Der Staatsbesuch des deutschen Bundeskanzlers Friedrich Merz (CDU) am 30. Oktober in der Türkei demonstrierte einmal mehr die Aggressivität, mit der Berlin seine imperialistischen Interessen verfolgt. Merz vertiefte die Zusammenarbeit mit dem autoritären Regime Erdogans, um die Aufrüstung voranzutreiben, geopolitischen Einfluss im Nahen Osten und der Schwarzmeer-Region geltend zu machen und Flüchtlinge aus Europa fernzuhalten.
Sieht man von wenigen, verhaltenen und unverbindlichen diplomatischen Floskeln ab, vermied der deutsche Kanzler Kritik an der brutalen Verfolgung der türkischen Opposition fast vollständig. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (AKP) verwandelt die Türkei in eine Präsidialdiktatur und verfolgt eine neoosmanische Regionalmachtpolitik. Das steht einer verstärkten Zusammenarbeit mit Deutschland, der EU und der Nato nicht im Wege.
Laut einem Bericht von TRT World sagte Merz, dass die Welt in „eine neue geopolitische Phase eingetreten ist, in der die Großmächte die Weltpolitik prägen werden“. Er fügte hinzu: „Als Deutsche und Europäer müssen wir strategische Partnerschaften vertiefen, und die Türkei darf dabei nicht ausgeschlossen werden. Die Türkei ist ein sehr wichtiger Akteur in allen außen- und sicherheitspolitischen Fragen, die uns betreffen.“
Ein zentrales Thema war die Vertiefung der Zusammenarbeit in der Verteidigungsindustrie. Vor dem Besuch hatte Deutschland seinen langjährigen Widerstand gegen den Verkauf von 20 Eurofighter-Typhoon-Kampfjets an die Türkei aufgegeben. Die Türkei und Großbritannien hatten im Juli einen Vorvertrag über den Kauf von Eurofighter-Kampfflugzeugen abgeschlossen, die von einem Konsortium aus Großbritannien, Deutschland, Italien und Spanien unter der Führung des britischen Unternehmens BAE Systems hergestellt werden.
Merz stellte dies ausdrücklich in den Zusammenhang mit dem Krieg gegen Russland: „Russlands militanter Revisionismus gefährdet die euro-atlantische Sicherheit insgesamt. … In diesem Zusammenhang begrüßt die deutsche Regierung ausdrücklich die Entscheidung der Türkei, 20 Eurofighter-Kampfflugzeuge zu beschaffen“, sagte er nach Gesprächen mit Präsident Erdogan in Ankara.
Zudem gibt es Berichte über deutsche Unterstützung für eine türkische Beteiligung an der europäischen Verteidigungsinitiative SAFE (Security Action for Europe), einem 150-Milliarden-Euro-Programm zur Stärkung der militärischen Fähigkeiten des Kontinents. Griechenland soll das bislang blockieren. Die Türkei betonte ihrerseits ihre „starken Fähigkeiten und Kapazitäten“ in der Rüstungsindustrie, unter anderem mit den Bayraktar-Drohnen.
Der Plan „Verteidigungsbereitschaft 2030“ der EU-Kommission, zu dem auch SAFE gehört, zielt darauf ab, die Auftragsvergabe zu beschleunigen, die Lieferketten zu sichern und die Produktion anzukurbeln, indem die Mitgliedstaaten dazu angehalten werden, die Beschaffung bestimmter, als vorrangig angesehener militärischer Fähigkeiten zu bündeln.
Die WSWS hat den Plan der EU so charakterisiert: „Ziel ist es, Europa in ein einziges Schlachtfeld zu verwandeln – eine integrierte logistische Zone, in der sich Truppen und Panzer von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer frei bewegen können.“ Darin soll auch die Türkei einbezogen werden, geht es nach Merz und Erdogan.
Bislang hat die Türkei allerdings im Ukrainekrieg versucht, zwischen Russland und der Nato, der sie selbst angehört, und deren Verbündeten Ukraine zu manövrieren.
Die Türkei hat die russische Invasion von Anfang an verurteilt, unterstützt offiziell die „territoriale Integrität“ der Ukraine und hat Kiew militärisch geholfen, insbesondere durch die Lieferung von Bayraktar-Drohnen und die Schließung des Bosporus für russische Kriegsschiffe.
Gleichzeitig hat sich die Türkei den westlichen Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen. Sie ist wirtschaftlich, insbesondere im Energie- und Tourismussektor, stark von Russland abhängig und pflegt nach wie vor einen Dialog mit dem Kreml.
Das hinderte Erdogan nicht daran, den türkischen Einfluss im Kaukasus auf Kosten Russlands voranzutreiben. Er verstärkte seine Allianz mit dem verbündeten Aserbaidschan und half dem Land, das überwiegend von Armeniern bewohnte, aber völkerrechtlich als Teil Aserbaidschans geltende Gebiet Bergkarabach militärisch von Armenien zurückzuerobern, ohne dass in der Region stationierte russische Friedenstruppen eingriffen. Armenien war lange Zeit ein Verbündeter Russlands und Irans gewesen. Die aserbaidschanische Kontrolle über Berg Karabachs wurde in einem in Washington unterzeichneten Abkommen zwischen Aserbaidschan und Armenien diplomatisch besiegelt.
Der deutsche Außenminister Johann Wadephul (CDU) begrüßte die Einigung als Beginn eines „neuen Kapitels“. Ende Oktober 2025, kurz vor dem Merz-Besuch in Ankara, vereinbarten Deutschland und Armenien eine Ausweitung ihrer Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich. Dabei lag Medienberichten zufolge ein Schwerpunkt auf der „Weiterentwicklung der Zusammenarbeit in multilateralen Rahmenwerken innerhalb der Nato und der Europäischen Union“. Damit soll der Südkaukasus dem Einfluss Russlands entzogen werden.
Wegen ihrer Beziehungen zu beiden Kriegsparteien im Ukrainekrieg konnte sich die Türkei als Vermittler positionieren. Dies führte zu diplomatischen Ergebnissen, wie einem Getreideabkommen und dem mehrfachen Austausch von Gefangenen. Ankara bietet sich weiterhin als Gastgeber für Friedensverhandlungen an, zuletzt wieder Ende Oktober 2025.
Neben dem Südkaukasus hat die Türkei noch in weiteren Konflikten eine wichtige Rolle gespielt, westliche Interessen durchzusetzen.
In Syrien gehörte die Türkei zu den wichtigsten Unterstützern der jihadistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS), dem mehrfach umbenannten syrischen Ableger von al-Qaida unter Führung von Abu Muhammad al-Golani (heute Ahmed al-Scharaa), die das mit Russland und Iran verbündete Regime von Baschar al-Assad stürzte. Seitdem hat es das HTS-Regime praktisch geduldet, dass Israel Teile von Syrien besetzt und bombardiert hat. Währenddessen werden religiöse Minderheiten wie die Alawiten von HTS brutal verfolgt.
Die USA sehen im HTS-Regime vor allem ein Gegengewicht zu China und Iran in dem Land und wären womöglich bereit, der Türkei und Israel die Vorherrschaft in Syrien zu überlassen.
Merz übte keinerlei Kritik an der Unterstützung Erdogans für den al-Qaida-Ableger HTS und al-Golani/Al-Sharaa, der noch vor einem Jahr auch im Westen als „Terrorist“ gegolten hatte. Im Gegenteil, während Merz Erdogan traf, besuchte sein Außenminister Wadephul den nicht gewählten syrischen „Präsidenten“ al-Golani in Damaskus.
Merz braucht Erdogan auch, um mehr Flüchtlinge aus Deutschland abzuschieben. Er forderte die Türkei direkt auf, mehr abgelehnte Asylbewerber aus Deutschland zurückzunehmen. Unter den ausreisepflichtigen Personen in Deutschland befinden sich auch zahlreiche türkischer Staatsbürger und die EU bezahlt der Türkei Milliarden dafür, dass sie Flüchtlinge an der Weiterreise nach Europa hindert.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Auch nach Syrien soll es trotz Krieg, Besatzung und HTS-Terror wieder mehr Abschiebungen geben. Deutsche Regierungssprecher nannten dies ausdrücklich als relevanten Punkt für die Beziehungen zur Türkei. Merz bezeichnete Migration explizit als einen Bereich, in dem die Zusammenarbeit ausgebaut werden soll. Erdogans Regierung soll also eine größere Rolle bei der brutalen deutschen und europäischen Flüchtlingsabwehr spielen.
Weiter dankte Merz Ankara ausdrücklich für seine Rolle bei der Herbeiführung des sogenannten Friedensabkommens in Gaza. Er betonte, dass der Prozess „ohne die Türkei, Katar, Ägypten und die USA nicht möglich gewesen wäre“. Das Abkommen bedeutet, dass israelische Truppen über die Hälfte des Gazastreifens inklusive aller Grenzübergänge weiterhin kontrollieren und jeden Tag Palästinenser ermorden, während sie Hilfslieferungen nach Gaza weiter massiv behindern. Nur einen Tag bevor Merz nach Ankara reiste, hatte Israel an einem Tag über 100 Palästinenser getötet.
Merz verurteilte Israels fortgesetzten offenen Bruch des angeblichen Waffenstillstands mit keiner Silbe. Er betonte im Gegenteil ausdrücklich, dass Deutschland voll auf der Seite Israels stehe. Er wiederholte die längst diskreditierte Propagandalüge: „Es gab nur eine Entscheidung, die unzählige unnötige Opfer hätte verhindern können. Die Hamas hätte die Geiseln früher freilassen und ihre Waffen niederlegen sollen. Dieser Krieg wäre sofort beendet gewesen.“
Erdogan, der seit langem gute Beziehungen zur Hamas unterhält, widersprach Merz und verurteilte Israels Genozid in Gaza, rief aber dennoch zur Zusammenarbeit auf. Deutschland und die Türkei könnten zusammenarbeiten, um den Krieg in Gaza zu stoppen. Das Deutsche Rote Kreuz und der Türkische Rote Halbmond müssten umgehend handeln.
Doch Erdogans Kritik an Israel ist Augenwischerei. Wie die türkischen Trotzkisten der Sosyalist Eşitlik Partisi (Sozialistische Gleichheitspartei) erklärten: „Das Öl aus Aserbaidschan, das die israelische Kriegsmaschinerie am Laufen hält, wird durch die Türkei geleitet, und die Regierung profitiert von diesem Handel. Die Türkei treibt nicht nur weiterhin Handel mit Israel, sondern die US- und Nato-Militärstützpunkte in der Türkei liefern Israel die logistische und geheimdienstliche Unterstützung für seinen Völkermord und Krieg.“
Erdogan hat sich daran beteiligt, die Hamas unter Druck zu setzen, das betrügerische „Friedensabkommen“ zu akzeptieren und die Palästinenser damit ihren Schlächtern auszuliefern. Deshalb wurde er von Merz gelobt, der Israel bescheinigt hat, es mache „die Drecksarbeit“ für den Westen. Der in bürgerlichen Medien hervorgehobene „Schlagabtausch“ zwischen Merz und Erdogan dient vor allem der innenpolitischen Propaganda in Deutschland und der Türkei.
Im Vorfeld des Besuchs hatten Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch (HRW) und die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) an Merz appelliert, die Menschenrechtsverletzungen, die Verfolgung von Kurden und die Inhaftierung politischer Gefangener offen anzusprechen. Insbesondere wurde der Fall des inhaftierten Istanbuler Bürgermeisters und Präsidentschaftskandidaten der größten Oppositionspartei CHP, Ekrem İmamoğlu, genannt, gegen den kurz vor dem Besuch neue Spionagevorwürfe erhoben wurden.
Merz verzichtete darauf, den Fall İmamoğlu oder andere spezifische Menschenrechtsverletzungen direkt anzusprechen. Auch nachdem er direkt darauf angesprochen wurde, beschränkte er sich auf allgemeine Floskeln: „Es sind Entscheidungen in der Türkei getroffen worden, die aus europäischer Sicht noch nicht den Anforderungen an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie entsprechen”. Dies gelte auch in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz. Man wolle das weiter diskutieren.
Milder und unverbindlicher kann man Kritik daran, dass ein Oppositionsführer als Landesverräter ins Gefängnis geworfen wird, nicht formulieren. Merz traf während seines Besuchs keine Vertreter der türkischen Opposition, was als klares Signal gewertet wurde, die Regierung Erdoğan nicht zu verärgern.
