I.
Im Laufe des letzten Jahres habe ich wiederholt — mündlich und schriftlich – mit Armeeangehörigen über jene negativen Erscheinungen, die man allgemein als verknöcherten Formalismus bezeichnen kann, diskutiert. Darüber habe ich auf dem letzten Kongress der politischen Funktionäre in Armee und Flotte recht ausführlich gesprochen. Aber die Frage ist so wichtig, dass es mir angebracht erscheint, sie auch auf den Seiten unserer allgemeinen Presse zu behandeln; dies umso mehr, als diese Krankheit sich keineswegs auf die Armee beschränkt.
Formalismus ist dem Bürokratismus sehr verwandt. Man kann sogar sagen, dass es sich dabei nur um eine seiner Erscheinungsformen handelt. Wenn Menschen der ihnen zur Gewohnheit gewordenen Form wegen aufhören, sich über den Inhalt Gedanken zu machen, wenn sie selbstzufrieden bestimmte Phrasen verwenden, ohne über deren Sinn nachzudenken, wenn sie die längst gewohnten Anordnungen treffen, ohne nach deren Zweckmäßigkeit zu fragen, und wenn sie sich auf der anderen Seite vor jedem neuen Wort, vor Kritik, Initiative, Selbständigkeit und Unabhängigkeit fürchten, dann hat sich der gefährliche verknöcherte Formalismus in ihre Beziehungen eingefressen.
Auf der Beratung der politischen Funktionäre der Armee habe ich als ein auf den ersten Blick unverfängliches Beispiel formalistischer Ideologie einige historische Skizzen unserer Militärabteilungen angeführt. Die Veröffentlichung dieser Broschüren ist zweifellos eine wertvolle Errungenschaft. Sie bezeugt, dass die Abteilungen der Roten Armee auf dem Schlachtfeld und in der Ausbildung organisatorisch und geistig zu lebendigen Organismen geworden sind, die Interesse an ihrer eigenen Geschichte zeigen. Aber ein bedeutender Teil dieser historischen Skizzen – das soll nicht verheimlicht werden – ist nach der Melodie geschrieben: »Lasst Siegesgetön erschallen!«
Ich sage es noch direkter. Einige Broschüren über unsere Abteilungen der Roten Armee erinnern direkt an die historischen Skizzen, wie sie dem seligen Andenken der [zaristischen] Garde- und Kavallerieregimenter gewidmet wurden. Sicher wird dieser Vergleich in der sozialrevolutionär-menschewistischen und überhaupt bei der weißgardistischen Presse fröhliches Gewieher auslösen. Aber wir wären untaugliche Waschlappen, würden wir auf Selbstkritik verzichten, nur aus Angst davor, dass dabei für unsere Feinde ein Almosen abfällt. Der Nutzen einer erneuernden Selbstkritik ist ungleich größer als der Schaden, der dadurch entstehen mag, dass Dan oder Tschernow unsere Aussagen wiederkäuen. Das sollten alle gläubigen (und ungläubigen) Alten zur Kenntnis nehmen, die beim ersten Ton der Selbstkritik gleich in Panik geraten (oder ihre Umgebung in Panik versetzen)!
Natürlich haben unsere Regimenter und Divisionen und mit ihnen das ganze Land das Recht, auf ihre Siege stolz zu sein. Aber es hat bei uns nicht nur Siege gegeben, und zu unseren Siegen sind wir nicht auf geradem Wege gekommen, sondern auf sehr verschlungenen Pfaden. In unserem Bürgerkrieg gab es großen Heroismus, besonders beeindruckend, weil es sich in den meisten Fällen um anonymen, kollektiven Heroismus handelte. Aber es gab auch Schwäche, Panik, Verzagtheit, Unfähigkeit und sogar Verrat. Die Geschichte jedes unserer »alten« Regimenter (vier bis fünf Jahre sind in einer Revolution schon ein hohes Alter) ist außerordentlich interessant und lehrreich, wenn sie wahrheitsgetreu und lebendig erzählt wird, d. h. möglichst so, wie sie sich auf dem Schlachtfeld oder in der Kaserne abgespielt hat. Stattdessen finden wir nicht selten eine heroische Legende, dazu eine nach bürokratischem Muster. Man liest: In unseren Reihen gab es nur Helden, alle brannten darauf, den Kampf zu beginnen, der Feind war zahlenmäßig immer überlegen, alle unsere Befehle waren immer vernünftig, ihre Ausführung war großartig usw. Wer glaubt, man könne auf solche Weise einer militärischen Einheit Mut machen und die Erziehung der Jugend günstig beeinflussen, ist schon vom Übel des Formalismus erfasst. In Wirklichkeit wird diese bürokratische Militär-Romantik im besten Fall folgenlos bleiben, das heißt, der Rotarmist wird diese »Geschichte« so lesen oder anhören, wie sein Vater den Heiligenlegenden lauschte: Dergleichen ist moralisch und prächtig, doch im Leben nicht anwendbar. Wer älter ist, selbst am Bürgerkrieg teilgenommen hat oder einfach klarer sieht, wird sich sagen: Aha, ohne Sand in die Augen zu streuen, einfach und ohne Lügen geht es also beim Militär nicht. Wer naiver ist und alles für bare Münze nimmt, wird sich sagen: » Wie kann ich Schwächling mich mit diesen Helden vergleichen?«… Folglich wird sein Mut nicht gehoben, sondern im Gegenteil: er sinkt.[1]
Die Wahrhaftigkeit in historischen Fragen ist für uns keineswegs nur von geschichtlichem Interesse. Selbst diese historischen Skizzen brauchen wir doch vor allem als ein Mittel der Erziehung. Und wenn etwa ein junger Kommandeur sich an eine solche Beimischung von konventioneller Lüge in Bezug auf die Vergangenheit gewöhnt, wird er in seiner eigenen, auch in seiner militärischen Praxis dementsprechend verfahren. Nehmen wir an, ihm sei an der Front ein Misserfolg, ein Fehler, ein Missgeschick unterlaufen – wird er darüber wahrheitsgetreu berichten? Er muss! Aber er ist im Geist des Formalismus erzogen. Er will nicht schlechter dastehen als die Helden, von denen er in der Geschichte seines Regiments gelesen hat. Oder sein Verantwortungsgefühl ist einfach abgestumpft – und so reinigt, d. h. verdreht er die Tatsachen und führt die höhere, verantwortlichere Instanz irre. Die falschen Berichte von unten müssen aber schließlich zu falschen Befehlen und Anordnungen von oben führen. Das Schlimmste und Abscheulichste ist, wenn der Kommandeur einfach Angst hat, den Vorgesetzten die Wahrheit zu berichten. Hier findet der Formalismus seinen widerwärtigsten Ausdruck: Man lügt, um es recht zu machen.
Der größte Heroismus im Militärwesen wie in der Revolution ist der Heroismus der Wahrhaftigkeit und der Verantwortung. Wir sprechen hier von Wahrhaftigkeit nicht im Hinblick auf irgendeine abstrakte Moral, der zufolge der Mensch zum Beispiel niemals lügen und seinen Nächsten betrügen soll. Solche idealistischen Prinzipien sind in einer Klassengesellschaft, in der es Interessengegensätze, Kampf und Krieg gibt, reinste Heuchelei. Vor allem das Militärwesen ist ohne List, Maskierung, Überraschung und Betrug undenkbar. Aber eine Angelegenheit ist es, bewusst und vorsätzlich den Feind im Namen eines Ziels zu betrügen, für das man sein Leben einsetzt, eine andere, aus verlogener Eigenliebe oder Bequemlichkeit, aus Liebedienerei oder einfach unter dem Einfluss eines bürokratisch-formalistischen Regimes durch Abtötung des Verantwortungsgefühls eine falsche Auskunft zu geben, die der Sache schadet: »Alles steht bestens«…
II.
Warum sprechen wir jetzt über den Formalismus? Und wie verhielt sich die Sache in den ersten Jahren der Revolution? Wir denken hier nach wie vor an die Armee, aber der Leser wird selbst die Analogien zu den anderen Gebieten unserer Praxis sehen, denn die Klasse, ihre Partei, ihr Staat und ihre Armee entwickeln sich in gewissem Maße parallel.
Unser neuer Kommandostab wurde durch Revolutionäre, Kämpfer und Partisanen ergänzt, die die Oktoberrevolution gemacht, die eine bestimmte Vergangenheit und, vor allem, einen gefestigten Charakter hatten. Das Charakteristikum dieser Kommandeure war nicht ein Mangel an Selbständigkeit, sondern eher ein Übermaß davon, richtiger, mangelndes Verständnis für die Notwendigkeit koordinierter Aktionen und einer festen Disziplin (»Partisanschtschina«[2]). Die erste Periode des militärischen Aufbaus war erfüllt vom Kampf gegen alle Arten von militärischer »Eigenwilligkeit», für die Herstellung geordneter Verhältnisse und einer festen Disziplin. Die Jahre des Bürgerkriegs waren dafür eine ernste und häufig auch raue Schule. Schließlich bildete sich bei den besten dieser revolutionären Kommandeure der ersten Periode das notwendige Gleichgewicht von persönlicher Unabhängigkeit und Disziplin heraus.
Auf ganz anderen Wegen vollzieht sich die Entwicklung unseres jungen Kommandostabs in den Jahren der Atempause. Der junge Mann tritt als künftiger Kommandeur in die Militärschule ein. Er hat weder eine revolutionäre noch eine militärische Vergangenheit. Er ist ein Neuling. Er baut schon nicht mehr, wie die alte Generation, die Rote Armee auf, sondern tritt in sie als eine fertige Organisation ein – mit einem bestimmten inneren Regime und mit bestimmten Traditionen. Hier gibt es ganz ähnliche Beziehungen wie etwa zwischen der Parteijugend und der Parteigarde. Gerade deshalb ist es so ungeheuer wichtig, wie der Jugend die Kampftradition der Armee oder die revolutionäre Tradition der Partei vermittelt werden. Ohne Kontinuität und folglich ohne Tradition ist kein sicherer Fortschritt möglich. Aber die Tradition ist kein toter Kanon und auch keine bürokratische Romanze. Tradition kann man nicht auswendig lernen, man kann sie nicht so aufnehmen wie ein Evangelium, man kann der alten Generation nicht einfach »aufs Ehrenwort« glauben, nein: Die Tradition muss durch eine tiefgreifende innere Arbeit erobert werden, man muss sie selbständig und kritisch durcharbeiten und sie sich aktiv zu eigen machen. Andernfalls ist das ganze Haus auf Sand gebaut. Ich habe schon über jene Vertreter der »Alten Garde« (gewöhnlich aus dem zweiten und dritten Glied) geschrieben, die den Jungen die Tradition nach dem Beispiel Famusows eintrichtern: »Lerne und schaue auf die Alten: wir zum Beispiel oder der selige Onkel«…[3] Weder bei diesem Onkel noch bei seinem Neffen kann man etwas Vernünftiges lernen.
Ohne Zweifel ist die Autorität unseres alten Kommandostabs, der sich um die Sache der Revolution tatsächlich unsterbliche Verdienste erworben hat, in den Augen der jungen Militärs außerordentlich groß. Das ist ausgezeichnet, denn es sichert eine unlösbare Verbindung zwischen dem oberen und unteren Kommandostab sowie mit der gesamten Masse der Rotarmisten. Aber nur unter einer notwendigen und äußerst wichtigen Bedingung: Die Autorität der Alten darf auf keinen Fall den Jungen ihre persönliche Verantwortlichkeit nehmen oder sie gar terrorisieren.
Im Militärwesen ist es leichter und verlockender als auf irgendeinem anderen Gebiet, nach der Maxime zu verfahren: »Den Mund halten und nicht nachdenken!« Aber beim Militär ist diese Maxime so verhängnisvoll wie überall sonst. Die Hauptaufgabe besteht darin, den jungen Kommandeur nicht daran zu hindern, sondern ihm im Gegenteil dabei zu helfen, sich eine eigene Meinung zu erarbeiten, den eigenen Willen und die eigene Persönlichkeit auszubilden, in der sich Wahrhaftigkeit und Unabhängigkeit mit innerer Disziplin verbinden. Der Typus des Kommandeurs und überhaupt des Menschen, der immer nur «Ja, zu Befehl« sagt, taugt zu gar nichts. Über solche Leute sagte ein alter Satiriker (Saltykow): »Sie sagten ja und wieder ja, und brachten sich um Kopf und Kragen.«[4]… Der militärische Verwaltungsapparat, d. h. die Gesamtheit der Militärbüros, kann sich mit solchen Leuten (»Jasagern«) durchaus erfolgreich halten, wenigstens zum Schein. Aber die Armee als kämpfende Massenorganisation braucht keine beamtenhaften Speichellecker, sondern moralisch standhafte Menschen, durchdrungen von einem Verantwortungsbewusstsein, das sie dazu zwingt, sich zu jeder wichtigen Frage gewissenhaft eine eigene Meinung zu bilden und sie furchtlos mit allen Mitteln zu verteidigen, die die richtig, d. h. nicht bürokratisch verstandene Disziplin und Aktionseinheit nicht verletzen.
Die Geschichte der Roten Armee ist, wie die Geschichte ihrer einzelnen Einheiten, eines der wichtigsten Mittel zur Förderung des wechselseitigen Verständnisses und einer kontinuierlichen Verbindung zwischen der alten Generation des Kommandostabs und der jungen. Deshalb sind hier bürokratische Glättung, das Auftragen von Blattgold und alle anderen Methoden vorgetäuschter, falscher und leerer Unterwürfigkeit, die keinen Pfennig wert ist, völlig unzulässig. Notwendig sind Kritik, Überprüfung der Tatsachen, selbständiges Denken, das Durcharbeiten der Vergangenheit und der Gegenwart mit dem eigenen Kopf, die Unabhängigkeit des Charakters, Verantwortungsgefühl, Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst und seiner Sache. Der Todfeind all dessen ist der Formalismus. Ihn müssen wir aus allen Ecken herauskehren, ausräuchern und ausbrennen!
Prawda, 4. Dezember 1923
Anhänger der konventionellen »erbaulichen« Lüge gibt es natürlich nicht nur beim Militär, sondern überall, sogar in der Kunst. Kritik und Selbstkritik sind für sie offenbar eine »Säure«, die den Willen zersetzt. Dass der schwerfällige Spießbürger einen verlogen-klassischen Trost braucht und keine Kritik verträgt, wissen wir schon lange. Aber zu uns, zu einer revolutionären Armee, einer revolutionären Partei, passt das ganz und gar nicht. Die Jugend muss solche Stimmungen unerbittlich bekämpfen. (L. T.)
Etwa: Partisanentum. Anspielung auf die Partisanenabteilungen, die in der Frühphase des russischen Bürgerkriegs die Hauptlast der militärischen Verteidigung der Sowjetmacht trugen, und auf die Bestrebungen innerparteilicher Widersacher Trotzkis, die Rote Armee insgesamt nach dem Muster von Partisaneneinheiten zu formieren. (Anm. Rasch und Röhring).
Zitat aus der 1824 entstandenen, klassischen russischen Verskomödie Verstand schafft Leiden (russ. Titel: Gore ot uma) von Alexander Sergejewitsch Gribojedow (1795–1829). Pawel Afanasjewitsch Famusow, ein selbstzufriedener hoher Staatsbeamter, stellt in der zweiten Szene des zweiten Aktes der Hauptfigur, dem gegen die Moskauer Gesellschaft rebellierenden jungen Adligen Alexander Andrejewitsch Tschatzkij, seinen durch Liebedienerei bei Hof zu einigem Einfluss gelangten Onkel als Vorbild hin. (In der deutschen Nachdichtung von Arthur Luther heißt es an dieser Stelle: »Die Väter waren doch von anderm Holze. Sieh dir nur meinen sel’gen Onkel an...« [Stuttgart 1978, S. 26].) (Anm. Rasch und Röhring).
Michail Jewgrafowitsch Saltykow (Pseudonym: Schtschedrin) (1826–1889) wurde durch seine 1857 veröffentlichten satirischen Aufzeichnungen aus der Provinz zu einem der populärsten Schriftsteller Russlands. Mit Nikolai Nekrassow gab er seit 1868 die den Narodniki nahestehende politisch-literarische Zeitschrift Otetschest wennyje sapiski (Vaterländische Annalen) heraus; sein Werk umfasst neben publizistischen Beiträgen satirische Erzählungen, Fabeln und Märchen sowie den 1880 erschienenen Roman Die Herren Golowljow (dt. 1885), der als eines der bedeutendsten Werke der russischen kritisch-realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts gilt.
Das Zitat stammt aus seiner Erzählung »Na sare ty jejo ne budi« in: Pompadury i pompadur schi, Sobranije sotschinenija Bd. 8, Moskau 1969, S. 94. (Eine deutsche Fassung erschien unter dem Titel »Wecke sie nicht beim Morgenrot« in: Pompadour und Pompadourin, Berlin 1954.) (Anm. Rasch und Röhring).