Leo Trotzki
Der Neue Kurs

Anhang 4: Zur Frage der zwei Generationen

Wir veröffentlichen dieses uns zugeschickte Dokument, weil es hinreichend deutlich macht, wie grundlos und bösartig die Behauptungen über die feindselige »Gegenüberstellung« von Jungen und Alten sind. (L.T.)

In die gegenwärtige Parteidiskussion hat auch die aktive Führungsspitze des Komsomol eingegriffen. Wir meinen, dass die Fragestellung in dem Artikel der neun Genossen (»Zur Frage der zwei Generationen«, in: Prawda, Nr. 1) und die Aufrufe des Petrograder Aktivs verfehlt sind und dass es der Partei schaden kann, wenn diese Erklärungen eine breite Diskussion im Verband hervorrufen. Deshalb halten wir es für nötig, diese Erklärungen und ihre Motive näher zu untersuchen.

Der Petrograder Aufruf und der Artikel der Neun sagen, man dürfe der Jugend nicht nach dem Munde reden, sie sei nicht der Kontrolleur der Partei, man dürfe die Jugend nicht der alten Parteigeneration entgegenstellen, uns drohe in keiner Weise irgendeine Entartung und der Genosse Trotzki habe sich all dieser Todsünden schuldig gemacht; davor müsse man die Jugend warnen. Sehen wir uns die Sache an: Ist das so?

In ihrem Artikel sagen die neun Genossen, der Genosse Trotzki habe die Frage der Jugend an den Haaren herbeigezogen (davon wird noch weiter unten die Rede sein), er rede der Jugend nach dem Mund, schmeichle ihr. Hören wir, was der Genosse Lenin dazu sagt:

»Es sind Sowjetschulen, Arbeiterfakultäten gegründet worden, mehrere hunderttausend junger Leute lernen, lernen vielleicht zu schnell, aber jedenfalls ist die Arbeit begonnen, und ich denke, diese Arbeit wird auch ihre Früchte tragen. Wenn wir nicht zu hastig arbeiten, dann werden wir in einigen Jahren eine Masse von jungen Menschen bekommen, die imstande sein werden, den Apparat von Grund aus zu verändern.«[1]

Warum musste der Genosse Lenin sich in dieser Weise über die Jugend äußern? Was brachte ihn dazu? Der Wunsch, vor der Jugend zu kriechen, ihr nach dem Munde zu reden und sich bei ihr einzuschmeicheln, oder aber eine ernsthafte Erkenntnis? Es gibt keinerlei Grund, von »Schmeicheleien« des Genossen Trotzki zu sprechen, und es besteht entschieden keine Notwendigkeit, ihn den anderen Führern unserer Partei entgegenzustellen. Die neun Genossen sagen, Lenin habe uns gelehrt, eine kritische Haltung zur Jugend einzunehmen und ihr gegenüber nicht zu viel Nachsicht zu üben. Aber folgt Genosse Trotzki diesem guten Rat nicht, wenn er auf dem 11. Parteitag und auch jetzt sagt: »Damit ist in keiner Weise gesagt, dass die Jugend in ihrem gesamten Auftreten und all ihren Stimmungen gesunde Tendenzen zum Ausdruck bringt«, oder an einer anderen Stelle: »Die studierende Jugend, die sich aus allen Schichten und Gruppen der sowjetischen Gesellschaft rekrutiert, spiegelt in ihrer bunten Zusammensetzung alle unsere Plus- und Minuspunkte ... wider.«[2] Urteilt man nach diesen Zitaten, dann zeigt sich, dass der Genosse Trotzki nicht schmeichelt, sondern kritisiert.

Auch die Frage nach der Entartung ist nicht richtig dargestellt worden. Genosse Trotzki spricht von der Gefahr einer Entartung an beiden Polen: sowohl bei der Jugend als auch bei der alten Generation. Die Redaktion der Prawda erklärt in ihrer Antwort darauf:

»Theoretisch ist die Gefahr der zukünftigen Ausartung bei uns vorhanden. Sie ist gegeben durch die Möglichkeit des dauernden und allmählichen Sieges der kapitalistischen Wirtschaft über die sozialistische Wirtschaftsinsel und durch das mögliche allmähliche ›Zusammenwachsen‹ unserer Wirtschafts- und Verwaltungskader mit der neuen Bourgeoisie. Es gibt aber bei uns keinen einzigen Menschen, der diese Gefahr nicht sehen würde.«[3]

Aber mit dieser Erklärung stimmt absolut nicht überein, was in dem Artikel der neun Genossen steht: »Bei uns kann es diese Gefahr einer politischen Entartung nicht geben.« Hier haben folglich sowohl die Anklage wie die Verteidigung vollkommen unrecht. Gehen wir nun zur schwersten Beschuldigung über: Genosse Trotzki stelle die beiden Generationen einander entgegen, hetze sie gegeneinander auf, wolle »den führenden Einfluss des erfahrenen bolschewistischen Stabes untergraben«.

»Nur Wahnsinnige könnten davon reden, die alte Generation ›im Archiv abzulegen‹. Es geht doch gerade darum, dass die alte Generation ihren Kurs bewusst ändert und sich dadurch weiterhin ihren führenden Einfluss auf die gesamte Arbeit einer selbsttätigen Partei sichert.« (Trotzki)[4]

Gibt es hier eine Konfrontation oder ein Bestreben, die Autorität der alten Kader zu untergraben – denn dies behaupten ja die beiden Dokumente vor allem? Wir meinen, dass es bei einer ruhigen, ernsthaften Durchsicht aller oben angeführten Erklärungen des Genossen Trotzki mehr als schwierig sein wird, in ihnen irgendein Aufeinanderhetzen zu finden. Im Gegenteil: Genosse Trotzki versteht den Neuen Kurs als den besten Weg, um den Einfluss der alten bolschewistischen Kader zu festigen und zu vertiefen.

Lässt man alle diese Legenden, diese beiläufig vorgebrachten, leichtfertigen Verfälschungen und Verdrehungen beiseite und untersucht gründlich die Frage der Erziehung der Parteijugend im leninschen Geist, dann wird völlig klar, dass Genosse Trotzki recht hat.

Und wenn die neun Mitarbeiter des Komsomol, die sich öffentlich geäußert haben, über den Teil der Parteijugend nachdenken, der ihnen am nächsten steht, dann werden sie darauf stoßen, dass die Komsomolzen, die Mitglieder der Partei sind, sich nicht als Parteimitglieder im Komsomol, sondern als »Komsomolzen in der Partei« verstehen. Darauf ist wiederholt von den bedeutendsten Mitarbeitern der Partei hingewiesen worden.

Warum ist das so? Weil die Jugend unter den Bedingungen einer eingeschränkten Parteiöffentlichkeit nicht die Möglichkeit hat, an dem ganzen Erfahrungsreichtum teilzuhaben, der in der jahrzehntelangen Arbeit unserer Partei akkumuliert worden ist. Das beste Mittel zur Überlieferung der revolutionären bolschewistischen Traditionen und der Qualitäten, die die Hauptkader der Partei auszeichnen, ist der neue Kurs innerparteilicher Demokratie, der »von der alten Generation der Partei im Interesse der Sicherung ihres führenden Einflusses bewusst durchgesetzt wird«.[5]

Also hat nicht der Genosse Trotzki die Frage der Jugend »an den Haaren herbeigezogen«, denn bei ihm ist sie eng mit all dem verknüpft, was den Neuen Kurs erforderlich macht. Vielmehr beschäftigen sich die Autoren in ihrem Brief damit, Zitate aus dem Zusammenhang zu reißen und dem Genossen Trotzki eine Position anzudichten, die er niemals vertreten hat.

Tatsächlich haben die neun Genossen, die die Diskussion in den Komsomol hineintrugen, das Problem (unwillentlich) auf die Frage der zwei Generationen reduziert – ohne jede Verbindung zur gesamten Diskussion und zu all den Fragen, die sich die Partei jetzt gestellt hat. Wenn aber die Frage der Generationen selbst in verzerrter Form und falsch formuliert worden ist, dann sind die ganzen Auftritte misslungen; und wenn dies zu einer Diskussion im Komsomol-Aktiv führt, dann wird sie einer falschen Linie folgen und einen Keil zwischen die Generationen treiben – und gerade hiergegen ist der Genosse Trotzki aufgetreten.

Das Zentralkomitee des Russischen Kommunistischen Jugendverbands hat beschlossen, die in der Parteidiskussion aufgeworfenen Fragen nicht gesondert mit jenen Parteimitgliedern zu erörtern, die im Jugendverband arbeiten. Wir halten diesen Entschluss für vollkommen richtig. Am wenigsten ergibt sich aus diesem Beschluss die Notwendigkeit, den oben erwähnten Artikel zu schreiben. Wenn der Beschluss, die Diskussion nicht in den Jugendverband hineinzutragen, richtig war, die Mitarbeiter des ZK es aber für nötig hielten, sich in die Parteidiskussion zu stürzen, zu der sie eigentlich nichts Neues beitrugen außer vielleicht eine plumpe Anschuldigung des Genossen Trotzki als Verneigung vor irgendeiner »heiligen Dreifaltigkeit«[6] – was motivierte diesen Auftritt, wenn nicht der Wunsch, dem Genossen Trotzki »vonseiten der Jugend« eins auszuwischen?

Niemand (und am wenigsten der Genosse Trotzki) bestritt die Notwendigkeit, den führenden Einfluss der alten Kader der Partei zu wahren. Dass dies wünschenswert und notwendig ist, ist jedem von uns mehr als klar. Nicht darüber streiten wir mit den neun Verfassern.

Wir sind dagegen, führenden Genossen in unserer Partei Auffassungen zuzuschreiben, die sie nicht geäußert haben. Darum wenden wir uns gegen eine falsche und verzerrte Interpretation dieser Frage, insbesondere in der Öffentlichkeit der Parteijugend. Wir wenden uns dagegen, dass man sich über die Notwendigkeit hinwegsetzt, in der Partei Verhältnisse zu schaffen, die es ermöglichen, wirkliche Lenin-Anhänger zu erziehen und nicht solche, von denen der Genosse Lenin auf unserem III. Komsomolkongress sagte:

»Ein Kommunist, dem es einfiele, sich auf Grund der ihm übermittelten fertigen Schlussfolgerungen mit dem Kommunismus zu brüsten, ohne selbst eine sehr ernste, mühselige, große Arbeit zu leisten, ohne sich in den Tatsachen zurechtzufinden, zu denen er sich kritisch zu verhalten verpflichtet ist – ein solcher Kommunist wäre eine recht traurige Gestalt.«[7]

Wir sind für die Einheit, für eine unbedingt bolschewistische Führung der Partei. Wir ignorieren keineswegs all die Gefahren, vor denen die Jugend steht. Gerade weil wir ernsthaft mit diesen Gefahren rechnen, sind wir gegen eine Vertuschung der Frage nach dem neuen Kurs unter dem Vorwand, die historischen Rechte der alten Parteigarde müssten vor nichtexistierenden Anschlägen geschützt werden.

W. Dalin (Mitglied des ZK des Komsomol)

M. Fjodorow (Mitglied des ZK des Komsomol)

A. Schochin (Mitarbeiter des ZK)

A. Besymenski (einer der Gründer des Komsomol)

N. Penkow (einer der Gründer des Komsomol und Mitglied des Moskauer Komitees)

F. Deljusin (ehemaliger Sekretär des Moskauer Komitees)

B. Trejwas (dasselbe)

M. Dugatschow (aktiver Arbeiter der Moskauer Organisation, einer der Gründer des Komsomol)


[1]

»Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution. Referat auf dem IV. Kongress der Komintern, 13. November 1922«, LW 33, S. 404–418, hier S. 415 (Anm. Rasch und Röhring).

[2]

Zitate aus Der Neue Kurs, Kapitel 2 (Anm. Rasch und Röhring).

[3]

»Nieder mit der Fraktionsmacherei! (Antwort der Redaktion des Zentralorgans der RKP, der ›Prawda‹, an den Genossen Trotzki)«, in: Inprekorr, Nr. 13, 28.1.1924, S. 128–138, hier S. 136. (Dieser in der Prawda in Fortsetzungen erschienene, nicht gezeichnete Artikel stammte von Bucharin. Die hier zitierte Passage ist dem in der Prawda vom 1.1.1924 veröffentlichten Teil entnommen.) (Anm. Rasch und Röhring).

[4]

Zitat aus Der Neue Kurs, Kapitel 1 (Anm. Rasch und Röhring).

[5]

Vgl. ebd. (Anm. Rasch und Röhring).

[6]

Anspielung auf die Troika Sinowjew-Kamenjew-Stalin. (Anm. Rasch und Röhring).

[7]

»Die Aufgaben der Jugendverbände (Rede auf dem III. Gesamtrussischen Kongress des Kommunistischen Jugendverbandes Russlands), 2. Oktober 1920«, LW 31, S. 272–290, hier S. 277. (Anm. Rasch und Röhring).