Die Frage der Gruppierungen und Fraktionen stand im Zentrum der Diskussion. Man muss sich hier ganz klar ausdrücken, denn die Frage ist sehr akut und von großer Bedeutung. Und sie wird fast immer falsch gestellt.
Wir sind die einzige Partei im Lande, und in der Epoche der Diktatur kann es auch nicht anders sein. Die unterschiedlichen Bedürfnisse der Arbeiterklasse, der Bauernschaft, des Staatsapparats und seines Personals üben auf unsere Partei Druck aus und wollen durch sie ihren politischen Ausdruck finden. Die Schwierigkeiten und Widersprüche der Entwicklung, die zeitweilig divergierenden Interessen verschiedener Teile des Proletariats oder des ganzen Proletariats und der Bauernschaft – all dies übt durch die Vermittlung der Arbeiter- und Bauernzellen, des Staatsapparats, der studierenden Jugend auf die Partei Druck aus. Sogar in episodischen, zeitweiligen Differenzen und Meinungsschattierungen kann sich der Druck bestimmter sozialer Interessen über viele Instanzen geltend machen; episodische Meinungsverschiedenheiten und kurzfristige Meinungsgruppierungen können unter bestimmten Bedingungen zu stabilen Gruppierungen werden; diese können wiederum früher oder später zu organisierten Fraktionen werden; eine so entstandene Fraktion, die sich anderen Teilen der Partei entgegenstellt, ist dann dem Druck, der von außerhalb der Partei kommt, in noch stärkerem Maße ausgesetzt. Das ist die Dialektik der innerparteilichen Gruppierungen in einer Epoche, in der die Kommunistische Partei die Führung des politischen Lebens notwendigerweise in ihren Händen monopolisiert. Was folgt daraus? Willst du keine Fraktionen, dann darfst du keine ständigen Gruppierungen dulden; willst du keine ständigen Gruppierungen, darfst du keine zeitweiligen Gruppierungen zulassen; willst du schließlich die Partei vor zeitweiligen Gruppierungen schützen, dann musst du dafür sorgen, dass es in der Partei überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten gibt, denn wo es zwei Meinungen gibt, bilden die Menschen stets Gruppen. Wie aber lassen sich Meinungsverschiedenheiten in einer Partei mit einer halben Million Mitglieder vermeiden, die das Leben des Landes unter außerordentlich komplizierten und schwierigen Umständen leitet? Das ist der grundlegende Widerspruch, der sich aus der Situation der Partei der proletarischen Diktatur ergibt. Und von diesem Widerspruch kann man sich nicht mit Hilfe bloß formaler Methoden befreien.
Jene Anhänger des alten Kurses, die in der Überzeugung für die Resolution des ZK stimmten, dass alles beim alten bleiben werde, argumentieren etwa wie folgt: Kaum wird der Druck des Apparats ein wenig von der Partei genommen, zeigen sich sogleich Tendenzen zu allerlei Gruppierungen; man muss also den Deckel wieder fester zuschrauben. Solche kurzsichtige Weisheit spricht aus Dutzenden von Reden und Artikeln »gegen die Fraktionsmacherei«. Diese Genossen halten die Resolution des ZK in der Tiefe ihrer Seele entweder für einen politischen Fehler, den man vertuschen, oder für einen geschickten Schachzug des Apparats, den man ausnutzen müsse. Ich denke, sie irren sich in gröbster Weise. Wenn etwas die Partei in höchstem Maße desorganisieren kann, ist es ein hartnäckiges Festhalten am alten Kurs unter dem Deckmantel respektvoller Akzeptanz des neuen.
Die öffentliche Meinung der Partei bildet sich unvermeidlich aus Widersprüchen und Meinungsverschiedenheiten. Konzentriert man diesen Prozess ausschließlich auf den Apparat, der dann die fertigen Früchte seiner Arbeit in Form von Losungen, Befehlen u. a. an die Partei weitergibt, so bedeutet das eine intellektuelle und politische Schwächung der Partei. Wird die gesamte Partei an der Formulierung der Beschlüsse beteiligt, so kommt man zeitweiligen ideologischen Gruppierungen entgegen, was das Risiko mit sich bringt, dass sie sich in dauerhafte Gruppierungen oder sogar in Fraktionen verwandeln. Was soll man tun? Gibt es keinen Ausweg? Sollte es keinen Platz für eine Parteilinie zwischen dem Regime der »Windstille« in der Partei und dem Regime der fraktionellen Zersplitterung der Partei geben? Doch, eine solche Linie gibt es, und die ganze Aufgabe der innerparteilichen Führung besteht darin, sie immer wieder – vor allem bei einem Kurswechsel – zu finden und zwar in Übereinstimmung mit der jeweiligen konkreten Situation. Die Resolution des ZK sagt geradeheraus, dass das bürokratische Regime in der Partei zur Bildung von fraktionellen Gruppierungen beiträgt. Diese Wahrheit bedarf kaum noch eines Beweises. Der alte Kurs war sehr weit von einer »entwickelten« Demokratie entfernt, und dennoch konnte er die Partei nicht im geringsten vor illegalen Fraktionsbildungen bewahren – nicht einmal vor dem Ausbruch der Diskussion, die schon an sich – es wäre lächerlich, die Augen davor zu verschließen! – zur Bildung zeitweiliger oder dauerhafter Gruppierungen führen kann. Um das zu verhindern, ist es nötig, dass die leitenden Parteiorgane auf die Stimme der breiten Parteimassen hören, nicht jede Kritik als eine Erscheinungsform der Fraktionsmacherei interpretieren und dadurch gewissenhafte und disziplinierte Parteimitglieder auf den Weg der Abkapselung und der Fraktionstätigkeit stoßen. Aber ist eine solche Formulierung der Fraktionsfrage nicht eine Rechtfertigung der Mjasnikowschtschina?[1] fragt hier die Stimme der höchsten bürokratischen Weisheit. Ist sie das? Erstens ist der ganze, von uns hervorgehobene Satz ein wörtliches Zitat aus der ZK-Resolution. Und zweitens: Seit wann ist eine Erklärung gleichbedeutend mit einer Rechtfertigung? Sagt man, dass ein Geschwür das Resultat einer schlechten Blutzirkulation war, die durch unzureichende Sauerstoffversorgung hervorgerufen wurde, so bedeutet das keineswegs, dass man das Geschwür »rechtfertigt« und als einen normalen Bestandteil des menschlichen Organismus bezeichnet. Es gibt nur eine Schlussfolgerung: Das Geschwür muss geöffnet und desinfiziert werden. Darüber hinaus – und das ist noch wichtiger – muss man das Fenster öffnen, frische Luft hereinlassen, damit mehr Sauerstoff ins Blut kommt. Aber das Unglück besteht darin, dass der militanteste Flügel des alten Apparat-Kurses tief überzeugt ist von der Fehlerhaftigkeit der ZK-Resolution, insbesondere desjenigen Teils, in dem der Bürokratismus als eine der Quellen der Fraktionsbildung bezeichnet wird. Und wenn die Anhänger des »alten Kurses« dies nicht laut sagen, dann nur aus formalen Gründen, denn ihr ganzes Denken ist ja vom Geist des Formalismus durchdrungen, dem geistigen Unterbau des Bürokratismus.
Ja, Fraktionen sind unter unseren Bedingungen das größte Übel, und Gruppierungen – sogar zeitweilige – können sich in Fraktionen verwandeln. Wie die Erfahrung lehrt, genügt es aber ganz und gar nicht, Gruppierungen und Fraktionen als ein Übel zu bezeichnen, um ihre Entstehung unmöglich zu machen. Man benötigt eine bestimmte Politik, man braucht einen richtigen Kurs, um in der Praxis zu diesem Resultat zu kommen; jedes Mal muss man sich auf die konkreten Umstände einlassen.
Es genügt, die Geschichte unserer Partei aufmerksam zu verfolgen, sei es auch nur für die Zeit der Revolution, d. h. gerade jene Zeit, in der die Fraktionstätigkeit besonders gefährlich wurde, und es wird klar, dass der Kampf gegen diese Gefahr sich keinesfalls ausschließlich in formalen Verurteilungen und Verboten von Gruppierungen erschöpft.
Zur gefährlichsten Meinungsverschiedenheit in der Partei kam es im Zusammenhang mit der größten Aufgabe der Weltgeschichte, der Eroberung der Macht im Herbst 1917. Die radikale Alternative fand angesichts des rasenden Tempos der Ereignisse fast sofort ihren radikal fraktionellen Ausdruck: Die Gegner der Machteroberung bildeten faktisch, ohne es zu wollen, einen Block mit den parteilosen Elementen, veröffentlichten ihre Erklärungen auf den Seiten der parteilosen Presse usw. Die Einheit der Partei stand auf des Messers Schneide. Wie gelang es, eine Spaltung zu vermeiden? Nur durch die schnelle Entwicklung der Ereignisse und durch den siegreichen Ausgang. Eine Spaltung wäre unvermeidlich gewesen, hätten sich die Ereignisse einige Monate hingezogen, erst recht, wenn der Aufstand mit einer Niederlage geendet hätte. Mit einer stürmischen Offensive ging die Partei, von der Mehrheit des ZK fest geführt, über die Opposition hinweg, die Macht wurde erobert, und die Opposition, die zahlenmäßig außerordentlich schwach, aber politisch hochqualifiziert war, stellte sich auf den Boden des Oktobers. Die Fraktionstätigkeit und die Gefahr der Spaltung wurden in diesem Fall nicht durch formale Statuten, sondern durch revolutionäres Handeln überwunden.
Die zweite große Meinungsverschiedenheit entstand im Zusammenhang mit der Frage des Friedens von Brest-Litowsk. Die Anhänger des revolutionären Krieges schlossen sich zu einer regelrechten Fraktion mit eigenem Zentralorgan usw. zusammen. Ich weiß nicht, worauf die vor kurzem aufgetauchte Anekdote beruht, Genosse Bucharin sei damals im Begriff gewesen, die Regierung des Genossen Lenin zu verhaften. Das erinnert ein wenig an eine schlechte Mayne-Reid-Geschichte oder an eine kommunistische ... Pinkerton-Story. Es ist anzunehmen, dass die Kommission zum Studium der Parteigeschichte (Istpart) das klären wird. Kein Zweifel besteht jedoch daran, dass die Existenz einer linkskommunistischen Fraktion eine extreme Gefahr für die Einheit der Partei bedeutete. Es bis zur Spaltung zu bringen war in jener Periode nicht sehr schwer und erforderte seitens der Führung... nicht viel Verstand: Es hätte genügt, die linkskommunistische Fraktion einfach zu verbieten. Die Partei wandte jedoch kompliziertere Methoden an: Diskussionen, Erklärungen, Überprüfung der politischen Erfahrungen – sie fand sich zeitweilig sogar mit einer so anomalen und gefährlichen Erscheinung ab, wie es die Existenz einer organisierten Fraktion innerhalb der Partei ist.
In der Frage des Aufbaus der Armee gab es in der Partei eine relativ starke und hartnäckige oppositionelle Gruppierung. Im Wesentlichen stellte sich diese Opposition gegen den Aufbau einer regulären Armee, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen: gegen einen zentralisierten Militärapparat, gegen die Heranziehung von Spezialisten usw. Dieser Kampf wurde zeitweilig mit großer Schärfe geführt. Aber auch hier half, wie im Oktober, eine Überprüfung der Methoden. Einzelne Ungeschicklichkeiten und Übertreibungen der offiziellen Militärpolitik wurden – nicht ohne Einfluss der Opposition – korrigiert. Das gereichte dem zentralisierten Aufbau einer regulären Armee nicht zum Nachteil, sondern zum Vorteil. Die Opposition wurde allmählich schwächer. Sehr viele ihrer aktivsten Vertreter wurden nicht nur in die militärische Arbeit einbezogen, sondern nahmen dort sogar äußerst verantwortliche Posten ein.
In der Periode der denkwürdigen Diskussion um die Gewerkschaften traten Gruppierungen besonders deutlich hervor. Heute, wo wir die Möglichkeit haben, diese Epoche als ganze zu überblicken und sie im Licht der gesamten späteren Erfahrungen zu betrachten, wird völlig klar, dass der Streit überhaupt nicht um die Gewerkschaften und nicht einmal um die Arbeiterdemokratie ging: In diesen Diskussionen kam die tiefe Unzufriedenheit der Partei mit dem allzu sehr verlängerten wirtschaftlichen Regime des Kriegskommunismus zum Ausdruck. Der gesamte ökonomische Organismus des Landes steckte in einer Sackgasse. Unter dem Deckmantel einer formalen Diskussion über die Rolle der Gewerkschaften und der Arbeiterdemokratie suchte man auf Umwegen nach neuen ökonomischen Wegen. Den wirklichen Ausweg eröffnete die Beseitigung der Lebensmittel-Requisitionen und des Getreidemonopols sowie die allmähliche Befreiung der Staatsindustrie aus dem Schraubstock der Glawkokratie. Diese historischen Beschlüsse wurden einstimmig angenommen, und sie überdeckten völlig die Diskussion über die Gewerkschaften, umso mehr, als auf der Grundlage der NEP die Rolle der Gewerkschaften selbst in einem völlig anderen Licht erschien und die Resolution über die Gewerkschaften nach einigen Monaten radikal geändert werden musste.
Am stabilsten und in gewisser Weise äußerst gefährlich war die Gruppierung der »Arbeiteropposition«, die die Widersprüche des Kriegskommunismus, bestimmte Fehler der Partei sowie fundamentale objektive Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaus in verzerrter Form artikulierte. Auch hier beschränkte sich aber die Reaktion der Partei keineswegs auf ein formales Verbot. In den Beschlüssen zu Fragen der Parteidemokratie wurden formale Schritte festgelegt, aber bei der Reinigung der Partei ergriff man reale, im höchsten Maße wichtige Maßnahmen, die dem entgegenkamen, was in der Kritik und den Forderungen der »Arbeiteropposition« richtig und gesund war. Das Wichtigste aber ist, dass die Partei durch ihre außerordentlich bedeutenden wirtschaftspolitischen Beschlüsse und Maßnahmen den aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten und Gruppierungen im Großen und Ganzen ein Ende machte und damit das formelle Verbot der Fraktionsbildung auf dem 10. Parteitag möglich wurde, d. h. reale Resultate versprach. Aber es versteht sich von selbst – und dies bestätigen uns sowohl die Erfahrungen der Vergangenheit als auch der gesunde politische Verstand –, dass ein bloßes Verbot keine absolute, ja, nicht einmal eine irgend relevante Schutzmaßregel gegen neue ideologische und organisierte Gruppierungen bedeutet. Die Hauptgarantie liegt in der richtigen Leitung, der wachen Aufmerksamkeit gegenüber den Erfordernissen der jeweiligen Entwicklungsstufe, die sich in der Partei spiegeln, in der Flexibilität des Parteiapparats, der die Parteiinitiative nicht paralysiert, sondern organisiert, Stimmen der Kritik nicht fürchtet und nicht mit dem Gespenst des Fraktionismus einschüchtern will: Einschüchterung ist überhaupt in den meisten Fällen ein Produkt der Angst! Der Beschluss des 10. Parteitags, der die Fraktionsbildung verbietet, hat nur den Charakter einer Hilfsmaßregel und bietet, für sich genommen, keineswegs die Lösung für alle inneren Probleme der Partei. Grober Organisationsfetischismus liegt in dem Glauben, ein einziger schlichter Beschluss könne uns – unabhängig von der Entwicklung der Partei, von den Fehlern der Führung, vom Konservatismus des Apparats, von äußeren Einflüssen usw. usf. – vor der Bildung von Gruppen und vor Auseinandersetzungen bewahren. Eine solche Auffassung ist selbst zutiefst bürokratisch.
Das markanteste Beispiel dafür bietet die Geschichte der Petrograder Organisation. Kurz nach dem 10. Parteitag, auf dem Gruppierungen und Fraktionsbildungen verboten worden waren, entbrannte in Petrograd ein heftiger Organisationskampf, der zu zwei Gruppierungen führte, die einander kompromisslos gegenüberstanden. Auf den ersten Blick wäre es das Einfachste gewesen, eine der Gruppierungen (mindestens eine der beiden) für schädlich, verbrecherisch, fraktionistisch usw. zu erklären. Das ZK aber lehnte ein solches Vorgehen, wie es ihm aus Petrograd vorgeschlagen wurde, kategorisch ab. Das ZK vermittelte direkt zwischen den beiden Petrograder Gruppierungen und erreichte es schließlich – wenn auch nicht sofort –, dass sie nicht nur kooperierten, sondern sich auch in der Organisation auflösten. Dieses äußerst wichtige Beispiel darf man nicht vergessen; es ist zur Erhellung einiger bürokratischer Köpfe geradezu unerlässlich.
Oben haben wir gesagt, dass jede ernstzunehmende und dauerhafte Gruppierung in der Partei, erst recht eine organisierte Fraktion, dazu tendiert, irgendwelche besonderen sozialen Interessen auszudrücken. Jede falsche Tendenz einer Gruppierung kann im Laufe ihrer Entwicklung zum Ausdruck der Interessen einer Klasse werden, die dem Proletariat feindlich oder halb-feindlich gegenübersteht. Dies alles gilt aber auch und sogar in erster Linie für den Bürokratismus. Und damit müssen wir anfangen. Dass der Bürokratismus eine falsche, ungesunde Tendenz ist, wird hoffentlich nicht bestritten. Und wenn das so ist, droht er im Verlauf seiner Entwicklung die Partei von dem richtigen, klassenorientierten Weg abzubringen. Gerade darin liegt seine Gefahr. Außerordentlich lehrreich und zugleich sehr beunruhigend ist aber, dass jene Genossen, die am schärfsten, hartnäckigsten und zuweilen in gröbster Weise darauf bestehen, dass jede Meinungsverschiedenheit, jede Meinungsgruppierung, auch wenn es sich nur um eine zeitweilige handelt, Ausdruck bestimmter Klasseninteressen ist, dies gerade für den Bürokratismus nicht gelten lassen wollen. Dabei wäre gerade hier eine gesellschaftliche Charakterisierung besonders angebracht, weil es sich beim Bürokratismus um ein genau definiertes Übel, um eine offensichtliche und zweifellos schädliche Abweichung handelt, die zwar offiziell verurteilt, keineswegs aber verschwunden ist. Und wie könnte man ihn auch auf einen Schlag beseitigen? Wenn aber der Bürokratismus, wie es in der Resolution des ZK heißt, droht, die Partei von den Massen zu trennen und folglich den Klassencharakter der Partei zu schwächen, dann folgt schon daraus, dass der Kampf gegen den Bürokratismus keinesfalls von vornherein mit irgendeinem nichtproletarischen Einfluss identifiziert werden kann. Im Gegenteil, der Kampf der Partei um ihren proletarischen Charakter muss unvermeidlich in der Partei selbst zum Widerstand gegen den Bürokratismus führen. Selbstverständlich können sich unter der Flagge dieses Widerstandes verschiedene Tendenzen verbergen, darunter auch falsche, ungesunde, schädliche. Solche schädlichen Tendenzen kann man nur durch eine marxistische Analyse ihres ideologischen Gehalts entlarven. Wenn man aber schon diejenigen, die den Bürokratismus rein formal ablehnen, als eine Gruppierung bezeichnet, die zum Kanal fremder Einflüsse wird, dann ist man offenkundig selbst ein »Kanal« bürokratischer Einflüsse.
Man darf aber den Gedanken, dass Meinungsverschiedenheiten in der Partei, und erst recht Gruppierungen, den Kampf verschiedener Klasseneinflüsse repräsentieren, nicht allzu simpel und grob auffassen. So gab es zum Beispiel bei uns im Hinblick auf die Frage, ob man Polen 1920 mit dem Bajonett sondieren solle, episodische Meinungsverschiedenheiten. Die einen waren für eine kühnere, die anderen für eine vorsichtigere Politik. Gab es hier verschiedene klassenmäßige Tendenzen? Kaum jemand wird das behaupten wollen. Es handelte sich nur um Meinungsverschiedenheiten bei der Einschätzung der Situation, der Kräfte und Mittel. Das grundlegende Kriterium aber war auf beiden Seiten das gleiche. Die Partei kann häufig ein und dieselbe Aufgabe auf verschiedenen Wegen lösen. Und die Meinungsverschiedenheiten entstehen darüber, welcher dieser Wege besser, kürzer, ökonomischer ist. Solche unterschiedlichen Einschätzungen können sich, unabhängig vom Charakter der Frage, in großen Teilen der Partei durchsetzen. Das muss aber keineswegs heißen, dass es sich um den Kampf zweier Klassentendenzen handelt. Zweifellos wird uns das in Zukunft nicht nur einmal, sondern Dutzende von Malen passieren, denn der vor uns liegende Weg ist schwierig, und nicht nur die politischen Aufgaben, sondern beispielsweise auch die organisatorisch-wirtschaftlichen Fragen des sozialistischen Aufbaus werden zu Meinungsverschiedenheiten und zu zeitweiligen Gruppierungen um verschiedene Meinungen führen. Eine politische Prüfung aller Schattierungen mit Hilfe der marxistischen Analyse ist für unsere Partei immer eine äußerst notwendige Sicherheitsmaßnahme. Aber es bedarf eben der konkreten marxistischen Überprüfung anstelle einer Schablone, die dem Bürokratismus zur Selbstverteidigung dient. Wir können die verschiedenen geistig-politischen Tendenzen, die jetzt gegen den Bürokratismus auftreten, mit umso größerem Erfolg prüfen und filtern und dabei alles Fremde und Schädliche eliminieren, je ernsthafter wir den Weg des neuen Kurses einschlagen. Das aber ist ohne wirkliche Veränderung der Mentalität und des Selbstverständnisses des Parteiapparats nicht möglich. Was wir jetzt erleben, ist aber eine neue Offensive des Parteiapparats, der jede Kritik am alten, formal verurteilten, nicht aber überwundenen Kurs kategorisch als »Fraktionstätigkeit« ablehnt. Wenn Fraktionsbildung gefährlich ist – und das ist sie –, dann ist es verbrecherisch, vor der Gefahr des konservativ bürokratischen Fraktionismus die Augen zu schließen. Vor allem gegen diese Gefahr richtet sich die vom ZK einstimmig angenommene Resolution.
Die Sorge um die Einheit der Partei ist die größte und brennendste Sorge der überwiegenden Mehrheit der Genossen. Aber dazu muss man ganz klar sagen: Wenn es gegenwärtig eine wirkliche Gefahr für die Einheit oder zumindest die Einmütigkeit der Partei gibt, dann liegt sie im zügellosen Bürokratismus. Gerade aus diesem Lager kamen Stimmen, die man nur provokatorisch nennen kann. Gerade dort wagte man zu sagen: Wir fürchten eine Spaltung nicht! Gerade die Vertreter dieses Lagers wühlen in der Vergangenheit und graben alles aus, was dazu taugt, die Parteidiskussion mit noch mehr Erbitterung zu erfüllen, indem sie künstlich die Erinnerung an die alten Kämpfe und Spaltungen beleben, um das Denken der Parteimitglieder allmählich an die Möglichkeit eines so ungeheuren und selbstmörderischen Verbrechens zu gewöhnen, wie es eine neue Spaltung wäre. Sie wollen den Wunsch der Partei nach Einheit und den Wunsch nach einem weniger bürokratischen Regime in einen Gegensatz bringen. Würde sich die Partei darauf einlassen und die lebensnotwendigen Elemente ihrer eigenen Demokratie opfern, so würde das nur zu einer Verschärfung des inneren Kampfes führen und den Zusammenhalt der Partei erschüttern. Man kann nicht einseitig und ultimativ von der Partei Vertrauen zum Apparat fordern, wenn man zur Partei selbst kein Vertrauen hat. Das ist der Kern der Frage. Das voreingenommene bürokratische Misstrauen gegenüber der Partei, ihrem Bewusstsein und ihrer Disziplin, ist die Hauptursache aller Übel des Apparat-Regimes. Die Partei will keine Fraktionen und wird sie nicht zulassen. Es ist ungeheuerlich zu glauben, die Partei wolle ihren Apparat zerschlagen oder wolle das irgendjemandem erlauben. Die Partei weiß, dass im Apparat die wertvollsten Elemente tätig sind, die einen beträchtlichen Teil der vergangenen Erfahrungen verkörpern. Sie will aber den Apparat erneuern und daran erinnern, dass es ihr Apparat ist, der von ihr gewählt wird und sich von ihr nicht loslösen darf.
Wenn man die in der Partei entstandene Situation, wie sie besonders im Verlauf der Diskussion deutlich geworden ist, gründlich überdenkt, wird die zwiespältige Perspektive für die weitere Entwicklung völlig klar. Entweder ist die sich jetzt in der Partei vollziehende geistig-organisatorische Umorientierung, die der Resolution des ZK entspricht, wirklich ein Schritt auf dem Weg zu einem organischen Wachstum der Partei, der Anfang – natürlich nur der Anfang – eines neuen großen Kapitels. Das wäre die wünschenswerteste Lösung für uns alle und die glücklichste Lösung für die Partei. Dann würde die Partei leicht mit den Auswüchsen der Diskussion und der Opposition und erst recht mit den vulgär-demokratischen Tendenzen fertig. Oder aber der Parteiapparat geht zum Gegenangriff über, kommt mehr oder weniger unter den Einfluss seiner konservativsten Elemente und führt die Partei, unter der Losung des Kampfes gegen die Fraktionsbildung, neuerlich in die gestrige »Windstille«. Diese Alternative wird die unvergleichlich schwierigere sein. Die Entwicklung der Partei wird dadurch natürlich nicht aufgehalten, aber wir werden diese Entwicklung mit größeren Anstrengungen und Erschütterungen bezahlen müssen, weil die schädlichen, zersetzenden, gegen die Partei gerichteten Tendenzen zusätzlichen Auftrieb bekommen. Das sind die beiden realen Möglichkeiten. Mein Brief »Der Neue Kurs« sollte der Partei helfen, auf den ersten Weg zu kommen, weil er der ökonomischere und gesündere ist. Die in diesem Brief formulierten Positionen verteidige ich voll und ganz und weise jede tendenziöse und verlogene Interpretation zurück.
Nach G. I. Mjasnikow. (Etwa: Mjasnikowerei, Mjasnikowtum). (Anm. Rasch und Röhring).