
Die Gesamttradition des Bolschewismus ist uns nicht weniger teuer als anderen. Doch niemand soll es wagen, Bürokratismus und Bolschewismus, Tradition und Schablone miteinander zu identifizieren!
Als Otsowisten (von russ. otsyw: »Abberufung«) wurde eine 1908 entstandene Strömung der bolschewistischen Fraktion der SDAPR bezeichnet, die die Abberufung der sozialdemokratischen Duma-Abgeordneten und den Boykott der Duma-Wahlen wie auch aller anderen Möglichkeiten zur legalen politischen Arbeit in Russland forderte. Im Juli 1909 kam es über diese Fragen unter den Bolschewiki zum Bruch. Die »Abberufler« verbündeten sich mit den »Ultimatisten«, die eine besondere taktische Variante des Otsowismus vertraten (die Duma-Abgeordneten sollten ultimativ aufgefordert werden, sich Parteibeschlüssen zu unterwerfen – widrigenfalls sollten sie abberufen werden). Die ultimatistisch-otsowistische Minderheit, zu deren Führern A. A. Bogdanow, A. W. Lunatscharski, G. A. Alexinski und M. N. Pokrowski gehörten, konstituierte sich im Dezember 1909 als unabhängige Gruppe und gab eine eigene Zeitung (Wperjod, »Vorwärts«) heraus. 1909 gründete sie auf der Insel Capri die erste Parteischule der russischen Sozialdemokratie. (Trotzki, der eine eigene kleine Gruppe um die von 1908 bis 1912 erschienene Wiener Prawda organisierte, stand zeitweise in engem Kontakt zu diesen dissidenten Bolschewiki; u. a. hielt er Vorträge an der Zweiten Parteischule, die sie 1910/1911 in Bologna unterhielten.) 1917 kehrten die meisten von ihnen in die bolschewistische Partei zurück. (Anm. Rasch und Röhring).