Die Zugkatastrophe im Juni 2022 in Garmisch-Partenkirchen mit fünf Toten und 78 Verletzten „war vermeidbar“. Zu diesem Schluss kommt ein Gutachten, das die Deutsche Bahn am 1. September veröffentlicht hat. Es bestätigt die Einschätzung, die die World Socialist Web Site im Artikel „Ein tödlicher Unfall mit Ansage“ bereits damals getroffen hatte.
Am 3. Juni 2022, dem letzten Freitag vor den Pfingstferien, entgleisten alle fünf Doppelstockwagen und die Lokomotive eines Regionalzugs bei Burgrain, kurz hinter Garmisch-Partenkirchen. Vier Frauen und ein 13-jähriger Junge wurden getötet, 16 Passagiere schwer und 62 leicht verletzt. Als der Zug aus der Spur sprang, stürzten drei Waggons eine Böschung herab und verkeilten sich ineinander, so dass die Menschen teils hinausgeschleudert, teils zwischen den Trümmern eingequetscht oder unter ihnen begraben wurden.
Wie die Bahn jetzt schreibt, kommt die von ihr beauftragte Anwaltskanzlei Gleiss Lutz, Autorin des vertraulichen Abschlussberichts, „zu dem Schluss, dass der Unfall vermeidbar war“. Der grauenhafte Unfall, so die Bahn heute, war das Ergebnis davon, dass die damals zuständige Bahn-Tochter DB Netz nicht auf Erkenntnisse über schadhafte Betonschwellen reagiert hatte. Dies schließe auch „damals ressortverantwortliche Vorstandsmitglieder ein“.
Den ganzen Abschlussbericht hat die Bahn bisher nicht veröffentlicht. Schon im Juni ist jedoch ein über 100-seitiger Unfallbericht der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) erschienen, der hinreichend Licht auf die Dimensionen und Hintergründe der Katastrophe wirft.
Unmittelbarer Anlass für das Entgleisen waren demnach die Spannbeton-Schwellen, die im Kern infolge chemischer Prozesse beschädigt waren. An der Unfallstelle waren die schadhaften Schwellen in einem Linksbogen verbaut. Unter den hohen Kräften des im Bogen fahrenden Zuges verschoben sich die kaputten Schwellen, so dass sich die Spur erweiterte. Alle Wagen entgleisten, und einer kollidierte mit einem Oberleitungsmast, so dass die Seitenwand aufgerissen wurde.
Das Gleis wurde auf 700 Meter total zerstört, und insgesamt drei Oberleitungsmasten wurden weggerissen. Lok und Waggons waren anschließend so stark beschädigt, dass sie verschrottet werden mussten, was zeigt, welche Kräfte sich hier ausgewirkt hatten. Die Strecke war anschließend mehrere Monate nicht befahrbar.
Der schlechte Zustand der Schwellen war lange bekannt, und es gab zahlreiche Alarmmeldungen. Im Untersuchungsbericht der BEU ist ein „Meldeblatt für Fehler an Spannbetonschwellen“ aus dem Jahr 2020 für genau diesen Gleisbereich abgebildet. Am 26. August 2021 fand erneut eine Sonderinspektion statt, die an der späteren Unfallstelle schadhafte Schwellen feststellte. Am 30. September 2021 hatte außerdem ein Bezirksleiter des Konstruktiven Ingenieurbaus die Strecke abgeschritten und in eigenen Aufzeichnungen mehrere Betonschwellen im Unfallbereich bezeichnet, die „bereits besonders stark geschädigt sind und unbedingt mit ausgewechselt werden sollen“.
Zuletzt hatte sich in der Nacht vor dem Unfall ein Triebfahrzeugführer (Lokführer) beim Fahrdienstleister gemeldet und gewarnt, dass exakt an der Stelle des späteren Unfalls mit dem Gleis etwas nicht in Ordnung sei. Konkret wies er auf einen „Gleislagefehler“ oder ein mangelhaft gestopftes Schotterbett hin. Das Protokoll verzeichnet folgende Meldung im bayrischen Dialekt:
Zwischen Farchant und Garmisch, Kilometer 97,7 bis 97,6, des is a Kurvenüberhöhung, da is‘ irgendwo a so a Schlenker da drin, asso da macht der Zug …, da hupft der Zug richtig, also irgendwie muss da ma‘ einer schaun ob da vielleicht a Gleislagefehler is‘ oder nicht g‘scheit gstopft is‘.
Spätestens diese Warnung, dass der Zug an der Stelle „hupft“ und einen „Schlenker“ macht, hätte sofort zum Handeln führen müssen. Bis zur Feststellung der Ursachen hätten Züge die Stelle höchstens noch im Schritttempo passieren dürfen, wenn nicht sogar das Gleis bis zur Prüfung durch eine Fachkraft ganz gesperrt hätte werden müssen.
Aber die Meldung wurde nicht ernst genommen. Trotz der jahrelangen Schadensmeldungen löste auch die Warnung des Zugführers keinen Alarm aus: Sie wurde nicht einmal weitergeleitet. Im zuständigen Kontrollbereich waren nachts aus Personalmangel zwei Streckenabschnitte auf einen zusammengelegt, und der Fahrdienstleiter, bei dem die Meldung einging, war dort allein für alles zuständig.
So sind die wirklichen Gründe nicht allein, wie die Bahn behauptet, „beim betrieblichen Personal“ und „den zuständigen Vorstandsmitgliedern“ zu suchen. Sie liegen im „unternehmerischen“ (kapitalistischen) Druck, der bei anhaltendem Personalmangel auf den Mitarbeitern lastet.
Auch das geht aus dem BEU-Bericht klar hervor, auch wenn der Bericht den eigentlichen Grund – das Profitsystem und die Sparorgie infolge der Krisen- und Kriegspolitik – nicht ausdrücklich beim Namen nennt. Immerhin erwähnt er „ein unternehmerisches Interesse des Fdl [Fahrdienstleiters] zur Aufrechterhaltung des Betriebes“ und stellt fest: „Die Zielsetzungen an einen Alv [Anlagenverantwortlichen] lagen darin, möglichst wenig Langsamfahrstellen oder Streckensperrungen einzurichten.“ Das habe zwangsläufig „zu einem permanenten Interessenkonflikt und damit zu einem hohen Druck auf die Mitarbeiter“ geführt.
Die für das Schienennetz zuständige DB-Netz, eine hundertprozentige Tochter der Bahn AG, wurde für einen (schließlich gescheiterten) Börsengang jahrelang umgebaut, Ressourcen wurden verknappt und Arbeitsstellen weggespart. Ende 2023 ging die DB Netz in die DB InfraGo über, doch der erwähnte „permanente Interessenkonflikt“ wurde in keiner Weise beigelegt.
Der Vorstandsvorsitzende von DB InfraGo, Philipp Nagl, hat „umfassende Konsequenzen“ aus dem Unfall von Garmisch-Partenkirchen angekündigt. Sogar von Schadensersatzforderungen an ehemalige Vorstandsmitglieder ist die Rede. Ab Oktober wird es vor dem Landgericht München einen Prozess gegen zwei Bahnmitarbeiter geben, die zu Sündenböcken gestempelt werden sollen. Dies alles lenkt jedoch nur von den eigentlichen Ursachen ab, die in der mörderischen Politik bestehen, Profite über Sicherheit und Leben zu stellen.
Diese Politik hat sich seither nur verschlimmert, und sie verschärft sich weiter. Mehr und mehr stellt sich die Bahn, die noch zu 100 Prozent in Bundesbesitz ist, in den Kriegsdienst der Merz-Klingbeil-Regierung. Die neuen Prioritäten führen dazu, dass die Bahn das Gros der Ressourcen auf den Bedarf der Bundeswehr ausrichtet und sich ansonsten dem Spardruck der Regierung fügt.
Vor kurzem hat DB-Cargo-Chefin Sigrid Nikutta in einem F.A.Z.-Interview erklärt, welche zentrale Rolle die Bahn bei den Transporten von Panzern und schwerem Kriegsgerät ins ukrainische Kriegsgebiet heute schon spielt. „Das Unternehmen ist zentral für die deutsche Verteidigungsstrategie“, so Nikutta. Die Kehrseite ist die Sparorgie, die sich auch auf die zivile Infrastruktur auswirkt. So hat Verkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) eine „knallharte“ Sanierung des DB-Konzerns angekündigt. Allein bei DB Cargo werden gerade 5000 Arbeitsplätze abgebaut.
Die Folge sind akute Personalnot, notorische Verspätungen und Zugausfälle sowie eine immer größere Gefährdung der Beschäftigten und auch der Passagiere. Denn auch weiterhin kommt es zu schlimmen Zugunfällen, wie zuletzt Ende Juli die Bahnhavarie bei Riedlingen (Baden-Württemberg) mit drei Toten und 36 Verletzten. Das Problem grassiert europaweit und international, wie die Bahnkatastrophe im griechischen Tempi im März 2023 mit 57 Toten oder vor wenigen Tagen das Seilbahn-Unglück in Lissabon beweisen.
Auch die tödlichen Arbeitsunfälle im Bahnbetrieb reißen nicht ab, auch wenn sie kaum noch Erwähnung in den Medien finden. So gab es im Mai 2025 in nur vier Wochen vier tödliche Arbeitsunfälle. Und keine deutsche Behörde, auch nicht das EBU, erfasst alle Bahnunfälle systematisch.
Vor zwei Jahren hat sich als Antwort auf die von den Gewerkschaften EVG und GDL verhandelten Reallohnsenkungen das unabhängige Aktionskomitee Bahn gebildet. Dieses hat einen drastischen Arbeitsunfall bei der Bahn zum Anlass für eigene Untersuchungen genommen. Seither hat das Aktionskomitee Bahn aufgedeckt, dass es allein im letzten Jahr mindestens elf schwerste oder tödliche Arbeitsunfälle bei der Bahn gab. Im Jahr davor kam es zu mindestens zwölf (und vielleicht noch mehr) solchen Unfällen.
Das Aktionskomitee Bahn ruft dazu auf, alle Informationen unabhängig zu sammeln, damit sie der ganzen Arbeiterklasse zur Verfügung gestellt werden können. Bitte schreibt uns, wenn ihr eigene Informationen habt und am Aufbau des Aktionskomitees Bahn teilnehmen könnt! Schreibt über Whatsapp,+49-163-337-8340 und registriert euch über das untenstehende Formular!