8. Dezember 1923
Liebe Genossen!
Ich hatte fest damit gerechnet, ich würde rechtzeitig imstande sein, an der Erörterung der innerparteilichen Situation und der neuen Aufgaben teilzunehmen. Aber die Erkrankung kam diesmal ungelegener denn je und erwies sich als langwieriger, als die Ärzte ursprünglich angenommen hatten. Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Gedanken in diesem Brief zu formulieren.
Die Resolution des Politbüros zur Frage des Parteiaufbaus ist von außerordentlicher Bedeutung. Sie bedeutet, dass die Partei an einer entscheidenden Wende ihres historischen Weges angelangt ist. An Wendepunkten muss man, wie auf vielen Versammlungen richtig gesagt worden ist, vorsichtig sein, aber neben Vorsicht braucht man auch Kühnheit und Entschlossenheit. An Wendepunkten abzuwarten und Unentschlossenheit zu zeigen, wäre höchst unvorsichtig.
Einige konservativ gestimmte Genossen, die dazu neigen, die Rolle des Apparats zu überschätzen und die Selbsttätigkeit der Partei zu unterschätzen, äußern sich kritisch zur Resolution des Politbüros. Sie sagen: Das ZK nimmt unerfüllbare Verpflichtungen auf sich; die Resolution wird nur Illusionen wecken und zu negativen Resultaten führen. Es ist klar, dass aus einer solchen Einstellung nur das bürokratische Misstrauen gegenüber der Partei spricht. Der neue Kurs, der in der Resolution des ZK proklamiert wird, ist gerade dadurch charakterisiert, dass der Hauptakzent, der beim alten Kurs fälschlich auf den Apparat gelegt wurde, jetzt auf die Aktivität, die kritische Selbsttätigkeit, die Selbstverwaltung der Partei als der organisierten Avantgarde des Proletariats verlagert werden muss. Der neue Kurs bedeutet keineswegs, dass der Parteiapparat die Aufgabe erhält, innerhalb einer bestimmten Frist die [Partei-] Demokratie zu dekretieren, zu schaffen oder herzustellen. Nein. Diese Demokratie kann nur die Partei selbst verwirklichen. Man kann die Aufgabe kurz so formulieren: Die Partei muss sich ihren Apparat unterordnen, ohne auch nur eine Minute lang aufzuhören, eine zentralisierte Organisation zu sein.
In Diskussionen und Artikeln wurde in letzter Zeit sehr häufig darauf hingewiesen, dass eine »reine«, eine »entwickelte« oder »ideale« Demokratie nicht zu verwirklichen sei und dass Demokratie für uns überhaupt keinen Selbstzweck darstelle. Das ist ganz unbestreitbar. Aber mit genau dem gleichen Recht und aus dem gleichen Grund kann man sagen, dass ein reiner oder absoluter Zentralismus nicht zu verwirklichen ist und mit der Natur einer Massenpartei unvereinbar ist, dass weder Zentralismus noch Parteiapparat jemals Selbstzweck sind. Demokratie und Zentralismus sind zwei Seiten des Aufbaus der Partei. Die Aufgabe besteht darin, diese beiden Seiten möglichst gut ins Gleichgewicht zu bringen, auf einem Weg, der den Umständen am besten entspricht. In der letzten Periode hat dieses Gleichgewicht nicht bestanden. Das Schwergewicht wurde zu Unrecht auf den Apparat verlagert. Die Eigeninitiative der Partei war auf ein Minimum reduziert. Dies führte zu Gewohnheiten und Methoden der Leitung, die dem Geist einer revolutionären Partei des Proletariats zutiefst widersprechen. Die übermäßige Verstärkung des Zentralismus des Apparats auf Kosten der Selbsttätigkeit der Partei führte in der Partei zu einem Gefühl des Unbehagens. Es nahm am äußersten Flügel eine ausgesprochen negative Form an und führte schließlich zur Entstehung illegaler Gruppierungen in der Partei unter Führung von Kräften, die dem Kommunismus eindeutig feindlich gegenüberstanden. Zur gleichen Zeit wurde die ganze Partei kritischer gegenüber den Apparat-Methoden bei der Lösung von Problemen. Der Gedanke oder zumindest das Gefühl, dass der Parteibürokratismus die Partei in eine Sackgasse zu führen droht, hat sich allgemein verbreitet. Warnende Stimmen wurden laut. Der erste offizielle und höchst wichtige Ausdruck der Wende, die in der Partei stattgefunden hat, ist die Resolution über den neuen Kurs. Sie wird in dem Maße verwirklicht werden, wie die Partei, das heißt ihre 400.000 Mitglieder, das wünschen und können.
In einer Reihe von Artikeln wird immer wieder der Gedanke vorgebracht, das entscheidende Mittel zur Belebung der Partei sei die Anhebung des kulturellen Niveaus ihrer einfachen Mitglieder. Alles Übrige, d. h. die Arbeiterdemokratie, werde sich dann ganz von allein entwickeln. Dass wir das intellektuelle und kulturelle Niveau unserer Partei angesichts der vor ihr stehenden gigantischen Aufgaben heben müssen, ist ganz unstrittig; aber gerade deshalb ist eine rein pädagogische, schulmeisterliche Fragestellung völlig ungenügend und falsch. Wenn man sich darauf versteift, kann das nur zu einer Verschärfung der Krise führen. Die Partei kann ihr Niveau als Partei nur heben, wenn sie voll und ganz ihre Hauptaufgabe erfüllt – die kollektive, initiativereiche Führung der Arbeiterklasse und des Staats der Arbeiterklasse. Das Problem ist kein pädagogisches, sondern ein politisches. Man darf sich die Sache nicht so vorstellen, als hänge die Parteidemokratie vom Grad der entsprechenden »Vorbereitung« der Parteimitglieder ab (und wer sollte die wohl leisten?). Die Partei ist die Partei. Sehr hohe Anforderungen können an jeden gestellt werden, der in unsere Partei eintreten und in ihr bleiben will; aber wer eintritt, wird dadurch schon zum aktiven Teilnehmer an der gesamten Arbeit der Partei.
Der Bürokratismus tötet die Selbsttätigkeit und behindert dadurch eine Anhebung des allgemeinen Niveaus der Partei. Darin liegt seine Hauptschuld. Da sich der Parteiapparat unvermeidlich aus den erfahreneren und verdienteren Genossen zusammensetzt, wirkt sich der Bürokratismus des Apparats am schlimmsten auf das geistig-politische Wachstum der jungen Parteigenerationen aus. Gerade daraus erklärt sich die Tatsache, dass die Jugend – das zuverlässigste Barometer der Partei – am schärfsten auf den Parteibürokratismus reagiert.
Es wäre jedoch falsch zu glauben, das Übermaß der Apparat-Methoden bei der Lösung der Parteifragen ginge an der älteren Generation spurlos vorbei, die die politischen Erfahrungen der Partei und ihre revolutionären Traditionen in sich verkörpert. Nein, die Gefahr ist auch hier sehr groß. Es ist nicht nötig, über die – nicht nur im russischen, sondern auch im internationalen Maßstab – ungeheure Bedeutung der alten Generation in unserer Partei zu sprechen, die allgemein bekannt und anerkannt ist. Doch wäre es ein grober Fehler, diese ihre Bedeutung für eine Tatsache an sich zu halten. Nur die ständige Zusammenarbeit der alten Generation mit der jungen im Rahmen der Parteidemokratie kann die alte Garde als einen revolutionären Faktor erhalten. Andernfalls können die Alten verknöchern und, ohne es selbst zu merken, zum vollkommensten Ausdruck des Bürokratismus des Apparats werden.
Die Entartung einer »Alten Garde« konnte man in der Geschichte schon wiederholt beobachten. Nehmen wir das neueste und deutlichste historische Beispiel: die Führer und Parteien der II. Internationale. Wir wissen, dass Wilhelm Liebknecht, [August] Bebel, [Paul] Singer, Victor Adler, [Karl] Kautsky, [Eduard] Bernstein, [Paul] Lafargue, [Jules] Guesde und viele andere direkte, unmittelbare Schüler von Marx und Engels waren. Aber wir wissen auch, dass alle diese Führer unter dem Eindruck von parlamentarisch verwirklichten Reformen und unter dem Einfluss eines verselbständigt wachsenden Partei- und Gewerkschaftsapparats einer opportunistischen Degeneration unterlagen – einige gänzlich, andere partiell. Wir sahen – besonders deutlich am Vorabend des imperialistischen Krieges –, wie der mächtige sozialdemokratische Apparat, gedeckt durch die Autorität der alten Generation, zum größten Hindernis der revolutionären Entwicklung wurde. Und wir müssen sagen – gerade wir, die »Alten« –, dass unsere Generation, die natürlich eine führende Rolle in der Partei spielt, per se keine vollständige Garantie gegen eine allmähliche und unmerkliche Abschwächung des proletarischen und revolutionären Geistes bietet – wenn sie zulässt, dass die Partei ein weiteres Wachstum und eine Verfestigung der bürokratischen Apparat-Methoden in der Politik duldet, die die junge Generation in ein passives Material der Erziehung verwandeln und unvermeidlich zu einer Entfremdung zwischen Apparat und Masse, zwischen Alten und Jungen führen. Gegen diese unzweifelhafte Gefahr gibt es kein anderes Mittel als eine ernsthafte, tiefgreifende, radikale Kurswende in Richtung auf Parteidemokratie, die von einer immer umfangreicheren Einbeziehung von Proletariern, die an der Werkbank verbleiben, in die Partei begleitet wird.
Ich werde mich hier nicht bei diesen oder jenen im Statut fixierten Bestimmungen der Parteidemokratie und bei deren juristischen Beschränkungen aufhalten. So wichtig diese Fragen sind, es bleiben doch Fragen zweiten Ranges. Wir werden sie anhand der praktischen Erfahrungen erörtern und werden ändern, was nötig ist. Aber vor allem muss man den Geist ändern, der in den Organisationen herrscht. Die Partei, alle ihre Zellen und Gliederungen, müssen die kollektive Initiative wiedererlangen, das Recht auf freie kameradschaftliche Kritik – ohne Vorsicht und ohne Reue –, das Recht auf organisatorische Selbstbestimmung. Der Parteiapparat muss unbedingt belebt und erneuert werden, indem man ihn fühlen lässt, dass er der ausführende Mechanismus eines großen Kollektivs ist.
In der Parteipresse der letzten Zeit wurden nicht wenige Beispiele veröffentlicht, die die weit fortgeschrittene bürokratische Entartung der Parteisitten und ‑beziehungen charakterisieren. Als Antwort auf ein kritisches Votum hieß es: »Zeigen Sie Ihr Parteibuch!« Bis zur Veröffentlichung des ZK-Beschlusses über den neuen Kurs erachteten die verbürokratisierten Vertreter des Apparats schon den bloßen Hinweis auf die Notwendigkeit von Veränderungen der innerparteilichen Politik als Häresie, Fraktionstätigkeit und Disziplinbruch. Jetzt sind auch sie formal bereit, den neuen Kurs »zur Kenntnis zu nehmen«, d. h. ihn bürokratisch zunichte zu machen. Die Erneuerung des Parteiapparats muss – natürlich im klar abgesteckten Rahmen des Parteistatuts – mit dem Ziel durchgeführt werden, die verknöcherten und verbürokratisierten Elemente durch frische zu ersetzen, die eng mit dem Leben des Kollektivs verbunden sind oder imstande sind, eine solche Verbindung herzustellen. Vor allem sind aber jene Elemente von Partei-Positionen zu entfernen, die beim Lautwerden von Kritik, bei Erwiderung und Protest dazu neigen, das Parteibuch zu verlangen, um Repression auszuüben. Der neue Kurs muss damit anfangen, dass im Apparat alle – von unten bis oben – fühlen, dass niemand die Partei terrorisieren darf.
Es reicht in keiner Weise aus, wenn die Jugend unsere Formeln wiederholt. Die Jugend muss sich die revolutionären Losungen im Kampf zu eigen machen, sie müssen ihr in Fleisch und Blut übergehen, sie muss sich ihre eigene Meinung, ihr eigenes Gesicht schaffen und in der Lage sein, für die eigene Auffassung mit jenem Mut zu kämpfen, der in einer tiefen Überzeugung und in einer inneren Unabhängigkeit wurzelt. Hinaus aus der Partei mit dem passiven Gehorsam, der mechanischen Ausrichtung auf die Vorgesetzten, mit dem bürokratischen Verhalten, der Liebedienerei, dem Karrierismus! Der Bolschewik ist nicht nur ein Mensch der Disziplin, nein, er ist ein Mensch, der gründlich nachdenkt, sich zu jeder Frage eine feste Meinung erarbeitet und diese mutig und unabhängig nicht nur im Kampf gegen die Feinde, sondern auch innerhalb der eigenen Organisation verteidigt. Heute ist er in seiner Organisation in der Minderheit. Er ordnet sich unter, denn es ist seine Partei. Aber das bedeutet natürlich nicht immer, dass er Unrecht hätte. Vielleicht hat er nur früher als andere eine neue Aufgabe gesehen oder die Notwendigkeit einer Wende erkannt. Beharrlich wird er die Frage ein zweites, ein drittes, ein zehntes Mal aufwerfen. So erweist er der Partei einen Dienst, indem er ihr hilft, der neuen Aufgabe wohlgerüstet zu begegnen oder die erforderliche Wendung ohne organisatorische Erschütterungen und fraktionelle Konvulsionen zu vollziehen.
Ja, unsere Partei könnte ihre historische Mission nicht erfüllen, wenn sie in fraktionelle Gliederungen zerfiele. Das darf nicht geschehen und das wird nicht geschehen. Das wird die gesamte Partei als selbsttätiges Kollektiv verhindern. Aber die Partei kann die Gefahr von Fraktionsbildungen nur dann erfolgreich bekämpfen, wenn sie den Kurs auf die Arbeiterdemokratie entwickelt, stärkt und konsolidiert. Gerade der Apparat-Bürokratismus ist eine der wichtigsten Quellen des Fraktionismus. Er unterdrückt die Kritik und treibt die Unzufriedenheit nach innen. Er tendiert dazu, jeder individuellen oder kollektiven Kritik oder Warnung das Etikett »Fraktion« aufzukleben. Die Ergänzung des mechanischen Zentralismus ist unweigerlich der Fraktionismus – eine üble Karikatur der Parteidemokratie und eine drohende politische Gefahr.
In klarer Erkenntnis dieser Situation vollzieht die Partei die erforderliche Wende mit aller Bestimmtheit und Entschlossenheit, die das Ausmaß der vor uns stehenden Aufgaben verlangt. Die Partei wird dadurch zu einem höheren Niveau ihrer revolutionären Einheit kommen, ein Unterpfand dafür, dass sie die wirtschaftlichen und die internationalen Aufgaben, die von unermesslicher Bedeutung sind, bewältigen wird.
Ich habe die Frage keineswegs erschöpft. Bewusst habe ich darauf verzichtet, auf viele wichtige Aspekte einzugehen, um Ihnen nicht zu viel Zeit wegzunehmen. Doch ich hoffe, dass es mir gelingt, bald mit der Malaria fertig zu werden, die, wie ich denke, deutlich in Opposition zum neuen Kurs der Partei steht. Dann werde ich versuchen, in freier mündlicher Rede das zu ergänzen und zu präzisieren, was in diesem Brief offengeblieben ist.
Mit Genossengruß
L. Trotzki
PS. Da sich das Erscheinen dieses Briefes in der Prawda um zwei Tage verzögert hat, nutze ich die Gelegenheit, einige zusätzliche Bemerkungen zu machen.
Man hat mir mitgeteilt, dass einige Genossen beim Verlesen meines Briefs in den Rayon-Versammlungen die Befürchtung äußerten, meine Überlegungen hinsichtlich der Beziehungen zwischen der »Alten Garde« und den jungen Generationen könnten dazu verwandt werden, die Jugend den Alten entgegenzustellen (!). Man kann völlig sicher sein, dass solche Gedanken dem Kopf jener Genossen entsprungen sind, die sich noch vor zwei Monaten erschreckt gegen das bloße Aufwerfen der Frage nach einer eventuell erforderlichen Kursänderung wandten. Wenn man jedoch solche Befürchtungen in der augenblicklichen Lage und im gegenwärtigen Moment an die erste Stelle setzt, dann kann das nur einer falschen Einschätzung der wirklichen Gefahren und ihrer jeweiligen Bedeutung entspringen. Die gegenwärtige Stimmung der Jugend, die höchst symptomatisch ist (was jedem denkenden Parteimitglied klar ist), wird durch jene Methoden der »Windstille« erzeugt, die in der einstimmig angenommenen Resolution des Politbüros verurteilt werden. Mit anderen Worten: Gerade die »Windstille« barg in sich die Gefahr einer wachsenden Entfremdung zwischen der führenden Schicht der Partei und ihren jüngeren Mitgliedern, das heißt ihrer gewaltigen Mehrheit. Die Tendenz des Parteiapparats, für die Partei zu denken und zu entscheiden, führt in der Konsequenz zu der Neigung, die Autorität der führenden Kreise ausschließlich mit der Tradition zu begründen. Die Achtung vor der Parteitradition ist zweifellos ein sehr wichtiges Element der Partei-Erziehung und des Partei-Zusammenhalts; aber es ist ein lebendiger und stabiler Faktor nur dann, wenn die Tradition beständig selbständig und aktiv durch eine kollektive Ausarbeitung der heutigen Parteipolitik überprüft wird. Ohne eine solche Aktivität und Selbsttätigkeit kann die Achtung vor der Tradition zu bürokratischer Romantik entarten oder zu einer bloßen Schablone, zu einer Form ohne Inhalt erstarren. Man braucht nicht eigens betonen, dass ein nur dadurch gewährleisteter Zusammenhalt der Generationen äußerst unzureichend und instabil wäre. Er könnte nach außen hin stabil erscheinen, auch noch fünf Minuten, ehe er riesige Risse zeigt. Gerade darin liegt die Gefahr des Apparat-Kurses, der auf der »Windstille« in der Partei beruht. Und wenn sich die revolutionär gebliebenen, nicht verbürokratisierten Vertreter der alten Generation, d. h. nach unserer festen Überzeugung ihre übergroße Mehrheit, klar Rechenschaft von der oben charakterisierten, gefährlichen Perspektive ablegt und, auf dem Boden der Resolution des Politbüros des ZK stehend, alle Kräfte anspannt, um der Partei zu helfen, diese Resolution zu verwirklichen, dann wird die wichtigste Voraussetzung einer möglichen Konfrontation der verschiedenen Generationen in der Partei verschwinden. Auf dieser Linie wird es dann verhältnismäßig leicht sein, diesen oder jenen »Überspitzungen« oder Übertreibungen der Jugend zu begegnen. Vor allem aber müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Parteitradition nicht nur vom Apparat monopolisiert wird, sondern in der pulsierenden Erfahrung der Partei lebt und sich erneuert. Dadurch kann man auch ein anderes Risiko vermeiden: die Aufspaltung der alten Generation selbst in »Apparatschiki«, d. h. solche, die sich dazu eignen, die »Windstille« zu bewahren, und in Nicht-Apparatschiki. Es ist klar, dass der Apparat der Partei, d. h. ihr organisatorisches Rückgrat, nicht geschwächt, sondern gestärkt wird, wenn er aus der selbstgenügsamen Isolation heraustritt. Darüber, dass wir einen mächtigen zentralisierten Apparat brauchen, kann es in unserer Partei keine Meinungsverschiedenheiten geben.
Vielleicht wird man noch den Einwand machen, der in meinem Brief angeführte Hinweis auf die bürokratische Entartung der Sozialdemokratie sei unzutreffend, weil die Epochen sich grundlegend voneinander unterscheiden: Die damalige Epoche war eine stagnantreformistische, die gegenwärtige ist eine revolutionäre. Natürlich: Ein Beispiel ist nur ein Beispiel und keine Identifizierung. Allerdings besagt eine so grobe Gegenüberstellung der Epochen noch nichts. Wir haben ganz bewusst auf die Gefahren der NEP hingewiesen, die eng mit der Verzögerung der internationalen Revolution zusammenhängen. Unsere alltägliche staatlich-praktische Arbeit, die immer detaillierter und spezialisierter wird, birgt, wie es in der Resolution des ZK heißt, die Gefahr einer Horizont-Verengung, d. h. einer opportunistischen Entartung in sich. Ganz offensichtlich wird diese Gefahr umso größer, je mehr sich die Parteiführung in einen geschlossenen »Kommandostab von Sekretären« verwandelt. Wir wären schlechte Revolutionäre, hofften wir darauf, dass uns der »revolutionäre Charakter der Epoche« helfen wird, mit allen Schwierigkeiten, vor allem auch den inneren, fertigzuwerden. Denn diese »Epoche« braucht unsere tatkräftige Hilfe durch die richtige Verwirklichung des neuen Parteikurses, den das Politbüro des ZK einstimmig propagiert hat.
Noch eine Bemerkung zum Schluss. Vor zwei bis drei Monaten, als die Fragen, die Gegenstand der heutigen Diskussion sind, sozusagen erst auf die Tagesordnung der Partei kamen, neigten einige verantwortliche Genossen aus der Provinz dazu, abschätzig die Schultern zu heben: Das sind doch alles Moskauer Erfindungen, in der Provinz ist alles in Ordnung. Auch jetzt spricht diese Auffassung aus einigen Briefen aus der Provinz. Die Gegenüberstellung eines ungesunden oder aufgeregten Moskau und einer ruhigen und vernünftigen Provinz ist ein deutlicher Ausdruck des fraglichen Bürokratismus, wenn auch in einer provinziellen Version. In der Tat ist die Moskauer Organisation unserer Partei die größte, kräftigste und lebendigste. Selbst in den stickigsten Phasen der sogenannten »Windstille« (das Wort ist sehr ausdrucksvoll und muss in unsere Parteigeschichte eingehen!) gab es in der Moskauer Organisation mehr selbständiges Leben und größere Aktivität als irgendwo sonst. Wenn Moskau sich heute durch irgendetwas vor anderen Orten auszeichnet, so nur dadurch, dass es die Initiative zur Überprüfung des Parteikurses ergriffen hat. Das ist kein Manko, sondern ein Verdienst. Die ganze Partei wird, Moskau folgend, das unentbehrliche Stadium einer Umwertung gewisser Werte der hinter uns liegenden Periode durchmachen. Je weniger sich der Provinzapparat der Partei dem widersetzt, desto planmäßiger werden die Provinzorganisationen dies unvermeidliche und progressive Stadium von Kritik und Selbstkritik durchlaufen. Die Partei wird dadurch stärkeren Zusammenhalt und ein höheres Niveau politischer Kultur gewinnen.
L. Trotzki