Die folgende Rede hielt Tomas Castanheira, Führungsmitglied der Socialist Equality Group (Brasilien), am 4. Mai auf der internationalen May Day Online-Rally 2024.
Diese Veranstaltung zum Ersten Mai findet an einem Wendepunkt der weltpolitischen Krise statt. Die imperialistische Bourgeoisie hat sich voll in den Strudel des Krieges gestürzt und reißt die ganze Welt mit in die Katastrophe.
Die Entwicklung dieses Weltkriegs hat unmittelbare und brisante Auswirkungen auf Lateinamerika. Vor zwei Jahren erklärten wir auf der Maikundgebung des IKVI 2022, die sich der Ausarbeitung einer Strategie zum Kampf gegen den imperialistischen Krieg widmete:
Ein neuer Weltkrieg wird Lateinamerika zwangsläufig auf die Karte der Konflikte setzen, und zwar in einem Ausmaß, das mit den beiden vorangegangenen Kriegen nicht vergleichbar ist.
Diese Vorhersage hat sich inzwischen in einem hohen Maße konkretisiert. Die Umrisse der Kriegskarte in Lateinamerika zeichnen sich bereits ab. Im letzten Monat haben mehrere Ereignisse einen qualitativen Sprung in der US-Offensive gegen China, Russland und den Iran auf südamerikanischem Boden erkennen lassen.
General Laura Richardson, Leiterin des US-Südkommandos, hat diese militaristische Eskalation im März in einer flammenden Rede vor dem US-Kongress angekündigt. Richardson warnte, dass Russland und vor allem China „Anspruch auf die reichlich vorhandenen Lebensmittel, das Wasser und die kritischen Bodenschätze“ in Lateinamerika erheben. Sie machte deutlich, dass dies eine Herausforderung sei, die Washington nicht tolerieren werde.
Für den US-Imperialismus sind die strategischen Ressourcen in dieser Region, die von jeher als sogenannter „Hinterhof Amerikas“ gilt, sein rechtmäßiges Eigentum. Der Kampf um diese lebenswichtigen Interessen des zerfallenden amerikanischen Kapitalismus geht mit einer immer hysterischeren Propaganda gegen die „bösen Pläne“ von Washingtons „strategischen Konkurrenten“ einher. Friedliche Operationen, wie der Bau eines Handelshafens in Peru durch China, werden in betrügerischer Absicht als getarnte Militärmanöver dargestellt.
Anfang April unternahm Richardson eine wichtige Reise nach Ushuaia, der südlichsten Stadt Argentiniens, wo der faschistische Präsident Javier Milei den Bau eines gemeinsamen Marinestützpunktes mit den Vereinigten Staaten angekündigt hat.
Der geografische Punkt im Südatlantik gilt als „globaler strategischer Engpass“. Neben dem Panamakanal ist er eine unentbehrliche Route für den Transport von Gütern zwischen Südamerika und Asien.
Gleichzeitig hat die argentinische Marine ein gemeinsames Patrouillenprogramm mit der US-Küstenwache in den argentinischen Gewässern eingeweiht, angeblich zur Bekämpfung illegaler chinesischer Fischerei, die angeblich die regionale Sicherheit bedrohe. Washington hat zu diesem Zweck den Zerstörer USCGC James entsandt, was zur direkten Konfrontation zwischen den US-Streitkräften und zivilen chinesischen Schiffen führen kann.
Die abrupte Übernahme der amerikanischen Kriegsziele durch die argentinische Außenpolitik geht nicht nur auf die Entscheidung des faschistoiden Milei-Regimes zurück. Sie beruht auf objektiven Beziehungen zwischen dem lateinamerikanischen Nationalkapitalismus und dem Imperialismus.
In Brasilien, das von Lula von der vorgeblich linksgerichteten Arbeiterpartei (PT) regiert wird, ist im Militär eine wachsende kriegerische, pro-imperialistische Stimmung zu spüren. Unterstützt von der Lula-Regierung bombardieren die Streitkräfte die brasilianische Bevölkerung mit einer Kampagne zur Aufstockung des argentinischen Militärhaushalts.
Ähnlich wie Anschuldigungen der Regierung Milei hat auch der brasilianische Kommandeur der Marine wiederholt öffentlich vor der „Präsenz außerregionaler Mächte in der strategischen Umgebung Brasiliens“ gewarnt und sich dabei auf chinesische Schiffe bezogen. Das Militär betont die Notwendigkeit, in der brasilianischen Bevölkerung eine „Verteidigungsmentalität“ aufzubauen, d. h. sie auf den Krieg vorzubereiten.
In diesem Zusammenhang steht auch, dass die Vereinigten Staaten nur Stunden nach Richardsons Besuch in Argentinien am 4. April die Entsendung des nuklearen Flugzeugträgers USS George Washington für gemeinsame Militärübungen mit südamerikanischen Ländern angekündigt haben.
Militärpersonal aus Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Paraguay, Ecuador und Peru sowie aus Nato-Ländern soll an Bord des Schiffes von Professoren des US War College unterrichtet werden.
Der Flugzeugträger wird symbolisch in Brasilien, Peru und Chile ankern. Chile und Argentinien sind Teil des so genannten Lithium-Dreiecks, in dem 60 Prozent der bekannten Reserven des Minerals liegen, das für die Herstellung von Elektrofahrzeugen und modernen Waffen unerlässlich ist.
Die dritte Spitze des Dreiecks, Bolivien, verfügt über die größten Lithiumreserven der Welt; Bolivien nimmt nicht an den Übungen teil. Das Land, in dem Luis Arce von der sozialistischen Bewegung (MAS) regiert, hat Verträge mit chinesischen und russischen Konsortien unterzeichnet, um in nächster Zeit den Abbau dieses strategischen Minerals zu fördern.
An diesen Orten entwickeln sich rasch explosive geopolitische Veränderungen. Die Gefahr einer direkten militärischen Konfrontation in der Region wurde kürzlich deutlich, als der venezolanische Präsidenten Nicolás Maduro Anspruch auf die ölreiche Essequibo-Region erhob, die heute zu Guyana gehört.
Das bürgerlich-nationalistische Regime des „Chavista“ Maduro, das sich auf Venezuelas immense Ölreserven stützt, unterhält strategische Handels- und Militärbeziehungen zu China, Russland und dem Iran. Es nutzt diese als Gegengewicht zum imperialistischen Druck.
Maduros Anspruch auf Essequibo löste eine einheitliche, offensive Reaktion der imperialistischen Mächte aus. Sie besannen sich der Grundlagen ihrer alten kolonialistischen Politik, und Großbritannien schickte Kriegsschiffe in die Region, um Maduro Einhalt zu gebieten.
Die Lula-Regierung agierte als regionaler Vermittler für den Imperialismus – eine Rolle, die sie immer öfter spielt – und entsandte Militärkräfte an die brasilianische Grenze zu Venezuela.
Der historische Verlauf der Grenzen von Venezuela und Guyana beruht auf Verträgen, die der Imperialismus durchgesetzt hat, und die ihrem Wesen nach ungerecht sind. Dutzende anderer Grenzen in ganz Lateinamerika wurden auf ähnliche Weise gezogen und können zu regionalen Brennpunkten und Auslösern für einen Krieg werden.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Allerdings kann eine Neuaufteilung dieser Gebiete durch bürgerlich-nationalistische Regime wie das von Maduro – ähnlich wie Putins Invasion in der Ukraine – nicht im Geringsten einen demokratischen oder progressiven Charakter annehmen.
Die Probleme, mit denen die Menschheit konfrontiert ist – soziale Ungleichheit, Ausbruch von Kriegen, Pandemien und Naturkatastrophen – sind direkt auf die Unvereinbarkeit zwischen einer in Nationalstaaten aufgeteilten Welt und dem global integrierten Charakter der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens im 21. Jahrhundert zurückzuführen.
Lula, Chavez und die anderen Regierungen der so genannten „Rosa Welle“ verteidigten Anfangs dieses Jahrhunderts, als sie an die Macht kamen, die Möglichkeit, dass sich ihre Länder in der Region wirtschaftlich und sozial entwickeln könnten, indem eine bürgerliche Lateinamerikanische Union aufgebaut wird, die im Einklang mit dem Imperialismus steht.
Diese reaktionären Illusionen sind endgültig geplatzt. Mit ihnen wurde auch die Idee einer neuen multipolaren Ordnung, die den krisengeschüttelten US-Imperialismus verdrängt, ins Reich der Illusion verwiesen.
Lula, den die internationalen Pseudolinken als zentralen Protagonisten dieser politischen Perspektive unterstützen, steht beispielhaft für den reaktionären Charakter des „Multipolarismus“. Während er den Genozid im Gaza heuchlerisch verurteilt, sucht Lula verzweifelt nach Unterstützung durch die imperialistischen Mächte, durch Figuren, die er als Verfechter von Demokratie und Frieden anpreist. Solche Figuren sind „Genocide Joe“ Biden und Emmanuel Macrón, der die Entsendung von Nato-Truppen in die Ukraine befürwortet.
In den imperialistischen und rückständigen Ländern gibt es innerhalb des bürgerlichen Nationalstaats und seiner politischen Systeme für die Arbeiterklasse keine Alternative. Unter Bedingungen der Krise des Kapitalismus und des Krieges gehen die herrschenden Klassen in Lateinamerika allesamt gegen die Arbeiterklasse vor. Dies gilt sowohl für die faschistoiden Parteien und Militärkamarillas, die in all diesen Ländern auftauchen, als auch für die alten Vertreter der offiziellen „Linken“.
In Lateinamerika erleben Millionen Menschen zunehmende Verarmung und Arbeitsplatzvernichtung und den Abbau grundlegender sozialer Strukturen. Das bringt verheerende Epidemien, wie zum Beispiel beim Dengue-Fieber, hervor. Auch ist der Analphabetismus auf dem Vormarsch.
Doch während das politische Leben oberflächlich von der Bourgeoisie und immer stärker auch von der Reaktion beherrscht wird, geht die Arbeiterklasse politisch nach links und nimmt den Weg zur sozialistischen Revolution.
Dies ist auch dort der Fall, wo kürzlich eine ultrarechte Regierung durch Wahlen an die Macht kam. Der Aufstieg von Milei in Argentinien – das Ergebnis einer tiefgreifenden Diskreditierung des Peronismus nach Jahren kapitalistischer Anpassungen – wurde von einer explosiven Bewegung aus Streiks und Protesten begleitet, die noch andauern.
Die grundlegende Frage ist die der politischen Führung. In keinem Land ist es möglich, einen Schritt vorwärts zu machen, ohne die Arbeiterklasse auf der Grundlage einer internationalistischen Strategie und Praxis zu mobilisieren.
In Brasilien und in allen Ländern Lateinamerikas rufen wir Arbeiter und Jugendliche auf, die Socialist Equality Party auf der Grundlage des Programms und der internationalen Ausrichtung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale aufzubauen.
Wir haben keine Zeit zu verlieren.