(Disposition zu einem nicht gehaltenen Vortrag, Dezember 1923)
Die wichtigsten Faktoren, die den sozialistischen Aufbau erschweren und von Zeit zu Zeit auch die Revolution in schwere Prüfungen und Gefahren bringen, sind hinreichend bekannt. Es sind dies: a) die inneren gesellschaftlichen Widersprüche der Revolution, die unter dem Kriegskommunismus mechanisch unterdrückt wurden, sich aber in der NEP-Periode unvermeidlich entfalten und einen politischen Ausdruck suchen, b) die anhaltende konterrevolutionäre Bedrohung von Seiten der imperialistischen Staaten.
Die gesellschaftlichen Widersprüche der Revolution, ihre Klassenwidersprüche. Was sind die grundlegenden Klassen in unserem Lande? a) Das Proletariat, b) die Bauernschaft, c) die neue Bourgeoisie mit der sie umgebenden Intelligenzija bürgerlichen Typs. Nach der wirtschaftlichen Funktion und der politischen Bedeutung kommt dem Proletariat, das im Staat organisiert ist, und der Bauernschaft, die die in unserer Ökonomie vorherrschenden landwirtschaftlichen Güter produziert, die größte Bedeutung zu. Die neue Bourgeoisie erfüllt vor allem eine vermittelnde Funktion. Sie vermittelt sowohl zwischen der staatlichen Industrie und der Landwirtschaft als auch zwischen den verschiedenen Teilen der Staatsindustrie und den verschiedenen Bereichen der bäuerlichen Wirtschaft. Teilweise beschränkt sie sich nicht mehr nur auf die Handels- und Vermittlungstätigkeit, sondern produziert und organisiert auch.
Wenn man die Frage nach dem Entwicklungstempo der proletarischen Revolution im Westen beiseitelässt, hängt der weitere Verlauf unserer Revolution vom relativen Wachstum dreier grundlegender Elemente unserer Wirtschaft ab: der staatlichen Industrie, der bäuerlichen Landwirtschaft und des privaten Handels- und Industriekapitals.
Historische Analogien zur Großen Französischen Revolution (zum Sturz der Jakobiner!), wie sie der Liberalismus und Menschewismus zu ihrem eigenen Trost aufstellen, sind oberflächlich und haltlos.
Der Untergang des Jakobinismus war eine Folge der Unreife der gesellschaftlichen Verhältnisse: Der linke Flügel – verarmte Handwerker und Händler – hatte keine Möglichkeit zu einer wirtschaftlichen Entwicklung und konnte deshalb keinen festen Stützpunkt der Revolution abgeben. Der rechte Flügel – die Bourgeoisie – wurde unvermeidlich stärker; schließlich bot das ökonomisch und politisch rückständigere Europa der Revolution keine Möglichkeit, sich jenseits der französischen Grenzen zu entwickeln.
Im Hinblick auf diese Verhältnisse ist unsere Lage ungleich günstiger. Den Kern der Revolution und gleichzeitig ihren linken Flügel bildet bei uns das Proletariat, dessen Aufgaben und Ziele ganz und gar mit den Aufgaben des sozialistischen Aufbaus zusammenfallen. Das Proletariat ist politisch so stark, dass es, selbst wenn es neben sich in gewissen Grenzen die Entstehung einer neuen Bourgeoisie zulässt, die Bauernschaft doch an der Staatsmacht nicht durch Vermittlung der Bourgeoisie und der kleinbürgerlichen Parteien teilhaben lässt, sondern unmittelbar, wodurch der Bourgeoisie der Zugang zum politischen Leben überhaupt verwehrt wird. Die ökonomische und politische Lage Europas schließt ein Übergreifen der Revolution auf sein Territorium nicht nur nicht aus, sondern macht es im Gegenteil unvermeidlich. Wenn folglich in Frankreich auch die scharfsichtigste Politik des Jakobinismus den weiteren Gang der Ereignisse kaum radikal ändern konnte, so ist bei uns, unter unvergleichlich günstigeren Bedingungen, eine richtige politische Linie, die sich an den Methoden des Marxismus orientiert, auf lange Frist ein entscheidender Faktor zum Schutz der Revolution vor Gefahren.
Gehen wir von der schlechtesten, für uns ungünstigsten historischen Variante aus. Ein schnelles Wachstum des Privatkapitals würde, wenn es tatsächlich eintreten sollte, bedeuten, dass die staatliche Industrie und der staatliche Handel, einschließlich der Genossenschaften, die Bedürfnisse der bäuerlichen Wirtschaft nicht befriedigen. Weiterhin würde das bedeuten, dass sich das private Kapital immer mehr zwischen den Arbeiterstaat und die Bauernschaft schiebt und ökonomischen, folglich auch politischen Einfluss auf die Bauernschaft erlangt. Es versteht sich von selbst, dass die Perspektive eines solchen Risses zwischen der Staatsindustrie und der Landwirtschaft, zwischen Proletariat und Bauernschaft, eine schreckliche Gefahr für die Sache der proletarischen Revolution bedeuten und einen möglichen Sieg der Konterrevolution ankündigen würde.
Auf welchen politischen Wegen könnte es zum Sieg der Konterrevolution kommen, wenn die von uns eben skizzierten ökonomischen Voraussetzungen gegeben wären? Es könnte verschiedene Wege geben: entweder einen direkten Sturz der Arbeiterpartei oder ihre allmähliche Entartung oder schließlich die Kombination einer teilweisen Degeneration mit Spaltungen und konterrevolutionären Erschütterungen. Welche dieser Möglichkeiten sich durchsetzen würde, hinge vor allem vom Tempo der ökonomischen Entwicklung ab. Falls das Übergewicht des privaten Kapitals gegenüber dem staatlichen langsam wüchse, würde der politische Prozess wohl vor allem den Charakter einer Entartung des Staatsapparats in bürgerlicher Richtung mit entsprechenden Folgen für die Partei annehmen. Bei einem raschen Wachstum des Privatkapitals und seiner Smytschka mit der Bauernschaft könnten aktive konterrevolutionäre Tendenzen die Oberhand gewinnen, die sich gegen die Kommunistische Partei wenden.
Wir stellen diese Varianten der Entwicklung natürlich nicht deshalb so unverhüllt und krass dar, weil wir sie für historisch wahrscheinlich erachten – im Gegenteil, ihre Wahrscheinlichkeit ist minimal –, sondern deshalb, weil uns nur eine solche Formulierung der Frage die Möglichkeit zu einer richtigeren und umfassenderen historischen Orientierung eröffnet und es uns ermöglicht, alle erforderlichen Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Unser größter Vorteil als Marxisten besteht darin, dass wir neue Tendenzen und neue Gefahren schon im Keim erkennen.
Die Schlussfolgerung, die sich aus dem ergibt, was über die Ökonomie gesagt wurde, führt uns zum Problem der Schere zurück, d. h. zu einer richtigen Organisation der Industrie und zur Sicherung der Abstimmung ihrer Entwicklung mit dem bäuerlichen Markt. Ein Zeitverlust auf diesem Gebiet bedeutet einen Zeitverlust im Kampf gegen das private Kapital. Das ist die Hauptaufgabe und das ist der wichtigste Schlüssel zum Problem der Revolution und des Sozialismus.
Wenn die konterrevolutionäre Gefahr, wie ausgeführt, aus bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen erwächst, schließt das keineswegs aus, dass man diese Gefahr – sogar unter für die Revolution ungünstigen ökonomischen Bedingungen – mit Hilfe einer bewusst geplanten Politik reduzieren, verzögern und aufschieben kann. Ein solcher Aufschub kann aber seinerseits, sogar im Fall einer sehr ungünstigen Entwicklung, die Revolution retten, indem er entweder eine günstige wirtschaftliche Wende im Innern oder aber die Smytschka mit der siegreichen Revolution in Europa bringt. Auf der Grundlage dessen, was oben über die Wirtschaftspolitik gesagt worden ist, brauchen wir eine bestimmte Staats- und Parteipolitik (und das heißt auch eine entsprechende innerparteiliche Politik), deren Aufgabe darin besteht, die Stärkung und Verfestigung jener Tendenzen weitestgehend zu erschweren, die durch Schwierigkeiten und Misserfolge der Wirtschaftsentwicklung genährt werden und sich gegen die Diktatur der Arbeiterklasse richten.
Die objektiven Widersprüche der Entwicklung der Revolution samt allen daraus erwachsenden Tendenzen und Gefahren kommen in der Heterogenität der sozialen Struktur und in der Gruppenstruktur unserer Partei zum Ausdruck.
Die Fabrik- und Betriebszellen, die die Verbindung der Partei mit der Hauptklasse der Revolution sichern, machen gegenwärtig nur ein Sechstel der Partei aus.Die Sowjet-Zellen sichern der Partei, trotz ihrer negativen Seiten, die Führung des Staatsapparats, und daher rührt auch das große spezifische Gewicht dieser Zellen. Ein hoher Prozentsatz alter Mitarbeiter nimmt am Parteileben vermittels dieser Sowjet-Zellen teil.
Die Bauern-Zellen ermöglichten der Partei eine gewisse, wenn auch bislang außerordentlich zersplitterte Verbindung zum Dorf.
Die Militär-Zellen realisieren die Verbindung der Partei mit der Armee und über diese vor allem auch zum Dorf.
In den Zellen der Hochschulen schließlich vereinigen und überschneiden sich alle diese Tendenzen und Einflüsse.
Die Fabrik- und Betriebszellen sind aufgrund ihrer klassenmäßigen Zusammensetzung natürlich die wichtigsten. Da sie aber nur ein Sechstel der Partei umfassen und die aktivsten Elemente der Partei ihnen entzogen und in den Partei- oder Staatsapparat überführt wurden, ist es der Partei bisher leider nicht möglich, sich ausschließlich oder auch nur überwiegend auf die Zellen in der Produktion zu stützen. Deren Wachstum wird der sicherste Gradmesser für Erfolge der Partei auf dem Gebiet der Industrie und der Wirtschaft sein und somit die beste Garantie dafür, dass sie ihren proletarischen Charakter behält. Aber man kann in nächster Zeit kaum auf ein solches rasches Wachstum hoffen. Folglich muss die Partei in der nächsten Periode ihr inneres Gleichgewicht und ihre revolutionäre Linie dadurch sichern, dass sie sich auf Zellen unterschiedlicher Zusammensetzung stützt.
Eine mögliche Stütze für konterrevolutionäre Tendenzen können der wiederentstehende Kulak, der Zwischenhändler, der Aufkäufer, der Pächter sein, mit einem Wort: diejenigen Elemente, die unmittelbar weit eher in der Lage sind, den staatlichen Apparat um den Finger zu wickeln als die Partei. Direkteren Einfluss – bis hin zu einem offenen Eindringen – können die kulakischen Elemente nur auf die bäuerlichen und die militärischen Zellen ausüben. Aber hier hilft uns die Differenzierung der Bauernschaft. Die Nichtzulassung der Kulaken zur Armee, darunter auch zu den Territorial-Divisionen, muss nicht nur unerschütterliche Regel bleiben, sondern auch der politischen Erziehung der dörflichen Jugend, der Militäreinheiten und insbesondere der Militär-Zellen dienen. Die führende Rolle der Arbeiter in den Militär-Zellen muss dadurch verwirklicht werden, dass die arbeitenden bäuerlichen Massen und die Armee politisch dem wiederentstehenden Kulakentum entgegengestellt werden. Dasselbe gilt auch für die dörflichen Zellen. Selbstverständlich wird der Erfolg dieser Arbeit letzten Endes wieder davon abhängen, in welchem Maße es der staatlichen Industrie gelingt, die Bedürfnisse des Dorfes zu befriedigen. Aber auch unabhängig davon, wie schnell wir zu wirtschaftlichen Erfolgen kommen, soll sich die politische Haupttendenz in den Militär-Zellen nicht einfach gegen die NEP-Leute richten, sondern vor allem gegen den wiedererstehenden Kulaken, den einzigen historisch denkbaren und ernstzunehmenden Stützpunkt aller konterrevolutionären Unternehmungen. In dieser Hinsicht ist eine sorgfältigere Analyse der verschiedenen Teile der Armee unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen und territorialen Struktur erforderlich.
Zweifellos werden (jetzt und künftig) über die Bauern- und Rotarmisten-Zellen Tendenzen und Stimmungen in die Partei getragen, die mehr oder weniger das Dorf und seine Besonderheit gegenüber der Stadt widerspiegeln. Wäre das nicht so, hätten die bäuerlichen Zellen keinerlei Wert für die Partei. Stimmungsänderungen in diesen Kreisen sind für die Partei eine Mahnung oder Warnung. Die Möglichkeit, sie jeweils in die Partei einzubringen, hängt von der richtigen Parteiführung und vom inneren Regime der Partei ab – letzten Endes davon, ob wir das Scheren-Problem lösen oder lindern können.
Der wichtigste Nährboden des Bürokratismus ist der staatliche Apparat. Einerseits verschlingt und absorbiert er eine ungeheure Menge der aktivsten Elemente der Partei und bringt den verantwortlichsten von ihnen Methoden des Verwaltens von Menschen und Dingen bei statt Methoden der politischen Führung der Massen. Andererseits erfordert der Staatsapparat den weitaus größten Teil der Aufmerksamkeit des Parteiapparats und wirkt auf diesen durch seine Verwaltungsmethoden ein. Daraus resultiert ein guter Teil der Bürokratisierung des Parteiapparats, die die Partei von den Massen zu trennen droht. Diese Gefahr ist gegenwärtig besonders ausgeprägt, unmittelbar und deutlich. Der Kampf gegen alle übrigen Gefahren muss unter den gegenwärtigen Bedingungen mit dem Kampf gegen den Bürokratismus beginnen.
Die Auffassung, der Bürokratismus sei nur der Inbegriff schlechter Verwaltungsusancen, ist des Marxismus unwürdig. Der Bürokratismus ist eine gesellschaftliche Erscheinung, nämlich ein bestimmtes System der Verwaltung von Menschen und Sachen. Die Basis des Bürokratismus bildet die Heterogenität der Gesellschaft, bilden die unterschiedlichen alltäglichen und fundamentalen Interessen der verschiedenen Gruppen der Bevölkerung. Der Bürokratismus wird durch die mangelnde Kultur der breiten Massen noch gesteigert. Bei uns liegt die Hauptquelle des Bürokratismus in der Notwendigkeit, einen staatlichen Apparat zu schaffen und zu unterhalten, der die Interessen des Proletariats und der Bauernschaft unbedingt miteinander verbindet – bis wir zu einer harmonischen wirtschaftlichen Abstimmung [der Sektoren] kommen, wovon wir noch weit entfernt sind. Die Notwendigkeit, ein stehendes Heer zu unterhalten, bildet eine andere, nicht unwichtige Quelle des Bürokratismus. Es ist vollkommen klar, dass gerade die von uns aufgezählten negativen gesellschaftlichen Erscheinungen, die heute den Bürokratismus nähren, die Revolution gefährden können, wenn sie sich weiter entwickeln. Das ist eine der möglichen Entwicklungsvarianten, von denen wir vorher gesagt haben: Das wachsende Missverhältnis zwischen der staatlichen und der bäuerlichen Wirtschaft, das Erstarken des Kulaken-Flügels auf dem Dorf, seine Smytschka mit dem privaten Handels- und Industriekapital, all das sind – bei dem niedrigen kulturellen Niveau der werktätigen Massen des Dorfes und teilweise auch der Stadt – Voraussetzungen möglicher konterrevolutionärer Gefahren.
Mit anderen Worten: Der Bürokratismus im Staatsapparat und in der Partei ist Ausdruck der unerfreulichsten Tendenzen unserer Situation, der Fehler und Defizite unserer Arbeit, die, unter gewissen gesellschaftlichen Voraussetzungen, dazu führen können, dass die Revolution untergraben wird. Auch hier wird, wie in vielen anderen Fällen, die Quantität in einem gewissen Stadium in Qualität umschlagen.
Der Kampf gegen den Bürokratismus des staatlichen Apparats ist eine eminent wichtige, aber langwierige Aufgabe, die mehr oder weniger parallel zu unseren anderen wichtigen Aufgaben in Angriff genommen werden muss, parallel zum wirtschaftlichen Aufbau und zur Hebung des Kulturniveaus der Massen.
Das wichtigste historische Instrument zur Lösung all dieser Aufgaben ist die Partei. Natürlich kann sich auch die Partei von den gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen des Landes nicht künstlich abtrennen. Aber als freiwillige Organisation der Avantgarde, der besten, aktivsten und bewusstesten Elemente der Arbeiterklasse, kann die Partei sich in ungleich höherem Maß als der Staatsapparat vor den bürokratischen Tendenzen schützen. Deshalb muss sie die Gefahr klar erkennen und unversöhnlich bekämpfen.
Daraus ergibt sich die große Bedeutung einer auf Selbsttätigkeit beruhenden Erziehung der Parteijugend, die darauf abzielt, den Staatsapparat neu zu organisieren und vollständig umzugestalten.