[TEIL EINS] [TEIL ZWEI] [TEIL DREI] [TEIL VIER] [TEIL FÜNF] [ZEITLEISTE]
Dies ist der vierte von fünf Teilen einer Rezension von Timothy Snyders Buch Bloodlands. Eine begleitende Zeitleiste informiert über wichtige geschichtliche Hintergründe.
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich alle Seitenangaben auf Timothy Snyder, Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin, 6., erweiterte Auflage, C. H. Beck Verlag, 2022.
Was an Snyders Relativierung der Verbrechen des Faschismus in Bloodlands vielleicht am stärksten beunruhigt, ist seine völlig verzerrte Darstellung des NS-Völkermords an sechs Millionen europäischen Juden. Seinen eingehenden Schilderungen von Vergasungen und Massenerschießungen zum Trotz propagiert Snyder konsequent die rechteste Geschichtsrevision des etablierten Verständnisses der Verbrechen des Faschismus seit Jahrzehnten, und geht dabei noch viel weiter als Nolte in den späten 1980er Jahren.
Beharrlich spielt Snyder die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung West- und Südosteuropas durch die Nazis herunter. Die Ermordung der niederländischen, französischen, griechischen und jugoslawischen Juden sowie die Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Ungarn, die eine halbe Million Menschen zählte, erwähnt er, wenn überhaupt, nur in wenigen Sätzen.
Auch andere Opfer der völkermörderischen Politik der Nazis werden praktisch ignoriert. Den systematischen Massenmord an schätzungsweise 200.000 psychisch kranken und behinderten Menschen, zuerst in Nazi-Deutschland und dann im besetzten Europa, übergeht Snyder in einem einzigen Absatz. Der Völkermord an einer Viertel- bis halben Million europäischer Sinti und Roma wird mit keinem Wort erwähnt.
Die staatlich veranlassten Verhaftungen und Massenmorde an Kommunisten und Sozialisten durch die Nazis in Deutschland und in den von ihnen besetzten Ländern bleiben unerwähnt. Auch das gigantische System der Zwangsarbeit, das die Nazis errichteten und von dem insgesamt über 20 Millionen Sklavenarbeiter aus ganz Europa betroffen waren, darunter nicht nur die besetzte Sowjetunion und Polen, sondern auch Länder wie Frankreich, Italien, Belgien und die Niederlande, findet so gut wie keine Beachtung. Stattdessen beharrt Snyder immer wieder darauf, dass Nazi-Lager in Europa – die auf über 40.000 anwuchsen und nicht nur Todeslager, sondern auch viele Konzentrationslager, Zwangsarbeitslager und Lager für Kriegsgefangene umfassten – keine allzu große Sache waren.[1]
Es ist unmöglich, all diese Themen im Rahmen dieser Rezension zu behandeln. Wir werden uns auf zwei Aspekte von Snyders Fälschungen konzentrieren, die im Zusammenhang mit dem Nato-Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine, der massiven Aufrüstung Deutschlands und der Rehabilitierung der faschistischen Kräfte auf dem ganzen Kontinent eine entscheidende Bedeutung erlangt haben. Es geht darum, wie Snyder die Verfolgung der deutschen Juden gezielt bagatellisiert, und wie er versucht, die Mitwirkung der osteuropäischen Faschisten am NS‑Völkermord herunterzuspielen und zu rechtfertigen.
Snyder bagatellisiert die Verfolgung der deutschen Juden durch die Nazis
Im Vorwort zu Bloodlands schreibt Snyder:
Die meisten deutschen Juden, die Hitlers Wahlsieg 1933 erlebt hatten, starben eines natürlichen Todes. Die Ermordung von 165.000 deutschen Juden war ein schreckliches Verbrechen, aber nur ein kleiner Teil der Tragödie der europäischen Juden, sie machten weniger als drei Prozent der Opfer des Holocaust aus. (S. 10-11)
An anderer Stelle versucht Snyder zu beweisen, dass Hitlers Methoden der Judenverfolgung viel „unzulänglicher“ waren als die Stalins beim angeblichen „Völkermord“ an den Ukrainern in den Jahren 1932-1933 (siehe Teil 1 dieser Rezension). Er behauptet, der Boykott [jüdischer Geschäfte in Deutschland] vom 1. April 1933 „hatte nur begrenzte Wirkung; seine Hauptfolge war die Emigration von 37.000 deutschen Juden im Jahr 1933. Es dauerte weitere fünf Jahre, bis große Eigentumsübertragungen von jüdischen auf nichtjüdische Deutsche, die sogenannten ‚Arisierungen‘, stattfanden“ (S. 82). Diese außerordentliche Behauptung legt nahe, dass die jüdische Bevölkerung in Nazideutschland im Vergleich zu polnischen Menschen in der Sowjetunion wenig Grund zur Klage hatte.
Um zu „belegen“, was er schreibt, verweist Snyder auf den herausragenden Historiker des nationalsozialistischen Deutschlands, Richard J. Evans. Doch die zitierte Passage von Evans liest sich ganz anders als das Konstrukt von Snyder. Evans beschreibt, wie die Nazis nach Hitlers Ernennung zum Kanzler am 30. Januar 1933 sehr schnell zum Angriff übergingen, zunächst auf politische Gegner, und dann auf die Juden:
Am 1. April 1933 standen SA-Männer drohend vor den Schaufenstern von Läden und Warenhäusern jüdischer Inhaber und trugen Schilder mit der Aufschrift: „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“. Die meisten nichtjüdischen Deutschen befolgten die Aufforderung, allerdings ohne besondere Begeisterung. Die größten jüdischen Firmen blieben von dem Boykott ausgenommen, da sie für die Wirtschaft zu wichtig waren. Als sich zeigte, dass der Boykott bei der Bevölkerung keine enthusiastischen Reaktionen auslöste, blies Goebbels ihn nach wenigen Tagen wieder ab. Doch die Misshandlungen von Juden auf der Straße, die Schändung von Synagogen und der Boykott zeigten bei der jüdischen Gemeinde in Deutschland Wirkung: Bis zum Jahresende waren 37.000 ihrer Mitglieder ausgewandert. Die Vertreibung der Juden, die von den Nationalsozialisten nicht wegen ihrer Religionszugehörigkeit, sondern aufgrund „rassischer“ Kriterien verfolgt wurden, machte sich auf besondere Weise in den Naturwissenschaften, dem kulturellen Leben und in den Künsten bemerkbar. Jüdische Dirigenten und Musiker wie Bruno Walter und Otto Klemperer wurden kurzerhand entlassen oder am Auftreten gehindert. Film und Funk wurden innerhalb kurzer Zeit von Juden und Regimegegnern „gesäubert“. Tageszeitungen, die nicht auf der Parteilinie lagen, wurden verboten oder unter die Kontrolle der Partei gebracht, während der Reichsverband der deutschen Presse und der Reichsverband der deutschen Zeitungsverleger sich der Parteiführung unterstellten. Linke und liberale Schriftsteller wie Bertolt Brecht, Thomas Mann und zahllose andere durften nicht mehr publizieren; viele verließen das Land... Insgesamt emigrierten mindestens 2.000 Kulturschaffende in den Jahren nach 1932 aus Deutschland... Bis 1934 hatte man rund 1.600 von 5.000 Universitätslehrern davongejagt, ein Drittel, weil sie Juden, die übrigen, weil sie politische Gegner der Nationalsozialisten waren.[2]
Abgesehen von der Zahl von 37.000 Juden, die in die Emigration getrieben wurden, findet sich keiner dieser Fakten in Bloodlands. Noch schlimmer wird es, wenn Snyder auf die besterforschten und allgemein bekannten Aspekte der judenfeindlichen Politik der Nazis zu sprechen kommt. Die Nürnberger Rassengesetze werden in drei Sätzen abgehandelt, als wären sie bedeutungslos:
Die Nürnberger Gesetze von 1935 schlossen Juden von der politischen Mitwirkung am deutschen Staat aus und definierten Judentum nach der Abstammung. Deutsche Beamte benutzten tatsächlich die Dokumente aus Synagogen, um festzulegen, wessen Großeltern Juden gewesen seien. Doch in der Sowjetunion war es nicht viel anders. (S. 126)
Doch, es war anders. Wir haben bereits auf Snyders grobe Verfälschung der polnischen Operation des NKWD aufmerksam gemacht. Auch seine Aussagen zu den Nürnberger Gesetzen sind irreführend. Juden wurden nicht „nach ihrer Abstammung“ eingestuft, wie Snyder es schönredet, sondern nach der künstlichen Kategorie „Rasse“. Die Behauptung, die Nürnberger Gesetze hätten lediglich dazu gedient, „Juden von der politischen Mitwirkung am deutschen Staat“ auszuschließen, verharmlost überdies die wirkliche Situation im faschistischen Deutschland.
Wie Evans schrieb:
Das Reichsbürgergesetz definierte die Reichsbürger ausschließlich als Personen „deutschen oder artverwandten Blutes“. Gleichzeitig musste ein Reichsbürger jedoch auch „durch sein Verhalten beweisen, dass er gewillt und geeignet [war], in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen“. Alle anderen Personen, zumal die Juden, aber potenziell auch alle Gegner des Regimes oder sogar jene, die sich stillschweigend durch ihre mangelnde Begeisterung für seine Politik von ihm distanzierten, waren lediglich „Staatsangehörige“. Sie waren „dem Schutzverband des Deutschen Reichs… besonders verpflichtet“, erhielten dafür jedoch keinerlei politische Rechte.[3]
In alle Lebensbereiche in Nazideutschland drang nun der Antisemitismus. Öffentliche Gebäude und Parks, Schwimmbäder und Geschäfte – denjenigen, die das NS-Regime als „Juden“ einstufte, wurde der Zugang zu fast allem verwehrt. Viele jüdische Kinder mussten ihre Schule wechseln und waren fortan gezwungen, jüdische Schulen zu besuchen. Auch das persönliche Leben der Menschen wurde massiv beeinträchtigt. Die Nürnberger Gesetze verboten „unerlaubte sexuelle Beziehungen“, die praktisch jede Art von körperlichem Kontakt zwischen den als „Juden“ und den als „Arier“ eingestuften Personen umfassten, einschließlich Küssen und Umarmen. Selbst der großrussische Chauvinismus der stalinistischen Bürokratie führte nicht einmal entfernt zu einer vergleichbaren sowjetischen Gesetzgebung in Bezug auf eine nationale oder ethnische Minderheit. Aber für Snyder ist das alles nicht erwähnenswert.
Die Ursprünge des faschistischen Antisemitismus in Deutschland und Osteuropa
In seinem Buch, das auf hunderten Seiten vom Naziregime und dem Holocaust handelt, liefert Snyder praktisch keinerlei Erklärung zu den ideologischen und politischen Wurzeln und Inhalt des nationalsozialistischen Antisemitismus. Wenn er das täte, würde sein gesamtes Konstrukt – die falsche Gleichsetzung von Faschismus mit Stalinismus oder gar Kommunismus – in sich zusammenfallen. Die Erkenntnisse der Geschichtsforschung zu diesem Thema sind zu zahlreich, um sie hier aufzuführen; doch sind sich alle ernsthaften Historiker einig, dass der gewalttätige Antisemitismus der Nazis ein Wesensmerkmal der deutschen faschistischen Ideologie war. Die Nazis teilten diesen gewalttätigen Antisemitismus mit der osteuropäischen extremen Rechten, und beide weisen in der Tat auch ähnliche historische und politische Ursprünge auf.
Der moderne politische Antisemitismus war zunächst ein Produkt der politischen Reaktion auf die Französische Revolution, die der jüdischen Bevölkerung des Landes demokratische Rechte zugestanden hatte. Er schlug besonders tiefe Wurzeln im Zarenreich, das zum Bollwerk der Reaktion gegen die Französische Revolution in Europa wurde. Vom Staat diskriminiert und wirtschaftlich unterdrückt, lebte die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung des Russischen Reiches – die größte in Europa – im Ansiedlungsrayon (Siedlungsgebiet, das in etwa die heutige Ukraine, das Baltikum und Teile Polens umfasste) und besaß keine Bürgerrechte. Der russische Staat, die Zarenfamilie und die Russisch-Orthodoxe Kirche waren wohl die übelsten Förderer des Antisemitismus.
Mit der Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse und der Entstehung der Arbeiterklasse, insbesondere ab den 1880er Jahren, verschmolz dieser offizielle Antisemitismus zunehmend mit der politischen Reaktion gegen den Marxismus und die organisierte Arbeiterbewegung. Das Schreckgespenst des „jüdischen Revolutionärs“ und, vor allem ab der Revolution von 1905, des „jüdischen Kommunisten“ wurde zum Kernelement der Anstiftung zu antijüdischer Gewalt. Der Staat setzte sie immer wieder ein, um die Arbeiterklasse des Russischen Reiches, die viele Nationalitäten umfasste, zu spalten. In den Revolutionen von 1905 und 1917 wurde sie zu einem zentralen Bestandteil antirevolutionärer Gewalt überhaupt.
In Deutschland wurden den Juden viel später als in Frankreich die Bürgerrechte gewährt. Im Unterschied zum Russischen Reich erhielten die Juden in Deutschland jedoch bereits 1871 die vollen Bürgerrechte, was ihnen großenteils die Assimilierung erleichterte. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Neid der Mittelschichten, die um ihre „eigenen“ Geschäfte und Positionen fürchtete, zu einer bestimmenden Komponente des Antisemitismus.
Grundsätzlich aber wurde der politische Antisemitismus in Deutschland, wie auch in Russland, zu einem zentralen Instrument der Reaktion gegen die mächtige marxistische Bewegung in der deutschen Arbeiterklasse, an deren Spitze die Sozialdemokratische Partei Deutschlands stand – die einzige Partei in Deutschland, die den Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich konsequent bekämpfte.[4]
Konrad Heiden, einer der ersten und scharfsinnigsten Hitler-Biographen, betonte, dass Hitlers mörderischer Hass auf die Juden seinen Ursprung in seinem mörderischen Hass auf die Arbeiterbewegung hatte. Er schrieb:
Plötzlich wurde die ,Judenfrage‘ klar … Die Arbeiterbewegung stieß ihn [Hitler] nicht ab, weil sie von Juden geführt wurde, sondern die Juden stießen ihn ab, weil sie die Arbeiterbewegung führten… Nicht Rothschild der Kapitalist, sondern Karl Marx der Sozialist entfachte Adolf Hitlers Antisemitismus. Keine Gerechtigkeit! Keine gleichen Rechte für alle![5]
Nach der Oktoberrevolution 1917 und der deutschen Revolution 1918/19 wurde diese Verbindung von Antimarxismus und Antikommunismus auf der einen und Antisemitismus auf der anderen Seite in ganz Europa zum Hauptmerkmal rechtsextremer, konterrevolutionärer Politik. Der Bürgerkrieg, in dem die imperialistischen Armeen die bürgerlich-nationalistischen Kräfte in Polen, der Ukraine und im gesamten ehemaligen Russischen Reich gegen die Rote Armee unterstützten, führte zum größten Massenmord an Juden in der Geschichte vor dem Holocaust. Bis zu 200.000 Jüdinnen und Juden, die meisten von ihnen in der Ukraine, wurden bei Pogromen brutal ermordet, die vor allem von weißen konterrevolutionären Kräften sowie polnischen und ukrainischen nationalistischen Armeen verübt wurden. Schätzungsweise 300.000 jüdische Kinder wurden zu Waisen. Die Massaker endeten nur dank des Sieges der Bolschewiki, die einen konsequenten Kampf gegen den Antisemitismus führten. In Bloodlands wird dieser bis dahin beispiellose Massenmord an der osteuropäischen jüdischen Bevölkerung mit keinem Wort erwähnt.
Nach der Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Rote Armee gingen viele der russischen, baltischen und ukrainischen Nationalisten ins Exil nach Deutschland und Österreich. Einige von ihnen, besonders Alfred Rosenberg, einer der Hauptverantwortlichen für den Krieg der Nazis im Osten, wurden zu prominenten Persönlichkeiten in der Nazibewegung.
Der Einmarsch der Nazis in die Sowjetunion und der Holocaust
Der Überfall von über 3 Millionen Wehrmachtssoldaten auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde von einer halben Million Soldaten aus Ungarn, Rumänien, Finnland, Italien und der Slowakei sowie von Freiwilligen aus dem faschistischen Spanien unterstützt, die alle eine bedeutende Rolle bei den Verbrechen gegen die sowjetische Bevölkerung und im Holocaust spielen sollten. Mit ihrer Propaganda, die sich auf Antikommunismus und Antisemitismus stützte, gelang es den Nazis außerdem, in der damaligen Sowjetunion die gleichen lokalen nationalistischen und faschistischen Kräfte zu mobilisieren, die der deutsche Imperialismus bereits über 20 Jahre zuvor im Bürgerkrieg gegen die Rote Armee unterstützt hatte.
Die Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte hat zweifelsfrei festgestellt, dass die Nazis mit Beginn ihres Krieges gegen die Sowjetunion im Juni 1941 ihre antijüdische Politik deutlich verschärften.
Vor 1941 hatte es Massendeportationen, die Ghettoisierung und den Hungertod von Hunderttausenden sowie Massenerschießungen gegeben. Doch erst jetzt nahm die antijüdische Politik der Nazis einen völkermörderischen Charakter an, da nicht „nur“ Männer, sondern auch Frauen, Kinder und ältere Menschen systematisch vernichtet wurden. Ein großer Teil der über eine Million sowjetischer Juden, die im Holocaust getötet wurden, war bereits Anfang 1942 tot.
Die berüchtigte Wannsee-Konferenz im Januar 1942 – die in Bloodlands in einem einzigen Satz erwähnt wird – war die formale Grundlage für die Ingangsetzung des industriellen Massenmords an der verbliebenen jüdischen Bevölkerung Europas. Bald darauf folgte die sogenannte „Aktion Reinhard“ im von den Nazis besetzten Polen, bei der etwa 1,7 Millionen polnische Juden vergast wurden.
Snyders Verharmlosung der ukrainischen Kollaboration im Holocaust
Auf den 500 Seiten seines Buches über den Massenmord in Osteuropa, das sich fast zwanghaft auf die Ukraine konzentriert, widmet Snyder der Kollaboration lokaler Kräfte mit den Nazis nur wenige Absätze, und die Rolle der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) im Holocaust erwähnt er mit keinem Wort. Snyder versteigt sich zu der absurden Behauptung, dass die Kollaboration mit den Nazis in Osteuropa – an der nach seinen eigenen Angaben nicht weniger als eine Million Menschen beteiligt waren – nicht ideologisch oder politisch motiviert war. Er schreibt:
Das klassische Beispiel der Kollaboration ist das der Sowjetbürger, die den Deutschen im Zweiten Weltkrieg als Polizisten oder Wachmannschaften dienten und zu deren Pflichten das Töten von Juden gehörte. Fast keiner von ihnen kollaborierte aus ideologischen Gründen, und nur eine Minderheit hatte irgendwelche erkennbaren politische Motive... In Osteuropa findet man kaum politische Kollaboration mit den Deutschen, die nicht zu einer vorherigen Erfahrung der Sowjetherrschaft in Beziehung steht. (S. 398-399, Hervorhebung hinzugefügt)
Diese Aussage ist nicht nur in sich widersprüchlich, sondern auch nachweislich falsch. Außerdem ist die „Erfahrung der Sowjetherrschaft“ die Standardrechtfertigung der osteuropäischen extremen Rechten für ihre Kollaboration mit dem Naziregime (wie auch direktere Verweise auf die „jüdische Kollaboration“ mit den Sowjets). Kein seriöser Historiker hat sie je akzeptiert. Snyder lässt auch aus Gründen der Zweckmäßigkeit die Tatsache unter den Tisch fallen, dass bis zu 380.000 europäische Juden auf Befehl des faschistischen Regimes der Eisernen Garde in Rumänien, das keine „vorherige Erfahrung mit der Sowjetherrschaft“ hatte, niedergemetzelt wurden.
Es muss betont werden, dass die überwältigende Mehrheit der Holocaust-Historiker, auf die sich Snyder beruft, seinem „Narrativ“ eindeutig widerspricht. Ein Fall soll als aufschlussreiches Beispiel dienen. Die Arbeiten des bahnbrechenden sowjetischen Holocaust-Historikers Yitzhak Arad über die „Aktion Reinhard“ – die Ermordung von 1,7 Millionen polnischen Juden im von den Nazis besetzten Generalgouvernement – und den Holocaust in der Sowjetunion werden in Bloodlands häufig zitiert. Im Gegensatz zu vielen anderen Quellen, die Snyder angibt, sind die meisten seiner Verweise auf Arads Werke tatsächlich korrekt. Das deutet darauf hin, dass Snyder diese Bücher tatsächlich mit einer gewissen Sorgfalt gelesen hat. Davon kann man, angesichts der Unzahl seiner Zitierfehler, für viele andere in seiner Bibliografie angeführten Werke nicht ausgehen.
Snyder verweist auf Arad, um auf die ausgedehnte Kollaboration in Litauen anzuspielen, wo die Litauische Aktivistenfront (LAF) vor der Ankunft der Wehrmacht Massaker an Juden verübte. Fünfundneunzig Prozent der jüdischen Gemeinde in Litauen wurden ermordet, eine der höchsten Todesraten in ganz Europa. Zehntausende wurden allein in den ersten Wochen getötet, größtenteils von litauischen Nationalisten und Faschisten.[6]
Doch Snyder lässt die wohl berüchtigtste kollaborierende Organisation Osteuropas, die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die Arad ausführlich behandelt, völlig außer Acht. In Bloodlands wird die OUN nur zweimal erwähnt, und das auch nur am Rande (S. 164 und S. 332). Die Ursprünge dieser Organisation werden nie erklärt, und die einzigen Verbrechen, die Snyder vage erwähnt, sind ihre Massaker an Polen.
Die OUN wurde 1929 in Wien von Exilveteranen der nationalistischen Armee von Simon Petljura gegründet, die im Bürgerkrieg 1918-1921 gegen die Rote Armee gekämpft hatte und an Massakern an ukrainischen Juden beteiligt war. In den 1930er Jahren erhielt die OUN Geld von den Nazis und baute enge Beziehungen zu deren Geheimdienst auf, während sie in der damaligen Zweiten Polnischen Volksrepublik und der Westukraine terroristische und pogromartige Aktionen durchführte. 1940 spaltete sich die OUN in zwei rivalisierende Flügel – einen unter der Führung von Stepan Bandera (OUN-B) und einen unter der von Andrei Melnyk –, die beide eng mit den Nazis zusammenarbeiteten.
Die Ideologie der OUN war von gewalttätigem Antikommunismus, ethnischem ukrainischem Nationalismus und Antisemitismus geprägt. Ein Dokument der OUN-B vom Mai 1941 enthielt einen Absatz, der fordert, „feindliche Elemente auf ukrainischem Boden“ zu „beseitigen“. Darin hieß es: „In einer Zeit des Chaos und der Verwirrung ist es erlaubt, unerwünschte polnische, moskowitische und jüdische Aktivisten zu liquidieren, insbesondere Anhänger des bolschewistisch-moskowitischen Imperialismus.“[7] (Aus dem Englischen)
Im Rahmen der Vorbereitungen für den Einmarsch organisierte der deutsche Heeresnachrichtendienst zwei ukrainische Bataillone, „Nachtigall“ und „Roland“, in Zusammenarbeit mit den beiden OUN-Gruppen. Als die Wehrmacht einmarschierte, griff die ukrainische Rechte gleichzeitig die Rote Armee an. Yitzhak Arad schreibt:
Das Bataillon „Nachtigall“ wurde den deutschen Truppen zugeteilt, die am 30. Juni in Lemberg einmarschierten. Das Bataillon nahm auch an antijüdischen Ausschreitungen teil. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Lemberg bildeten Banderas Leute eine ukrainische Nationalregierung unter der Führung von Jaroslaw Stetsko. Weil die Pläne der Deutschen für die Ukraine den nationalen Ambitionen der Ukrainer entgegenstanden, wurde die neue Regierung eine Woche nach ihrer Einsetzung aufgelöst.[8] (Aus dem Englischen)
Nur Stunden nach der fehlgeschlagenen Ausrufung ihres eigenen „unabhängigen“ Staates im Bündnis mit einem faschistischen Europa entfesselten die ukrainischen Nationalisten in Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern einen entsetzlichen Pogrom in Lemberg. Der Historiker John-Paul Himka hat eine unter die Haut gehende Untersuchung über die brutale sexuelle Gewalt, die Schläge und den Massenmord an tausenden Juden vorgelegt.[9] Auf einem der Flugblätter, mit denen die OUN in den ersten Tagen des Krieges zu antijüdischer Gewalt aufrief, stand: „Moskau, Polen, die Ungarn, das Judentum sind unsere Feinde. Vernichtet sie!“[10] Aus Anlass des 15. Jahrestags der Ermordung von Simon Petljura organisierte die OUN vom 25. bis 28. Juli 1941 einen weiteren Pogrom in Lemberg, bei dem 1.500 Menschen starben.[11]
Während die OUN sich irrte, als sie annahm, die Nazis würden ihr einen unabhängigen Staat zugestehen, und einige ihrer Anführer sogar von den Nazis verhaftet wurden, steht außer Frage, dass gewalttätiger Antisemitismus ein zentraler Bestandteil ihrer Ideologie war und dass die Organisation als Ganzes weiter mit den Deutschen kollaborierte. Mitglieder der OUN arbeiteten in der zivilen Verwaltung, die die Nazis sowohl in Teilen des besetzten Polens – organisiert als Generalgouvernement – als auch im Reichskommissariat Ukraine einrichteten.
Es gibt keine harmlosen Erklärungen dafür, dass Snyder dieses zentrale Kapitel in der Geschichte der nationalsozialistischen Besatzung der Ukraine unterschlägt. Inzwischen, dreißig Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion, ist die düstere Geschichte der OUN von Historikern ausführlich dokumentiert worden. Timothy Snyder selbst begründete seinen Ruf als Historiker für osteuropäische Geschichte vor allem mit seinem 2004 erschienenen Buch Reconstruction of Nations, in dem er die Massaker der OUN und ihres paramilitärischen Arms, der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), an Juden und Polen in der Westukraine untersuchte. In direktem Widerspruch zu seinen Behauptungen in Bloodlands über das vermeintliche Fehlen „politischer“ und „ideologischer“ Motive bei den lokalen nationalistischen Kollaborateuren schrieb Snyder damals:
Ukrainer, die 1941 in den Dienst der deutschen Verwaltung und Polizei traten, handelten aus mehreren Motiven: Um eine berufliche Tätigkeit, die sie kannten, weiter auszuüben; um Einfluss auf ihre eigenen Angelegenheiten zu haben, um Eigentum zu stehlen, um Juden zu töten, um persönliches Ansehen zu erlangen, um spätere politische Aktionen vorzubereiten. Da der ukrainische Staat erst geschaffen, während der polnische Staat nur wiederhergestellt werden musste, hatten ukrainische Nationalisten ein politisches Motiv, mit den Deutschen zu kollaborieren und die ukrainische Jugend zu ermutigen, in den Machtorganen der Nazis tätig zu werden. Doch die tägliche praktische Zusammenarbeit mit den Nazis hatte wenig mit diesem politischen Ziel zu tun, das die Nazis ablehnten, dafür umso mehr mit dem Töten von Juden, einem Hauptelement der Politik der Nazis. Es sei wiederholt: Die größte Veränderung der wolhynischen Gesellschaft stellte die Ermordung von 98,5 Prozent der wolhynischen Juden dar...
Alles in allem halfen etwa zwölftausend ukrainische Polizisten etwa vierzehnhundert deutschen Polizisten bei der Ermordung von etwa zweihunderttausend wolhynischen Juden. Obwohl sie am Morden selbst wenig beteiligt waren, stellten diese ukrainischen Polizisten die Arbeitskräfte, die den Holocaust in Wolhynien möglich machten. Sie versahen ihren Dienst bis Dezember 1942. Im Frühjahr darauf, März/April 1943, stellten fast alle ukrainischen Polizisten den Dienst bei den Deutschen ein und schlossen sich den ukrainischen Partisanen der Ukrainischen Aufständischen Armee (Ukrains'ka Povstans'ka Armiia, UPA) an. Zu ihren Hauptaufgaben als UPA-Partisanen gehörte es, Wolhynien von Polen zu säubern. [Hervorhebung hinzugefügt][12] (Aus dem Englischen)
Ende 1942, auf dem Höhepunkt der Expansion Nazideutschlands nach Osten, beaufsichtigten etwa 14.000 deutsche Polizisten und Gendarmen die Arbeit von etwa 160.000 örtlichen Hilfspolizisten im Reichskommissariat Ukraine und im Reichskommissariat Ostland (das sich auf das Baltikum und Weißrussland erstreckte).[13]
Dennoch stellt Snyder in Bloodlands die ungeheure Behauptung auf: „Einheimische Polizisten, die den Deutschen in der besetzten Ukraine oder in Weißrussland dienten, hatten wenig oder keine Macht innerhalb der Regime.“ (S. 399) Das ist eine Lüge.
Wie Snyder 2004 selbst einräumte, bezogen die Hauptverantwortlichen für die Massenerschießungen von Juden – die Tötungsmethode, die in der besetzten Ukraine, in Weißrussland und im Baltikum am häufigsten angewandt wurde –, die Sicherheitspolizei und die Einsatzgruppen der SS, diese einheimischen Polizisten häufig in ihre Massenmorde ein. Auch bei der Auflösung der Ghettos und den Massendeportationen der verbliebenen Juden in die Todeslager im besetzten Polen wurden sie herangezogen.
Snyder relativiert und rechtfertigt die Verbrechen der Trawniki
Besonders berüchtigt unter den Kollaborateuren waren die so genannten Trawniki, eine Gruppe von Söldnern, die größtenteils aus sowjetischen Kriegsgefangenen rekrutiert wurden. Zwar rekrutierten die Nazis nicht nur Ukrainer für die Trawniki, doch waren diese in der Söldnertruppe so zahlreich vertreten, dass Historiker wie auch viele Überlebende den Begriff „Trawniki“ oft gleichbedeutend mit „Ukrainer“ benutzen.
Snyder gibt zwar zu, dass sie im Holocaust eine Rolle spielten, versucht aber, sie als ahnungslose Burschen darzustellen, die mehr oder weniger zufällig am größten Völkermord der Geschichte beteiligt waren. Er schreibt:
Die Trawniki-Männer wussten nichts von diesem großen Plan [alle Juden zu ermorden], als sie rekrutiert wurden, und hatten keinen politischen oder persönlichen Anteil daran. (S. 263-64)
An anderer Stelle sagt er:
Die regelmäßigen und umfangreichen Transporte hatten die kleinen Gaskammern von Treblinka rasch überfordert, darum mussten [?!] Deutsche und Trawniki-Männer auf Erschießungen ausweichen. Dafür waren die Trawniki-Männer nicht ausgebildet worden. Sie erfüllten die Aufgabe schlecht, aber sie erfüllten sie. (S. 273)
Das ist eine dreiste Lüge. Das Ermorden von Juden – genau dafür waren die Trawniki gedrillt worden. Sogar der Name dieser Söldnertruppe geht zurück auf ihr SS-Ausbildungslager im Bezirk Lublin im von den Nazis besetzten Polen, das Trawniki hieß. Diese Region wurde Hauptschauplatz der sogenannten „Aktion Reinhard“, ein Deckname für die systematische Ermordung von 1,7 Millionen polnischen Juden, die im Gebiet des Generalgouvernements lebten. Die Trawniki waren maßgeblich und umfassend an dieser Massenmordoperation beteiligt – von der Vergasung in den Lagern über die Ausbeutung der jüdischen Zwangsarbeiter bis hin zur Plünderung des Eigentums der Ermordeten.[14]
Im Ausbildungslager Trawniki, in dem die Männer zwischen sechs Wochen und sechs Monaten verbrachten, erhielten sie zunächst eine „Grundausbildung, militärischen Drill und Einweisung in den Gebrauch von Waffen (Gewehre, Maschinengewehre, Maschinenpistolen und Granaten). Darüber hinaus erhielten die Rekruten eine, wie sie es selbst nannten, ‚Spezialausbildung‘ in den Bereichen Polizeibegleitung, Bewachung und Transportdienst.“[15] (Aus dem Englischen)
Die meisten dieser Männer waren relativ jung, bäuerlicher Herkunft und politisch nicht organisiert. Dennoch prüften die Nazis sie auf Herz und Nieren, um sicher zu sein, dass keiner von ihnen je Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen war. Der Historiker Peter Black, den Snyder zur Frage der Trawniki zitiert, hat ihre ideologische und politische Ausbildung sehr detailliert beschrieben. Sein Aufsatz widerlegt überzeugend Snyders groteske Verharmlosung dieser auf Massenmord gedrillten Gruppe. Black stellt fest:
Alle Trainingseinheiten fanden in deutscher Sprache statt; Dolmetscher vermittelten die Inhalte an die nicht deutschsprachigen Anwärter. Letztere mussten auch wöchentliche Vorträge über sich ergehen lassen (via Dolmetscher), die die Überlegenheit des nationalsozialistischen gegenüber dem sowjetischen System, die Gefahren der „jüdisch‑bolschewistischen Verschwörung“ und die Vorteile eines tapferen und gehorsamen Dienstes für Deutschland und Adolf Hitler betonten.[16] (Aus dem Englischen)
Einer der Trawniki-Männer erinnerte sich später an „antisowjetische Ausbildung“ und Anweisungen, „wie man Partisanen und Juden zusammentreibt“. Nach seinen eigenen Worten wurden er und andere Trawniki später zu „Henkern und Bestrafern, die Gefangene in den Todeslagern vernichteten, und zu Wachmännern in den Todeslagern, Konzentrationslagern und jüdischen Ghettos.“[17]
Das ist eine zutreffende Beschreibung. Nach ihrer Ausbildung wurden die etwa 2.000 bis 3.000 Trawniki im gesamten Generalgouvernement und in der besetzten Ukraine eingesetzt, um die Todes- und Konzentrationslager zu bewachen und dafür zu sorgen, dass die Auflösung der Ghettos – also die Massendeportationen der jüdischen Gefangenen in die Todeslager – „reibungslos ablief“. Sie waren auch an großen Massakern beteiligt, vor allem in Lemberg, wo sie am 25 Mai 1943 2.000 jüdische Gefangene und am 25. und 26. Oktober 1943 1.000 Juden ermordeten. Viele der 3.000 Überlebenden wurden dann am 19. November 1943 von den Trawniki in einem weiteren Massaker ermordet.[18]
Abgesehen von ihrer Tätigkeit als Wachpersonal in den Todeslagern der Aktion Reinhard, wo sie für äußerste Brutalität, sexuelle Gewalt, offene Plünderungen und Alkoholismus berüchtigt waren, sind die Trawniki vielleicht vor allem dafür bekannt, dass sie an der Räumung des Warschauer Ghettos beteiligt waren. Bei den großen Deportationen von Juli bis September 1942 halfen die Trawniki bei der Deportation von 265.000 Juden aus dem Warschauer Ghetto in das Vernichtungslager Treblinka, beteiligten sich an der Erschießung von etwa 25.000 Ghetto-Gefangenen und wirkten anschließend auch bei der gewaltsamen Niederwerfung des Aufstands von April bis Mai 1943 mit.[19]
Als Gegenleistung für ihre Kollaboration beim Massenmord gewährten die Nazis den Trawniki großzügige soziale Privilegien, obendrein ließen sie ihnen freie Hand bei der Plünderung des Besitzes ihrer Opfer. Gegenüber den Reichsdeutschen [„ethnische“ Deutsche, die im besetzten Osteuropa lebten] bestanden die Nazis sogar darauf, dass die Trawniki, im Gegensatz zu anderen „rassisch Minderwertigen“, „als Gleichberechtigte“ behandelt werden sollten.[20]
Aus Platzgründen beschränkt sich diese Buchbesprechung auf Snyders zahllose Auslassungen und seine verzerrte Darstellung der ukrainischen Kollaboration mit den Nazis. Es muss jedoch betont werden, dass diese Kritik auch in Bezug auf die osteuropäische Kollaboration mit den Nazis in den baltischen Ländern und Weißrussland sowie in Polen angebracht ist. Hier kam es im Sommer 1941 zu einer Reihe von grauenhaften Pogromen, bei denen tausende Juden getötet wurden. Snyder erwähnt keinen dieser Pogrome. Wie im restlichen besetzten Osteuropa stellten die Nazis auch im besetzten Polen einheimische Polizeikräfte auf, die sogenannte „Blaue Polizei“, die ebenfalls in den Holocaust verwickelt war. Auch davon erfährt man nichts in Bloodlands.
Die extreme Rechte hat in Polen wie in ganz Osteuropa versucht, diese antijüdische Gewalt zu leugnen oder gar zu rechtfertigen durch den Verweis auf die angebliche „Kollaboration“ der Juden mit dem sowjetischen Staat. Wenn Snyder von einer „doppelten Besetzung“ Polens durch das „Sowjetregime“ und die Nazis spricht und immer wieder in schwer erträglicher Weise Zahlen über Juden anführt, die angeblich im sowjetischen Geheimdienst arbeiteten, muss das zumindest als ein deutliches Zugeständnis an diese Kräfte gewertet werden.
Der Rezensentin ist auch nicht entgangen, dass Snyder der jüdischen Polizei in den Ghettos, die sich seiner Meinung nach das „Gewaltmonopol“ (S. 272) mit den Deutschen teilte, viel Raum widmet. Das „unbedeutende Detail“, dass diese jüdischen Polizisten, im Gegensatz zu den lokalen, kollaborierenden Polizisten, am Ende fast alle umgebracht wurden, hielt Professor Snyder offenbar nicht für erwähnenswert. Seine Behauptung eines „Gewaltmonopols“ der jüdischen Polizei in den Ghettos steht außerdem in grellem Kontrast zu seiner Aussage, dass ukrainische und andere nationalistische Kollaborateure der Nazis im Holocaust keine politischen oder ideologischen Motive und „wenig oder keine Macht“ besaßen.
Noch eine Sache verdient Erwähnung. Im abschließenden Kapitel von Bloodlands kommt Snyder, auch hier auf unehrliche Art, auf den Antisemitismus des Stalin-Regimes zu sprechen. Die Wiederbelebung des Antisemitismus durch die stalinistische Bürokratie gehörte zu den deutlichsten und verstörendsten Anzeichen für den grundsätzlich konterrevolutionären Charakter des Stalinismus. Politisch wurzelte sie in der Rückkehr zum großrussischen Chauvinismus und der tiefen Feindschaft gegen den Internationalismus seiner revolutionären, trotzkistischen Gegner. Das bildete den Nährboden, auf dem die Politik der stalinistischen Bürokratien in der Sowjetunion und in ganz Osteuropa zur Wiederbelebung wesentlicher Elemente des alten Zerrbildes vom „jüdischen Bolschewismus“ führte, insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
Doch auch in dieser Frage tritt zwischen dem sowjetischen Staat und dem deutschen NS-Staat ein grundlegender Unterschied sehr deutlich zutage. Denn obwohl der Antisemitismus, besonders nach dem Großen Terror, von der sowjetischen Bürokratie zunehmend geschürt wurde, ist es eine historische Tatsache, dass schätzungsweise 90 Prozent der polnischen Juden, die den Holocaust überlebten – was nur etwa 10 Prozent der bis zu 3,5 Millionen Menschen umfassenden jüdischen Bevölkerung des Landes aus der Vorkriegszeit gelang –, in der Sowjetunion überlebten. Wäre die Arbeiterklasse in Europa und der Sowjetunion vor dem Krieg nicht vom Stalinismus enthauptet und wäre der Kampf der Roten Armee und der Arbeiter in ganz Europa während des Krieges nicht von der Bürokratie sabotiert worden, hätte der Holocaust mitsamt den anderen Verbrechen des Faschismus und der Zweite Weltkrieg verhindert werden können.
Wird fortgesetzt
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Um nur einige Passagen zu zitieren: „Im Frühjahr und Sommer 1940 dehnten die Deutschen ihr kleines KZ-System aus, …“. (S. 163). Später schreibt er: „Lager waren viel häufiger die Alternative als die Voraussetzung zur Ermordung... Das Bild der deutschen KZs als schlimmstes Element des Nationalsozialismus ist eine Illusion, ein dunkles Trugbild über einer unbekannten Wüste... Juden, die in KZs geschickt wurden, gehörten zu den Juden, die überlebten.“ (S. 383, 384)
Richard J. Evans, Das Dritte Reich. Band II/1 u. 2: Diktatur (dtv 34606), Deutscher Taschenbuchverlag GmbH & Co.KG, München, 2010, S. 22/23.
Ebd., S. 660.
Siehe David North, Der Mythos vom »ganz gewöhnlichen Deutschen«: Eine Besprechung von Daniel Goldhagens »Hitlers willige Vollstrecker«, in: Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert, Mehring Verlag, S. 357-383. https://www.mehring-verlag.de/library/frankfurt-school-postmodernism-politics-pseudo-left-marxist-critique/00.html
Konrad Heiden, Der Führer, New York: Carroll & Graf Verlag 1999, S. 59
Hinzuzufügen ist, dass Arad selbst auf der Seite der sowjetischen Partisanen im heutigen Litauen gekämpft hat. Wenn es nach Professor Snyder geht, hat er also einen „illegalen Krieg“ geführt. Als die litauische Regierung, die jüdische Widerstandskämpfer gegen die Nazis massiv verfolgt und die Rehabilitierung des Faschismus betreibt, versuchte, ihn wegen „Kriegsverbrechen“ anzuklagen, erklärte Arad, der nie ein Kommunist war: „Ich bin stolz darauf, dass ich gegen die deutschen Nazis und ihre litauischen Kollaborateure gekämpft habe. Dieses Schicksal hat es mir ermöglicht, gegen die Mörder meiner Familie, die Mörder meines Volkes zu kämpfen.“ Daniel Brook, Double Genocide, in: Slate, 26. Juli 2015. URL: https://slate.com/news-and-politics/2015/07/lithuania-and-nazis-the-country-wants-to-forget-its-collaborationist-past-by-accusing-jewish-partisans-of-war-crimes.html.
Zitiert in: Karel C. Berkhoff, Marco Carynnyk: The Organization of Ukrainian Nationalists and its Attitude toward Germans and Jews: Iaroslav Stets'Ko's 1941 Zhyttiepys, in: Harvard Ukrainian Studies, Vol. 23, No. 3/4 (Dezember 1999), S. 153.
Yitzhak Arad, The Holocaust in the Soviet Union, University of Nebraska Press 2009, S. 89.
John-Paul Himka, The Lviv Pogrom of 1941: The Germans, Ukrainian Nationalists, and the Carnival Crowd, in: Canadian Slavonic Papers, Vol. LIII, Nos. 2-3 - 4, Juni-September-Dezember 2011, S. 209-243. Der Aufsatz ist online verfügbar: https://www.academia.edu/3181252/The_Lviv_Pogrom_of_1941_The_Germans_Ukrainian_Nationalists_and_the_Carnival_Crowd
In Snyders Bloodlands-Bibliografie gibt es nur einen kleinen Artikel von Himka, dem führenden Experten des ukrainischen Nationalismus.
Zitiert in: Karel C. Berkhoff, Marco Carynnyk: The Organization of Ukrainian Nationalists and Its Attitude toward Germans and Jews, S. 154.
Arad, The Holocaust in the Soviet Union, S. 91.
Timothy Snyder, The Reconstruction of Nations: Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569-1999, Yale University Press 2004, S. 160, 162.
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland, 1933-1945, Bd. 8, Sowjetunion mit annektierten Gebieten II Generalkommissariat Weißruthenien und Reichskommissariat Ukraine, De Gruyter: Oldenburg 2016, S. 24.
Peter Black, Foot Soldiers of the Final Solution: The Trawniki Training Camp and Operation Reinhard, in: Holocaust and Genocide Studies, Vol. 25, no. 1 (Spring 2011), S. 1-99. Aus irgendeinem Grund hat sich Snyder auch in der englischen Neuauflage seines Buchs von 2022 entschieden, nicht diese englische Version von Blacks Aufsatz zu zitieren, sondern eine viel frühere Version, die 2004 auf Deutsch und Polnisch veröffentlicht wurde und die Black in seinem Aufsatz von 2011 erheblich überarbeitet hat. Snyders zwei Verweise in Kapitel 8 auf den deutschen Aufsatz enthalten beide Fehler.
Ebd., S. 15.
Ebd., S. 16.
Ebd.
Ebd., S. 30.
Ebd., S. 23.
Ebd., S. 37