Timothy Snyders Bloodlands: Rechte Propaganda im Gewand von Geschichtswissenschaft – Teil 2

Snyder fälscht die Geschichte des Großen Terrors

[TEIL EINS] [TEIL ZWEI] [TEIL DREI] [TEIL VIER] [TEIL FÜNF] [ZEITLEISTE]

Dies ist der zweite von fünf Teilen einer Rezension von Timothy Snyders Buch Bloodlands. Eine begleitende Zeitleiste informiert über wichtige geschichtliche Hintergründe.

Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich alle Seitenangaben auf Timothy Snyder, Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin, 6., erweiterte Auflage, Verlag C.H. Beck, 2022.

Snyder stützt seinen Versuch, die Verbrechen des Faschismus als Reaktion auf die des „Kommunismus“ und als bloße Kopie derselben darzustellen, in erster Linie auf die falsche Charakterisierung der Hungersnot in der Sowjetunion als vorsätzlicher Massenmord an der ukrainischen Bevölkerung und auf die gleichermaßen falsche Darstellung des Großen Terrors als national und ethnisch motivierte Mordkampagne.

So behauptet er, dass der Große Terror, bei dem etwa eine Million Sowjetbürger getötet wurden, „also hauptsächlich eine Kulakenaktion [war], die am härtesten in der Ukraine zuschlug, und eine Serie von Nationalitätenaktionen, am wichtigsten die polnische, bei der erneut die Ukraine am schlimmsten getroffen wurde.“ (S. 124)

Hauptgrundlage für Snyders Behauptungen sind zwei Operationen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD: Befehl Nr. 00447, der so genannte „Kulakenbefehl vom 30. Juli 1937, und Befehl Nr. 00485 vom 11. August 1937, der die Basis für die „polnische Operation“ war. Zusammen forderten diese beiden Operationen die meisten Opfer während des Großen Terrors. Der Befehl Nr. 00447 bildete die Grundlage für die Verfolgung von fast 800.000 Menschen zwischen August 1937 und November 1938; etwa 350.000 von ihnen wurden hingerichtet. Man schätzt, dass die „polnische Operation“ fast 140.000 Menschen traf, mehr als 111.000 davon starben. Sie war die größte der so genannten „Nationalitätenoperationen“ des NKWD.

Snyder verfälscht nicht nur den Charakter dieser Befehle und ihre Ausführung, sondern reißt sie auch aus ihrem historischen Kontext. Einmal mehr sind seine Auswahl der Fakten und die von ihm benutzten Kategorien verfehlt und völlig willkürlich.

Der Große Terror ist eines der schrecklichsten und komplexesten Kapitel der modernen Geschichte. Zu den Opfern gehörten Angehörige zahlreicher Nationalitäten, Obdachlose und Arbeitslose, Menschen, die als „Kulaken“ (oft einfache Bauern) eingestuft wurden, eine große Zahl von Arbeitern, Künstlern, Wissenschaftlern, Ingenieuren, und insbesondere hunderttausende Mitglieder der sowjetischen Kommunistischen Partei und der Dritten (Kommunistischen) Internationale (Komintern). Gerade über die letztgenannte Gruppe als Ziel des Terrors weiß man am besten Bescheid, und das ist von größter Wichtigkeit für das Verständnis seines Charakters. Doch ohne jede Erklärung ignoriert Snyder diese Gruppe von Opfern ebenso wie praktisch alle anderen, die nicht in die Kategorien „Kulaken“, Ukrainer und Polen fallen. (Auch diese Kategorien verwendet Snyder, wie wir sehen werden, willkürlich und falsch.)

Die Moskauer Prozesse und der politische Völkermord in der UdSSR

Den Beginn des Großen Terrors und seines schändlichsten Aspekts, der Moskauer Prozesse, die im August 1936 begannen und bis März 1938 andauerten, ignoriert Snyder nahezu vollständig. In diesen Prozessen wurden die prominentesten Führer der Oktoberrevolution der „konterrevolutionären Sabotage“ beschuldigt und vor der Weltöffentlichkeit mit Schmutz beworfen, bevor sie hingerichtet wurden. Weniger als eine Seite widmet Snyder den Moskauer Prozessen und lässt es so aussehen, als hätte es genau drei Angeklagte gegeben – Lew Kamenew, Grigori Sinowjew und Nikolai Bucharin. Er unterschlägt die „Kleinigkeit“, dass die Hauptangeklagten der Prozesse Leo Trotzki und Leo Sedow, sein Sohn und engster Mitarbeiter, waren, und dass Trotzki 1940 von einem stalinistischen Agenten ermordet wurde. (Auch Sedows Tod im Jahr 1938 war wahrscheinlich das Ergebnis einer GPU-Operation zur Ermordung Trotzkis und seiner engsten Genossen.)

Auch die weiteren Angeklagten werden nicht erwähnt. Unter ihnen waren Georgi Pjatakow, Jewgeni Preobrashenski, Karl Radek, Nikolai Muralow, Wagarschak Ter-Waganian, Christian Rakowski und Dutzende anderer Mitglieder des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei unter Lenin, die später die Linke Opposition unterstützten, aber schließlich dem immensen politischen und sozialen Druck der Bürokratie erlagen und dem Kampf der Opposition abschworen.

Keine ernsthafte Beschäftigung mit dem Großen Terror kann diese Namen einfach ignorieren. Ihre Erwähnung würde jedoch Snyders Bemühungen durchkreuzen, den politischen Inhalt und Charakter des Terrors zu verschleiern und ihn als direktes Ergebnis der Oktoberrevolution wie auch als Vorläufer der völkermörderischen Politik der Nazis zu charakterisieren.

Leo Trotzki berät sich mit seinem Anwalt Albert Goldman während der Anhörungen der Dewey‑Kommission in Coyoacan, Mexiko. Zu seiner Linken seine Frau Natalia

Diese Auslassungen sind deshalb so bedeutsam, weil es vielleicht kein anderes Verbrechen des Stalinismus gibt, das so sehr zum direkten Vergleich mit dem Naziregime einlädt wie der Große Terror. Im Unterschied zur sowjetischen Hungersnot steht hier außer Frage, dass der Große Terror im Kern eine Politik des vorsätzlichen Massenmords war. Die Beweiskraft der Dokumente ist überwältigend, sie belegen tausende von Tötungsquoten und Erschießungslisten für die Massenerschießungsstätten, die Lager und Gefängnisse in der gesamten Sowjetunion. In vielen Fällen – nicht nur bei den Moskauer Prozessen – lassen sich die Direktiven direkt auf Josef Stalin zurückführen.

„Erschießungslisten“ für Leningrad vom 1. April 1937. Die Liste enthält die Namen von Personen, die „vom Militärkollegium des Obersten Gerichtshofs der UdSSR abgeurteilt“ werden sollen. 145 sollten erschossen werden, 50 für zehn Jahre und einer für fünf bis acht Jahre ins Gefängnis gehen. Das Dokument trägt die Unterschriften von Stalin, Woroschilow, Kaganowitsch, Shdanow und Molotow. Arkhiv Presidenta Rossiiskoi federatsii, op. 24, delo 409, list 54

Im Übrigen ist es angemessen, im Zusammenhang mit dem Terror von einem Völkermord zu sprechen. Es handelte sich jedoch nicht um einen ethnisch motivierten Massenmord, wie Snyder behauptet. Vielmehr war es, wie der sowjetische Soziologe Wadim Rogowin es definierte, ein „politischer Völkermord“[1].

Das Zusammenwirken von internationaler Isolation und wirtschaftlicher Rückständigkeit hatte dazu geführt, dass sich die sowjetische Bürokratie zu einer privilegierten und parasitären Kaste im Körper des Arbeiterstaates entwickelte. Ihre bloße Existenz und ihr nationalistisches Programm des „Sozialismus in einem Land“ standen im Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien der Gleichheit und des Internationalismus der Oktoberrevolution. Um ihre prekäre Position zu festigen, versuchte sie, nicht nur alle Revolutionäre zu liquidieren, sondern auch alle, die irgendeine Verbindung zur Oktoberrevolution hatten und sie im Gedächtnis trugen, ebenso die politischen und staatlichen Institutionen, die aus ihr hervorgingen – einschließlich eines Großteils des sowjetischen Staatsapparats und vor allem der Roten Armee – und auch die internationale Arbeiterbewegung als Ganzes.

Dies war das treibende Motiv, das Leo Trotzki richtig erkannte. Im Oktober 1937, auf dem Höhepunkt des Terrors, schrieb er:

Niemand, Hitler inbegriffen, hat dem Sozialismus so tödliche Schläge versetzt wie Stalin. Das ist auch nicht verwunderlich: Hitler hat die Arbeiterorganisationen von außen attackiert, Stalin – von innen. Hitler attackiert den Marxismus. Stalin attackiert ihn nicht nur, sondern prostituiert ihn auch. Nicht ein ungeschändetes Prinzip, nicht eine unbefleckte Idee sind übriggeblieben. Selbst die Worte Sozialismus und Kommunismus sind grauenhaft kompromittiert, seit wildgewordene Gendarmen unter der Titulatur „Kommunisten“ ihr Gendarmenregime Sozialismus nennen…

Der soziale und der politische Sinn der „Säuberung“ ist klar: die regierende Schicht hat alle jene aus ihrer Mitte ausgeschieden, die sie an die revolutionäre Vergangenheit erinnerten, an die Prinzipien des Sozialismus, an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, an die ungelösten Fragen der Weltrevolution. Die bestialische Grausamkeit bei der Abrechnung verrät den Hass, den die privilegierte Kaste gegen Revolutionäre hegt. In diesem Sinne steigert die Säuberung die Einheitlichkeit der regierenden Schicht und festigt gleichsam Stalins Position.[2]

Selbst für Trotzki war das schiere Ausmaß der Säuberungen – von denen die meisten im Gegensatz zu den Moskauer Prozessen nie publik gemacht wurden – nur schwer zu ermessen. Viele Jahrzehnte lang blieb der Große Terror aufgrund der systematischen Vertuschung durch den stalinistisch kontrollierten Staatsapparat unverstanden. Auch heute noch sind seine Auswirkungen schwer fassbar, denn die politischen und intellektuellen Traditionen, deren Träger vom Stalinismus ermordet wurden, müssen erst noch vollständig aufgearbeitet und in das historische Bewusstsein der Arbeiterklasse zurückgeführt werden.

Tafeln mit den Namen der Hingerichteten an der Erschießungsstätte Kommunarka bei Moskau

Tausende Opfer in Massengräbern wurden erst in den 1990er Jahren exhumiert. Viele sind heute noch unentdeckt. Wichtige Dokumente des Terrors – darunter die Befehle Nr. 00447 und Nr. 00485 – wurden erst lange nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 veröffentlicht. Der Befehl Nr. 00447 zum Beispiel wurde 1996 zum ersten Mal vollständig gedruckt. Nur ein kleiner Teil des Archivmaterials über den Terror und seine Opfer, das sich größtenteils immer noch im Besitz und unter der Kontrolle des russischen Geheimdienstes FSB, des Nachfolgers des NKWD, befindet, wurde bisher zugänglich gemacht und von Forschern geprüft.

Die Dokumente, die seit dem Zusammenbruch des Stalinismus zugänglich geworden sind, bestätigen jedoch nur die marxistische Einschätzung des Großen Terrors als eines politischen Völkermords. Mit seiner falschen Darstellung des Terrors täuscht Snyder seine Leser erneut über die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft.

Befehl Nr. 00447

Der Befehl Nr. 00447, der am 30. Juli 1937 erlassen wurde, bildete die Grundlage für die größte Massenoperation des NKWD während des Terrors. Außergerichtliche Institutionen, die berüchtigte Troika (was auf Russisch „Gruppe von drei Personen“ bedeutet), verurteilten die Angeklagten ohne auch nur den Anschein eines ordentlichen Verfahrens und unterzeichneten oft innerhalb einer Stunde hunderte Urteile, darunter auch Todesurteile, die auf vom NKWD zusammengestellten Akten und Falschaussagen sowie auf „Geständnissen“ beruhten, welche meistens durch Folter erzwungen worden waren.

Ein Auszug aus dem Befehl Nr. 00447

Die deutschen Historiker Bernd Bonwetsch, Marc Junge und Rolf Binner haben ausführlich dokumentiert, wie dieser Befehl in verschiedenen Teilen der Sowjetunion umgesetzt wurde. Snyder bezieht sich zwar auf ihre Arbeit, lässt aber wichtige Ergebnisse ihrer Forschung unerwähnt, wenn sie seinem „Narrativ“ widersprechen.

Diejenigen, die vom NKWD in den frühen 1930er Jahren und danach als „Kulaken“ bezeichnet wurden, gehörten sicherlich zu den Zielpersonen, aber es ist völlig irreführend, die Operation nur als gegen „Kulaken“ gerichtet darzustellen. Erstens ist die Bezeichnung „Kulake“ äußerst problematisch. Der Begriff wurde oft willkürlich verwendet und zielte sowohl auf tatsächliche oder vermutete politische Gegner als auch einfach auf Bauern ab. Vor allem aber richtete sich der Befehl Nr. 00447 nicht nur gegen „Kulaken“. Eine große Gruppe von Opfern, vor allem in der Anfangszeit, waren tatsächlich Menschen ohne Arbeit; eine andere Gruppe Menschen, die Diebstahl oder andere Straftaten begangen hatten. Eine sehr große Zahl derer, die im Rahmen des Befehls Nr. 00447 hingerichtet wurden, waren jedoch mutmaßliche oder tatsächliche politische Gegner der Bürokratie.

So fanden mehrere der größten Massenhinrichtungen ehemaliger politischer Oppositioneller, darunter auch Massaker an führenden Trotzkisten der 1930er Jahre, im Rahmen des Befehls Nr. 00447 statt. Snyder erwähnt sie mit keinem Wort, obwohl seine Quellen reichlich Material zu diesen politischen Verfolgungen liefern.

Bonwetsch, Junge und Binner haben detailliert aufgezeigt, wie sich diese politischen Verfolgungen im Rahmen der Umsetzung des Befehls Nr. 00447 abspielten. Die regionalen NKWD-Abteilungen erhielten von Moskau Quoten für Verhaftungen und Hinrichtungen, die sie im Gebiet, für das sie zuständig waren, erfüllen mussten. Die regionalen und lokalen NKWD-Abteilungen hatten jedoch das Recht, Moskau um „Korrekturen“ dieser Quoten zu bitten und machten häufig von diesem Recht Gebrauch. So hatte der Befehl die Hinrichtung von insgesamt 75.890 Menschen, einschließlich der Gefangenen der Arbeitslager (Gulags), und die Inhaftierung von 193.000 Menschen in Lagern und Gefängnissen vorgesehen. Letztendlich wurden jedoch im Zuge der Ausführung des Befehls Nr. 00447 rund 350.000 Menschen hingerichtet, und insgesamt wurden fast 800.000 Menschen zu Opfern.

Viele der wichtigsten „Korrekturen“, die lokale NKWD-Beamte an den von Moskau vorgegebenen Quoten für den Befehl Nr. 00447 vorschlugen, betrafen Lager und politische Gefängnisse, in denen Oppositionelle inhaftiert waren. Insgesamt wurde die Zahl der Hinrichtungen in den Lagern um das Dreifache „nach oben korrigiert“: Die ursprüngliche Quote von 10.000 bildete den Ausgangspunkt für die Erschießung von 30.178 Menschen.

Auch in den so genannten Politisolatoren, in denen 60 Prozent der Gefangenen ehemalige Parteimitglieder gewesen waren, kam es zu Massenexekutionen von Gefangenen. So wurden bei einem Treffen der „Troika“ in Jaroslawl am 3. September 1937 28 politische Gefangene wegen „kollektiver Proteste, der Verteilung von Flugblättern, der Verletzung der Gefängnisordnung, der Fortsetzung des politischen Kampfes, der Organisation von Hungerstreiks und Selbstmordversuchen“[3] zum Tode verurteilt.

Im Lager des Politisolators von Uchtinsko-Petsorksi in der Republik Komi erteilten die örtlichen Beamten am 30. August 1937 den Befehl, in erster Linie gegen „die Organisatoren von Hungerstreiks und Arbeitsverweigerer sowie gegen Gefangene [vorzugehen], die konterrevolutionäre Agitation betreiben und Gefangene und Ausreißer korrumpieren“.[4] Viele, wenn nicht sogar die meisten Hungerstreiks dieser Zeit führten die Trotzkisten an. Es scheint in der Tat so zu sein, dass die größten Massaker an aktiven Trotzkisten, also an Kämpfern der Linken Opposition, die nicht vor dem Stalinismus kapituliert hatten, im Rahmen des Befehls Nr. 00447 stattfanden.

Unter den Führern der sowjetischen Opposition, die im Zuge der „Säuberung“ der Lager und Gefängnisse in den Jahren 1937‑1938 ermordet wurden, waren auch die beiden letzten noch lebenden von Trotzkis vier Sekretären aus den 1920er Jahren, Nikolai Martynovich Sermuks und Igor Moiseevich Posnanski. Sermuks wurde am 25. Oktober 1937 bei einer Massenerschießung in Magadan an der Kolyma hingerichtet, Posnanski, als Gefangener des Uchtpetschlags des NKWD, am 30. März 1938.

Eines der größten Massaker überhaupt an Trotzkisten fand am 1. März 1938 statt, als 173 Gefangene im Lager Workuta durch Genickschuss hingerichtet wurden. Sie hatten im Lager Uchtpetschlag einen Hungerstreik geführt, der vom 18. Oktober 1936 bis zum 13. Februar 1937, also volle fünf Monate, gedauert hatte. Unter den Erschossenen befand sich auch Wiktor Borisowitsch Eltsin, der Sohn des Altbolschewiken und ehemaligen Generalsekretärs der Linken Opposition, Boris Eltsin, und Herausgeber von Trotzkis Gesammelten Werken in den 1920er Jahren. Unter den Opfern des Massakers waren auch Grigori Jakowin und Sokrat Geworkjan.[5]

Verbannte Führer der sowjetischen Linken Opposition im Jahr 1928, darunter Viktor Borisowitsch Eltsin (oben rechts) und Igor Posnanski (Mitte links). [Photo: MS Russ 13 (T 1086), Houghton Library, Harvard University, Cambridge, Massachusetts]

Sie alle – Sermuks, Posnanski, Eltsin, Jakowin und Geworkjan – waren in den 1930er Jahren Führer der sowjetischen Opposition und sind, mit Ausnahme von Sermuks, als Mitverfasser und Mitunterzeichner der Dokumente der Linken Opposition bekannt, in denen die Politik der Zwangskollektivierung in den frühen 1930er Jahren angeprangert wurde. Aber für Professor Snyder ist ihre Ermordung offenkundig ebenso irrelevant wie ihr politischer Kampf.

Eine weitere berüchtigte Massenerschießung, die von 1.111 Gefangenen des Lagers Solowki im Wald von Karelien am 20. Jahrestag der Oktoberrevolution im Oktober 1937, fand ebenfalls im Rahmen des Befehls Nr. 00447 statt. Unter den Opfern waren prominente Altbolschewiki und ehemalige Oppositionelle aus Sowjetrussland und dem Baltikum. Zu ihnen gehörten Nadjeschda Smilga-Polujan, eine Altbolschewikin und Ehefrau von Ivar Smilga, einem der wichtigsten Führer der Oktoberrevolution und der Linken Opposition in den 1920er Jahren; die Altbolschewiki Grigori Schklowski und Georgi Jakowenko, die in den 1920er Jahren Erklärungen der Linken Opposition unterzeichnet hatten, sowie Martin Yakobson und Aleksander Blaufeld, zwei estnische Altbolschewiki, die seit der Revolution von 1905 für den Sozialismus gekämpft hatten. Insgesamt waren von den 1.627 Solovki-Gefangenen, die in diesem Jahr hingerichtet wurden, 1.448 wegen „konterrevolutionärer Verbrechen“ (Artikel 58) inhaftiert worden. 780 von ihnen wurden „trotzkistischer Umtriebe“[6] beschuldigt.

Der Befehl 00447 war offiziell bis Ende 1937 gültig, wurde aber Anfang 1938 verlängert. „Andere konterrevolutionäre Elemente“ wurden nun offiziell zur Hauptzielscheibe. Ehemalige Anarchisten, Menschewiki und Sozialrevolutionäre gehörten nun zu den am häufigsten verhafteten und hingerichteten Personen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die stalinistische Bürokratie mit einem Rundumschlag gegen jede Tendenz in der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung begonnen. Snyders Bloodlands erwähnt keinen dieser Fakten, weil sie seine falschen Behauptungen über einen „Klassenterror“, der sich vor allem gegen „Kulaken“ richtete, untergraben.

Befehl Nr. 00485

Der Befehl Nr. 00485 bildete die Grundlage für die „polnische Operation“, die größte der so genannten „Nationalitätenoperationen“ des NKWD. Diesen Befehl und seine Umsetzung verfälscht Snyder sogar noch drastischer. Die Verfolgung der Juden durch die Nazis verharmlost er so:

1937 und 1938 wurde eine Viertelmillion Sowjetbürger aus letztlich ethnischen Gründen erschossen... In Wirklichkeit war die Sowjetunion am Ende der dreißiger Jahre ein Land mit bis dahin beispielloser ethnischer Verfolgung. ...Die am stärksten verfolgte europäische Minderheit in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre waren nicht die 400.000 deutschen Juden (deren Zahl durch Emigration sank), sondern die 600.000 Polen (deren Zahl durch Erschießungen sank).

Stalin war ein Pionier des ethnischen Massenmords, und die Polen waren unter den sowjetischen Nationalitäten das Hauptopfer. (S. 107)

Auf Snyders bewusste Verharmlosung der nationalsozialistischen Judenverfolgung werden wir im vierten Teil dieser Rezension noch genauer eingehen. Für den Moment wollen wir festhalten, dass der Vergleich zwischen der polnischen Operation des NKWD und der rassischen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung Deutschlands durch die Nazis jeder historischen Grundlage entbehrt.

Die Quellen, auf die sich Snyder beruft, widersprechen seiner Bewertung der „polnischen Operation“. Mindestens dreimal zitiert er einen wertvollen Aufsatz von James Morris über die „polnische Operation“, doch in zwei Fällen sind seine Zitate irreführend.

In einem Fall zitiert er Morris, um seine eigenen Berechnungen zu den Opfern der polnischen Operation zu untermauern. Morris’ Berechnungen zu den Opfern, so Snyder, seien „fast identisch“ mit seinen eigenen[7]. Doch die von ihm zitierte Seite stützt seine Berechnungen nicht. Vielmehr enthält sie eine Passage, die Snyders Beurteilung der polnischen Operation – eine völkermörderische ethnische Säuberung, die an einen Völkermord grenzte – eindeutig widerlegt. Morris stellt fest, dass Troikas 26,2 Prozent aller Einzelfälle der polnischen Operation überprüften. Demnach betrafen jedoch nur 54,7 Prozent davon ethnische Polen. Morris schreibt:

Diese Zahlen zeigen, dass viele der Opfer der polnischen Operation keine ethnischen Polen waren. Die polnische Operation war also kein systematischer Versuch, die Sowjetunion von Polen zu säubern. Tatsächlich schrumpfte die polnische Bevölkerung der UdSSR zwischen 1937 und 1939 nur um 1,0 %, während die gesamte sowjetische Bevölkerung um 4,1 % wuchs. Es wäre von großem Nutzen, die ethnische Aufteilung der Opfer der polnischen Operation nach Regionen zu kennen. Es ist wahrscheinlich, dass die ethnische Zusammensetzung von Region zu Region sehr unterschiedlich war, da die Polen im Westen der Sowjetunion am stärksten vertreten waren, die Opfer der Operation aber gleichmäßiger über diesen großen Vielvölkerstaat verteilt waren. Daher war die polnische Operation in Sibirien höchstwahrscheinlich eine ganz andere Angelegenheit als in der Ukraine. Es sind weitere Untersuchungen über die Art der polnischen Operation erforderlich, um endgültige Schlüsse über ihren wahren Charakter zu ziehen. Es ist jedoch klar, dass die Operation eine große nichtethnische Komponente hatte, die es ausschließt, sie einfach als Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit zu klassifizieren... Die Zeugenaussagen zeigen, dass die polnische Operation ein blinder Schlag gegen potenziell feindliche Elemente war. Menschen mit irgendwelchen ausländischen Verbindungen, darunter viele Nicht-Polen, wurden bei dieser Operation verhaftet und erschossen.[8]

Diese Einschätzung wird von Nikolai Petrov und Arseni Roginski bestätigt, zwei der bedeutendsten russischen Historiker des Großen Terrors, und beide auch Antikommunisten. Auch wenn Snyder sich auf sie beruft, sie haben ebenfalls darauf bestanden, dass die verfügbaren Statistiken nicht den Schluss zulassen, dass die „polnische Operation“ ein Völkermord an einer Nation war. Sie schrieben:

... Selbst in den letzten Monaten der Massenunterdrückung sind unsere Informationen über die nationale Zugehörigkeit der Verhafteten zwangsläufig unvollständig. Unserer Meinung nach sind auch die einzigen verlässlichen Zahlen nicht vollständig: Sie enthalten keine endgültigen Zahlen über die Gesamtzahl der Verhafteten, sondern nur über die von Sondertrupps im Zeitraum September bis November 1938 Verurteilten. Diese Statistiken scheinen die These zu bestätigen, dass es falsch wäre, „Polen“ mit der „polnischen“ Operation gleichzusetzen. In diesen drei Monaten verurteilten die Sondertroiki insgesamt 105.032 Personen, die im Zuge aller „nationalen“ Operationen verhaftet worden waren. Die größte nationale Gruppe war die der Polen (21.258), gefolgt von Deutschen (17.150), Russen (15.684), Ukrainern (8.773) und Weißrussen (5.716). Als „Polen“ wurden in diesem Fall diejenigen bezeichnet, die in ihren Pässen und anderen offiziellen Dokumenten so bezeichnet wurden oder die von der NKWD-Untersuchungsgruppe willkürlich als Polen deklariert wurden, indem sie einfach in die Akte des Gefangenen schrieben, dass er oder sie ein Pole war. Von dieser Gesamtzahl von 105.032 waren 36.768 während der „polnischen“ Operation verurteilt worden. ... Im gleichen Zeitraum fielen Polen auch anderen „nationalen“ Operationen zum Opfer, etwa 500 bei der „deutschen“ und 209 bei der „lettischen“ Operation.[9]

Zweifelsfrei wohnte dem stalinistischen Terror ein starkes Element der Fremdenfeindlichkeit inne. Aber Snyders falsche Darstellung des Terrors als „ethnische Säuberung“ zielt darauf ab, die im Kern politischen Beweggründe für den Terror zu verschleiern. Auch der Ausbruch von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in den Reihen der Bürokratie selbst lässt sich nur als besonders scharfer Ausdruck ihrer nationalistischen Reaktion gegen den internationalen Sozialismus und Marxismus verstehen, die dem stalinistischen Terror zugrunde lag. Der antipolnische Chauvinismus der Bürokratie war eng verbunden mit ihrer tiefen Feindseligkeit und Angst vor den internationalistischen Traditionen, die die polnische kommunistische Bewegung verkörperte.

Bei seinen wortreichen Ausführungen über die polnischen Opfer des Großen Terrors lässt Snyder bemerkenswerterweise eine Gruppe unerwähnt: die Mitglieder der Kommunistischen Partei Polens. Sie wurde im Dezember 1918 durch den Zusammenschluss von Rosa Luxemburgs Sozialdemokratie Polens und der Sozialdemokratie Litauens (SDKPiL) und dem linken Flügel der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS-Lewica) gegründet und war eine der einflussreichsten und wichtigsten kommunistischen Parteien im Europa der Zwischenkriegszeit. Viele ihrer Mitglieder spielten führende Rollen in der bolschewistischen Partei oder der Kommunistischen Partei Deutschlands oder in beiden. Mehrere von ihnen, darunter Luxemburg selbst und Leo Jogiches, wurden auf tragische Weise in der Kampagne des Weißen Terrors nach der Niederlage der deutschen Revolution von 1918/1919 ermordet.

Trotz politischer Schwächen und Unerfahrenheit war die polnische KP von den Traditionen des Internationalismus und des Kampfes von Rosa Luxemburg gegen den Reformismus beseelt. 1924 schlug sich das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Polens auf die Seite von Trotzkis Opposition in der Sowjetunion, was Stalin ihr nie verziehen hat.[10]

Außerdem wurde die polnische Linke Opposition ab 1932 eine der einflussreichsten Sektionen der Linken Opposition in Europa. Im selben Jahr setzte die sowjetische Bürokratie eine bösartige Verleumdungskampagne gegen Rosa Luxemburg in Gang. In unzähligen Presseartikeln prangerte sie Luxemburg an, weil sie Positionen vertreten hatte, die Trotzkis Theorie der permanenten Revolution ähnlich waren.[11]

Rosa Luxemburg

Diese politischen Gründe machten die Polnische KP (KPP) zu einem der Hauptziele des Angriffs der stalinistischen Bürokratie auf die sozialistische Arbeiterbewegung im Großen Terror. Noch vor Beginn des ersten Moskauer Prozesses im August 1936 schrieb der Historiker James Morris:

Der Komintern-Apparat begann, die Mitgliedschaft der KPP zu überprüfen und dem NKWD bei der Suche nach politischen Emigranten zu helfen. Lacqueur schätzt, dass zu dieser Zeit 5.000 polnische Kommunisten in der Sowjetunion lebten, und behauptet, „die Mehrheit wurde verhaftet und getötet“. Im Frühjahr 1937 nahm das Denunziantentum in der sowjetischen Kommunistischen Partei und der Komintern eine neue Dimension an. Auf dem Februar-März‑Plenum des Zentralkomitees wurden viele Altbolschewiki beschuldigt, einer terroristischen trotzkistischen Verschwörung im Dienst faschistischer Regierungen anzugehören. Während die sowjetische Kommunistische Partei ihre eigenen Mitglieder verfolgte, ging die Komintern gegen ihre Mitgliedsparteien vor. Chase schätzt, dass 30 von 37 Mitgliedern des Zentralkomitees der KPP zu dieser Zeit verhaftet wurden. Das Politbüro des Zentralkomitees der KPP, das seinen Sitz zu dieser Zeit in Paris hatte, wurde nach Moskau beordert und viele seiner Mitglieder verhaftet. Im Sommer 1937 war die KPP eine todgeweihte Institution, und die große Mehrheit ihrer führenden Mitglieder war im Gefängnis oder tot. Aus heute noch ungeklärten Gründen wartete das Präsidium der Komintern bis August 1938, ehe es die KPP formell auflöste, obwohl Dimitrow bereits im November 1937 eine Resolution verfasst hatte, die die Auflösung forderte.[12]

Zum Massenmord an polnischen Kommunisten kam die Vernichtung ihrer historischen Zeugnisse. In der Sowjetunion verschwanden Bücher und Zeitschriften, die von der revolutionären Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung handelten, aus den Regalen der Bibliotheken, einige wurden zerstört. Snyder erwähnt nichts davon.

Adolf Warski, Mitbegründer der ersten polnischen Sozialdemokratie und dann der Kommunistischen Partei Polens und langjähriger Mitarbeiter von Rosa Luxemburg und Leo Jogiches. Er wurde verhaftet und 1937 in Moskau hingerichtet.

Es muss auch betont werden, dass Snyders Fokussierung auf die polnische Operation genauso künstlich und irreführend ist wie seine fast ausschließliche Konzentration auf die Ukraine während der sowjetischen Hungersnot. Die polnische Operation war zwar zweifellos die größte der Nationalitätenoperationen, aber bei weitem nicht die einzige. Nationalitätenoperationen gab es gegen Deutsche, Griechen, Letten und Tataren, um nur einige der anderen Nationalitäten zu nennen, die ins Fadenkreuz gerieten. Im Zuge dieser und anderer NKWD-Operationen vernichtete der Kreml praktisch den gesamten Kader der Komintern. Mehr als ein Drittel der dreitausend bulgarischen kommunistischen Emigranten in der UdSSR und die große Mehrheit der ungarischen Emigranten, die mehrheitlich vor dem Faschismus in Ungarn geflohen waren, wurden im Großen Terror getötet. Diese nationalen Gruppen werden von Snyder nie erwähnt. Wie Wadim Rogowin feststellte: „Insgesamt hatte man in der Sowjetunion mehr Kommunisten aus Osteuropa vernichtet, als in den jeweiligen Ländern während der deutschen Besetzung umkamen.“[13]

All diese kommunistischen Opfer des Stalinismus, ob Polen oder nicht, sind Snyder sichtlich völlig gleichgültig, weshalb er sie gar nicht erst erwähnt. Seine Sorge um „die Polen“ ist die der rechten polnischen Nationalisten, deren Empörung über den stalinistischen Terror endet, sobald Marxisten und Revolutionäre ermordet werden. Auffallend viele von Snyders Quellen sind denn auch weit rechts stehende polnische Autoren[14].

Ein besonders krasses Beispiel für die weitgehende Identität von polnischer und ukrainischer rechter Geschichtsschreibung – auf letztere stützt Snyder seine Darstellung – ist eine Veröffentlichung des verstorbenen Roman Dzwonkowski. Sie bildet eine der wichtigsten Quellen Snyders für seine „Horrorgeschichten“ sowohl über die Hungersnot als auch über die polnische Operation. Dzwonkowski, ein geweihter katholischer Priester, hatte nach einem Studium der „Philosophie des Christentums“ promoviert, verfügte aber über keinerlei Referenzen als Historiker. Dzwonkowski war auch regelmäßig für den rechtsextremen polnischen Radiosenders Radio Maryia tätig, der für seinen Antisemitismus und Ultranationalismus berüchtigt ist.

Der von Snyder zitierte Band enthält „Berichte“ von Interviews mit Opfern, die – mehr als ein halbes Jahrhundert nach den fraglichen Ereignissen – von einem ukrainischen Arzt, Piotr Jaszscuk, zwischen 1985 und 1995 auf Band aufgenommen wurden. Die Befragung von Überlebenden und Augenzeugen historischer Ereignisse – ein Feld der Geschichtswissenschaft, das als „oral history“ bekannt ist und in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt – wirft ernsthafte methodische Fragen auf. Menschen vergessen leicht Details und erinnern sich falsch, vor allem, wenn ein langer Zeitraum vergangen ist und die Ereignisse traumatischer Art waren. Das entwertet nicht zwangsläufig die Berichte von Überlebenden oder Augenzeugen, aber jeder gewissenhafte Historiker wird den Kontext der erinnerten Ereignisse, den Hintergrund der Befragten und die Methode, mit der die Interviews geführt wurden, sorgfältig bewerten und erklären.

Dieser Band liefert allerdings keinerlei Informationen über die methodischen Leitlinien, die den Befragungen des ukrainischen Arztes zugrunde lagen. Das Einzige, was der Leser über den Hintergrund dieser Initiative erfährt, ist, dass die Veröffentlichung dieser Interviews von der notorisch rechten ukrainischen Diaspora in den USA finanziert wurde.[15]

Kurzum, als historische Quelle ist dieser Band höchst fragwürdig. Zumindest hätte Snyder seine Leser über die Herkunft dieser Interviews aufklären müssen. Aber er versäumt es nicht nur, über seine Quelle angemessen zu informieren, er zitiert sie auch wiederholt falsch. In den Kapiteln über die Hungersnot und die polnische Operation verweist er nicht weniger als 12-mal auf die Quelle, doch die Hälfte der Verweise ist entweder völlig irreführend oder nur teilweise richtig. In einem Fall zitiert er den Band, um die folgende Passage zu belegen: „Wie ein Pole sich erinnerte, wussten die Menschen beim Schlafengehen nie, ob sie von der Sonne oder vom schwarzen Raben geweckt werden würden.“ Das Zitat in Dzwonkowski stammt jedoch von einem Polen, der sich an seine Erlebnisse und Gedanken aus den Jahren 1933 und 1934 erinnert, also nicht aus den Jahren 1937-1938, und lange vor der „polnischen Operation“.[16] In einem anderen Fall hat Snyder der grausamen Beschreibung eines Ereignisses Details hinzugefügt, die in der Schilderung des Interviewten nicht zu finden sind. Während Snyder behauptet, dass der Mann verhaftet wurde, „als seine Frau gerade einen Sohn gebar“ (S. 119), gab der Interviewte selbst an, dass seine Verhaftung kurz danach stattfand.[17]

Der Hitler-Stalin-Pakt

In seiner Diskussion über den Hitler-Stalin-Pakt (auch bekannt als Molotow-Ribbentrop-Pakt) und den Einmarsch der Wehrmacht und der Roten Armee in Polen im September 1939 gibt Snyder ebenfalls die Linie der polnischen Rechten wieder und stellt den Pakt als ein Abkommen zwischen zwei gleichermaßen imperialen, räuberischen Regimen dar.

Er schreibt:

Die beiden Regime fanden sofort eine Gemeinsamkeit in ihrem Wunsch, Polen zu vernichten. Nachdem Hitler die Hoffnung aufgegeben hatte, Polen für den Kampf gegen die Sowjetunion zu rekrutieren, waren NS- und Sowjetrhetorik über Polen kaum noch zu unterscheiden. (S. 131)

Snyder liefert keine Belege dafür, dass Stalin „Polen vernichten“ wollte, noch für seine Behauptung, dass „NS- und Sowjetrhetorik über Polen kaum noch zu unterscheiden“ waren.

Der Molotow-Ribbentrop-Pakt, benannt nach den Außenministern Deutschlands und der Sowjetunion, die ihn am 23. August 1939 unterzeichneten, war ein formeller Nichtangriffspakt, der garantieren sollte, dass die Sowjetunion und Nazideutschland die jeweils andere Seite nicht angreifen würden. Ein Geheimprotokoll sah die Aufteilung Polens in zwei Einflusszonen vor, falls es zu einer „territorialen und politischen Neuordnung“ in Osteuropa kommen sollte. Die baltischen Staaten sowie Ostweißrussland und die Westukraine, die im August 1939 noch nicht zur Sowjetunion gehörten, sollten dem Pakt zufolge in die UdSSR eingegliedert werden.

Der Pakt war sicher ein Verbrechen, doch Stalins angeblicher „Wunsch, Polen zu vernichten“, war nicht die treibende Kraft. Es handelte sich vielmehr um ein politisch bankrottes Manöver des Kremls mit dem Ziel, einen Angriff Nazideutschlands auf die Sowjetunion zu verhindern oder mindestens hinauszuzögern.

Jürgen Zarusky, einer der deutschen Historiker, auf die sich Snyder zu Unrecht beruft, hat Snyders Argumente in dem von Snyder selbst zitierten Aufsatz eindrucksvoll widerlegt. Zarusky wandte sich ausdrücklich gegen Versuche, das sowjetische und nationalsozialistische Regime gleichzusetzen, gerade auch mit Blick auf den Pakt von 1939. Er betonte: „In Bezug auf den ‚Pakt‘ bedeutet das, nicht außer Acht zu lassen, dass es Hitler war, der 1939 das Heft des Handelns in Händen hielt und mit seiner kriegstreiberischen Haltung die Dynamik des Geschehens in erster Linie bestimmte.“[18]

Zarusky zitiert die Einschätzung eines anderen Wissenschaftlers, der feststellte: „Hitler wäre 1939 in den Krieg gezogen, mit oder ohne den Pakt mit Moskau... 1939 hatte er Angst vor dem Frieden, nicht vor dem Krieg.“ Zarusky fügte hinzu:

Nichtsdestoweniger kam der Pakt mit Stalin Hitlers Plänen enorm entgegen. Er befreite ihn von der Gefahr eines Zweifrontenkrieges, und die folgende strategische und ökonomische Zusammenarbeit bescherte Deutschland wichtige Vorteile. Eine häufig gebrauchte Metapher besagt, mit dem Pakt habe Stalin Hitler „grünes Licht“ für den Angriff auf Polen und damit den Beginn des Zweiten Weltkrieges gegeben. Wohl wahr, doch hatte Hitler im Sommer 1939 schon bewiesen, dass er – um im Bild zu bleiben – kein Fahrer war, der sich von einer roten Ampel länger aufhalten ließ, als es sein eigener Fahrplan vorsah.[19]

Das eigentliche Verbrechen Stalins bestand darin, dass er Hitler gestattete, das Steuer der europäischen Politik in der Hand zu behalten. Die ultralinke Politik, die sozialdemokratischen Arbeiter in Deutschland als „Sozialfaschisten“ zu verunglimpfen – eine logische Folge des ultralinken wirtschaftlichen Himmelfahrtskommandos der Kollektivierung –, hatte eine Einheitsfront der sozialistischen und kommunistischen Arbeiter in Deutschland im Kampf gegen die faschistische Bedrohung verhindert. Infolgedessen war die größte Arbeiterbewegung aller imperialistischen Länder gelähmt und die Nazis konnten ohne organisierten Massenwiderstand der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung an die Macht kommen.

In der Folge führte die stalinistische Bürokratie im Zeichen der „Volksfront“-Politik die revolutionären Bewegungen der Arbeiter in Frankreich und Spanien auf den Weg der Zusammenarbeit mit der „demokratischen“ Bourgeoisie und in die sichere Niederlage. Diese Lähmung der Arbeiterbewegung in Europa und das Massaker an Generationen von revolutionären Führern in der UdSSR und Europa ermöglichten den Aufstieg des Faschismus in mehreren europäischen Ländern und schufen die Voraussetzungen für den Zweiten Weltkrieg.

Während eine gewisse persönliche Affinität Stalins, des großrussischen Chauvinisten und Massenmörders von Revolutionären, zu Hitler, dem deutschen Faschisten und Erzfeind der Arbeiterbewegung, sicher eine Rolle bei ihrer Annäherung spielte, waren Stalins bankrotte und zum Scheitern verurteilte Manöver letztlich die Antwort der Bürokratie auf die Isolation der Sowjetunion im Weltmaßstab, zu der sie selbst durch mehrfachen Verrat an der internationalen Revolution maßgeblich beigetragen hatte.

Angesichts eines drohenden Angriffs des Imperialismus wandte sich die Bürokratie an den Imperialismus und nicht an die Arbeiterklasse, um durch einen Kuhhandel einem selbst verschuldeten Dilemma zu entkommen. So kriminell diese Politik auch war, sie änderte nichts am Charakter der Sowjetunion, die aus der Revolution von 1917 als Arbeiterstaat hervorgegangen war und diesen historischen und sozialen Ursprung trotz ihrer bürokratischen Entartung beibehielt.

Snyders Gleichsetzungen – Hitlers und Stalins, und des NS-Regimes mit der Sowjetunion – sind nicht nur falsch. Sie zielen darauf ab, jede Unterscheidung zwischen Faschismus, Stalinismus und Kommunismus als drei grundlegend verschiedenen Phänomenen auszutilgen. Letztlich zielen diese falsche Gleichsetzung von Kommunismus und Stalinismus und das Amalgam aus Verdrehungen, Halbwahrheiten, Auslassungen und Fälschungen über die Verbrechen des Stalinismus darauf ab, die Verbrechen des Faschismus – sowohl der Nazis als auch ihrer osteuropäischen faschistischen Verbündeten – zu beschönigen. Diesem beunruhigenden Aspekt von Bloodlands müssen wir uns nun zuwenden.

Wird fortgesetzt


[1]

Wadim S. Rogovin, 1937: Jahr des Terrors, Arbeiterpresse Verlag, Essen, 1998.

[2]

Leo Trotzki, Der Anfang vom Ende, August 1937, in: Leo Trotzki, Schriften 1, Band 1.2 Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940, Hamburg: Rasch und Röhring 1988

[3]

Rolf Binner, Bernd Bonwetsch, Marc Junge, Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des großen Terrors, Berlin: Akademie Verlag 2009, S. 134.

[4]

Ebd., S. 132-133.

[5]

Eine vollständige Namensliste der Hingerichteten in: V. M. Poleshshikov, Za semiu pechatiami. Iz arkhiva KGB, Vyktyvkar: Komi khnizhnoe izdatel’stvo 1995, S. 15-19.

[6]

Rolf Binner, Bernd Bonwetsch, Marc Junge, Massenmord und Lagerhaft, S. 134

[7]

Ein andermal führt er Morris als Quelle für seine Behauptung an, die „Gesamtzahl an Toten“ unter den Polen in der Sowjetrepublik Belarus sei 61.501 gewesen. Morris aber schreibt, der gesamte „Verlust“ unter der polnischen Bevölkerung – also der demographische Verlust in absoluten Zahlen – in der Sowjetrepublik Belarus habe 61.501 betragen. Diese Formulierung bedeutet nicht, dass diese Menschen alle getötet wurden. Viele sind vielleicht deportiert oder eingesperrt und in Lager verbracht worden. Tatsächlich ist dies nicht bekannt, und Morris selbst betont, dass die Datenlage zur polnischen Operation dünn ist. James Morris, The Polish Terror: Spy Mania and Ethnic Cleansing in the Great Terror, in: Europe-Asia Studies, Vol. 56, No. 5, July 2004, S. 759

[8]

Ebd., S. 762. Hervorhebung hinzugefügt. (Aus dem Englischen

[9]

Nikolai Petrov, Arsenii Roginskii, The ‘Polish Operation’ of the NKWD, 1937–8, in: B. McLoughlin et al. (eds.), Stalins Terror: High Politics and Mass Repression in the Soviet Union, Palgrave Macmillan 2003, S. 170. Hervorhebung hinzugefügt. (Aus dem Englischen

[10]

1924 äußerte Stalin in einer Rede: „Für mich ist klar, dass im ersten Kampf innerhalb der VKP (b) der Kampf gegen die opportunistische Opposition, die Führer der polnischen Partei eindeutig die Opposition unterstützten.“ Zitiert in Morris, Polish Terror, S. 755. (Aus dem Englischen

[11]

Trotzki verfasste einen wichtigen Artikel zu dieser Kampagne: Leo Trotzki, Hände weg von Rosa Luxemburg! Juni 1932. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1932/08/rosalux.ht

[12]

Morris, Polish Terror, S. 756

[13]

Wadim S. Rogowin, Die Partei der Hingerichteten, Arbeiterpresse-Verlag, Essen, 1999, S. 342

[14]

Es ist hier nicht möglich, auf alle einzugehen. Jedoch ist der Hinweis angebracht, dass viele seiner polnischsprachigen Quellen über die sowjetische Besetzung Polens von 1939‑41 von Historikern stammen, die mit dem Instityt Pamięci Narodowej (IPN, Institut für Nationales Gedenken) in Verbindung stehen, eine vom polnischen Staat finanziell unterstützte und für ihren Antikommunismus und rechten polnischen Nationalismus berüchtigte Institution. Zu nennen ist hier Rafał Wnuks „Za pierwszego Sowieta.” Polska konspiracja na Kresach Wsochdnich II Rzeczpospolitej, Warschau: IPN 2007. Das Buch erschien als Teil des Kommissionsberichts über die „Verbrechen gegen das polnische Volk“. Wnuk wurde vom rechten polnischen Präsidenten Andrzej Duda von der rechtsextremen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zum Professor ernannt. Eine weitere IPN-Schrift, auf die sich Snyder bezieht, ist: Janusz Wróbel, Joanna Żelazko, Polskie dzieci na tułaczych szlakach, 1939-1950, Warschau: IPN 2008

[15]

Roman Dzwonkowski, „Wprowadzenie,” in: Ebd., (Hrsg.), Głód i represje wobec ludności polskiej na Ukrainie, 1932-1947. Lublin: Towarzystwo naukowe KUL 2004, S. 5-36

[16]

Bei Snyder S. 115, bei Dzwonkowski S. 235-236

[17]

Dzwonkowski, Głód i represje wobec ludności polskiej na Ukrainie, S. 168. Im selben Absatz schreibt Snyder den Namen einer weiteren interviewten Person, die er zitiert, falsch: „Eleanora“ heißt korrekt „Eleonora“. Ihre Geschichte findet sich in Dzwonkowski, Głód i represje, S. 151-160

[18]

Jürgen Zarusky, “‘Hitler bedeutet Krieg’: Der deutsche Weg zum Hitler-Stalin-Pakt,” in: Osteuropa, 2009, Vol. 59, No. 7/8, S. 99

[19]

Ebd., S. 113

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