Diese achtteilige Serie erschien erstmals im Mai und Juni 2008 zum vierzigsten Jahrestag des Generalstreiks in Frankreich auf der WSWS. Sie analysiert die damaligen Ereignisse und zieht die politischen Lehren für heute daraus.
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Frankreich steht ab dem 20. Mai 1968 still. Zwei Drittel der Lohnabhängigen befinden sich im Generalstreik, die Universitäten sind von den Studenten besetzt. Das Schicksal de Gaulles und seiner Regierung liegt zu diesem Zeitpunkt in den Händen der Kommunistischen Partei und der von ihr kontrollierten Gewerkschaft CGT. Sie ermöglichen de Gaulle das politische Überleben und retten die Fünfte Republik. Die KPF ist 1968 noch eine beachtliche politische Kraft. Sie zählt 350.000 Mitglieder und hat 22,5 Prozent der Wähler (1967) hinter sich. Die Mitgliederzahl der CGT ist zwar seit 1948 von 4 auf 2,3 Millionen gesunken, doch in den Schlüsselsektoren der Wirtschaft ist sie weiterhin die dominierende Gewerkschaft. Ihr Generalsekretär Georges Séguy sitzt im Politbüro der KPF.
Wie wir bereits gesehen haben, reagieren KPF und CGT mit unverhohlener Feindschaft auf die Proteste der Studenten. Der berüchtigte Artikel, in dem Georges Marchais am 3. Mai die Studenten als Provokateure und gaullistische Agenten beschimpft, ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Die Humanité wird nicht müde, gegen die „Linksradikalen“ (gauchistes) zu wettern. Darunter zählt sie alle, die sich der rechten Linie der KPF widersetzen. Die CGT lehnt gemeinsame Demonstrationen von Arbeitern und Studenten ab und weist ihre Mitglieder an, Studenten, die Kontakt zu den Arbeitern aufnehmen wollen, aus den Betrieben fernzuhalten.
Die Betriebsbesetzungen und der Generalstreik haben sich gegen den Willen und außerhalb der Kontrolle der CGT entwickelt. Die Besetzung von Sud-Aviation, die zum Vorbild für alle anderen wird, kommt auf Initiative der Gewerkschaft Force Ouvrière zustande, die dort unter den niedrigsten, im Stundenlohn bezahlten Lohngruppen Einfluss hat und in Nantes von einem Trotzkisten, dem OCI-Mitglied Yves Rocton, geführt wird. Die CGT verhindert die Besetzungen zwar nicht, aber sie versucht, sie unter Kontrolle zu halten und auf rein betriebliche Forderungen zu beschränken. Sie widersetzt sich der Gründung eines Zentralen Streikkomitees ebenso wie der Zusammenarbeit mit Kräften außerhalb der Betriebe. Die Festnahme des Führungspersonals lehnt sie vehement ab.
Am 16. Mai versucht die Führung der Konkurrenzgewerkschaft CFDT, mit einer Erklärung auf die Besetzungswelle Einfluss zu nehmen. Im Gegensatz zur CGT äußert sie sich positiv über die Revolte der Studenten. Diese richte sich gegen „die verkrusteten, stickigen Klassenstrukturen einer Gesellschaft, in der sie ihre Verantwortung nicht wahrnehmen können“. Für die Betriebe gibt die CFDT die Parole der „Selbstverwaltung“ (autogestion) aus: „Die Monarchie in Industrie und Verwaltung muss durch Verwaltungsstrukturen auf der Grundlage der Selbstverwaltung ersetzt werden.“
CGT-Chef Séguy reagiert mit einem Wutanfall und greift die CFDT öffentlich an. Er lehnt jeden Versuch ab, der anwachsenden Bewegung eine gemeinsame Orientierung zu geben, und sei sie noch so beschränkt. Dabei führt auch die Forderung der CFDT, die zu dieser Zeit unter dem Einfluss des linksreformistischen PSU (Parti Socialiste Unifié) Michel Rocards steht, in eine Sackgasse. Sie stellt weder die kapitalistische Herrschaft noch die Dominanz des kapitalistischen Marktes in Frage.
Am 25. Mai eilt die CGT schließlich der bedrängten Regierung direkt zu Hilfe. Um 15 Uhr treffen sich Vertreter von Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Regierung im Arbeitsministerium an der Rue de Grenelle. Ihr Ziel: In den Betrieben so schnell wie möglich wieder Ruhe herstellen! Obwohl alle Gewerkschaften vertreten sind, werden die Verhandlungen fast ausschließlich zwischen zwei Männern geführt: Regierungschef Georges Pompidou und CGT-Chef Georges Séguy.
Séguy will eine prozentuale Lohnerhöhung, ohne – wie in vielen Betrieben gefordert – die Kluft zwischen den verschiedenen Lohnkategorien zu verringern. Außerdem soll die Stellung der Gewerkschaften gestärkt werden. In dieser Frage hat er die Rückendeckung Pompidous gegen die Unternehmerverbände. „Die Regierung ist überzeugt, dass die Einbindung der Arbeiterklasse durch Gewerkschaften, die über die notwendige Schulung und entsprechenden Einfluss verfügen, für das Gedeihen eines Betriebs von Nutzen ist“, heißt es dazu im Protokoll des Treffens.
Auf der Regierungsseite sitzt neben Georges Pompidou noch ein weiterer zukünftiger Präsident am Verhandlungstisch: Jacques Chirac. Außerdem ein zukünftiger Premierminister: Edouard Balladur. Sie alle, wie auch der jetzige Amtsinhaber Nicolas Sarkozy, haben sich an die damalige Vereinbarung gehalten und die Gewerkschaften benutzt, um die Arbeiterklasse „einzubinden“. Der Begriff „Grenelle“ ist als Synonym für Spitzengespräche zwischen Politik und Verbänden ins französische Vokabular eingegangen.
Nach knapp zwei Tagen haben sich die Verhandlungspartner geeinigt. Am frühen Montagmorgen, dem 27. Mai, unterzeichnen sie das Abkommen von Grenelle. Es sieht eine siebenprozentige Erhöhung der Löhne, die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns von 2,22 auf 3 Francs sowie die rechtliche Verankerung der Gewerkschaften in den Betrieben vor. Die CGT hat ihre ursprünglichen Forderungen nach einer gleitenden Lohnskala, voller Bezahlung der Streiktage und Rücknahme der Regierungsverordnungen zur Sozialversicherung fallen gelassen. Nachdem er erfahren hat, dass Rocards PSU, die CFTD und der Studentenverband UNEF ohne vorherige Absprache mit KPF und CGT eine Demonstration planen, drängt Séguy auf einen sofortigen Abschluss und einigt sich im frühen Morgengrauen in einem Vier-Augen-Gespräch mit Jacques Chirac.
Um 7.30 Uhr treten Séguy und Pompidou vor die Presse und verkünden das Abkommen von Grenelle. Séguy erklärt: „Die Arbeit kann ohne Verzögerung wieder aufgenommen werden.“ Er begibt sich persönlich nach Billancourt, um den Arbeitern des Renault-Werks den Abschluss schmackhaft zu machen. Doch diese betrachten das Abkommen als Provokation und denken nicht daran, sich für ein paar Francs kaufen zu lassen. Séguy wird ausgebuht und ausgepfiffen. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land, und niemand denkt daran, den Kampf abzubrechen. „Es ist der CGT nicht gelungen, die Streikenden zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen“, titelt Le Monde am folgenden Tag.
Die Frage der Macht steht im Raum
Nun erreicht die politische Krise ihren Höhepunkt. Das ganze Land befindet sich im Aufruhr. Die Regierung hat ihre Autorität eingebüßt und die CGT die Kontrolle über die Arbeiter verloren. Die Frage, wer im Land die Macht ausübt, steht offen im Raum – daran hat niemand Zweifel.
Die Sozialdemokraten, die sich bisher abwartend im Hintergrund gehalten haben, melden sich zu Wort. Da fraglich ist, ob sich de Gaulle an der Macht halten kann, treffen sie Vorbereitungen für eine alternative bürgerliche Regierung. François Mitterrand veranstaltet am 28. Mai eine Pressekonferenz, über die das Fernsehen ausführlich berichtet. Er spricht sich für eine Übergangsregierung sowie für die Neuwahl des Präsidenten aus, mit ihm selbst als Kandidaten.
Mitterrand steht an der Spitze der Föderation der demokratischen und sozialistischen Linken (FGDS), einem Bündnis liberaler und sozialdemokratischer Parteien, die sich in der Vierten Republik diskreditiert haben und über keine Massenbasis verfügen. Er war 1965 als Herausforderer de Gaulles zur Präsidentenwahl angetreten und dabei auch von der KPF unterstützt worden.
Die PSU, die CFDT und der Studentenverband UNEF setzen dagegen auf Pierre Mendès-France. Das Mitglied der Radikalsozialisten, einer rein bürgerlichen Partei, war 1936 Mitglied der Volksfrontregierung Léon Blums gewesen. Während des Krieges schloss er sich General de Gaulle an. In der Vierten Republik organisierte er als Regierungschef den Rückzug der französischen Truppen aus Vietnam und wurde deshalb von den Rechten stark angefeindet. 1968 steht er der PSU nahe.
Der KPF gilt Mendès-France wegen seiner ausgeprägten Westorientierung als Intimfeind. Als er am 27. Mai auf einer Großveranstaltung von PSU, CFDT und UNEF im Pariser Stadion Charléty gesichtet wird, läuten im Hauptquartier der KPF die Alarmglocken. Die Partei fürchtet, Mitterrand und Mendès-France könnten eine neue Regierung bilden, ohne dass sie darauf Einfluss hat.
Am 29. Mai organisieren KPF und CGT eine eigene Demonstration in Paris. Unter der Parole „Volksregierung“ marschiert eine riesige Menge von mehreren Hunderttausend durch die Hauptstadt. Die KPF denkt allerdings nicht im Traum an eine revolutionäre Machtergreifung. Mit der Forderung nach einer „Volksregierung“ kommt sie der revolutionären Stimmung in den Betrieben entgegen, ohne dass sie die Institutionen der Fünften Republik in Frage stellt. Die CGT unterstreicht die Ablehnung eines revolutionären Vorgehens, indem sie die Betonung auf eine „demokratische Veränderung des Landes“ legt.
Der Polizeipräfekt von Paris berichtet später, er habe sich damals wegen der CGT-KPF-Demonstration keine besonderen Sorgen gemacht. Er habe eine klassische, disziplinierte Gewerkschaftsdemonstration erwartet, wie sie dann auch stattgefunden habe. Die Regierung ist sich allerdings nicht sicher, ob die Organisatoren die Lage im Griff haben. Sie versetzt Fallschirmjäger der Armee in Alarmbereitschaft und lässt in Pariser Vororten vorsorglich Panzer auffahren.
Am 30. Mai trifft sich das Zentralkomitee der KPF zur Lagebesprechung. Der Tonbandmitschnitt dieses Treffens bestätigt, dass die Partei die Übernahme der Macht ablehnt und sich um den Erhalt der bestehenden Ordnung bemüht. Ein halbes Jahr später rechtfertigt eine Erklärung des Zentralkomitees diese Haltung mit den Worten: „Das Kräfteverhältnis hat es der Arbeiterklasse und ihren Verbündeten im letzten Mai nicht erlaubt, die politische Macht zu ergreifen.“
Generalsekretär Émile Waldeck-Rochet erklärt auf dem Treffen vom 30. Mai seine Bereitschaft, an einer Übergangsregierung unter François Mitterrand teilzunehmen, falls dieser der KPF genügend Einfluss einräumt. Eine solche Regierung solle drei Aufgaben erfüllen: Den Staat wieder in Gang bringen, auf berechtigte Forderungen der Streikenden reagieren und die Präsidentenwahl durchführen.
Die bevorzugte Option der KPF sind aber sofortige Parlamentswahlen. „Wir können von allgemeinen Wahlen nur profitieren“, fasst ein Sprecher die Mehrheitsmeinung zusammen.
Die Lage steht an diesem Tag auf Messers Schneide. General de Gaulle ist am Vorabend spurlos verschwunden. Er hat sich nach Baden-Baden abgesetzt, wo er sich mit General Massu, dem Befehlshaber der französischen Truppen in Deutschland berät. Massu ist berüchtigt wegen seiner Rolle im Algerienkrieg. Ob de Gaulle die Flucht plant oder lediglich Unterstützung sucht, ist bis heute umstritten. Massu behauptet später in seinen Memoiren, er habe ihm geraten, nach Paris zurückzukehren und sich mit einer Ansprache ans französische Volk zu wenden.
Am Nachmittag des 30. Mai meldet sich de Gaulle tatsächlich mit einer Radioansprache zurück. Die Republik sei in Gefahr, sagt er und gelobt, sie müsse und werde verteidigt werden. Er verkündet die Auflösung des Parlaments und setzt Neuwahlen für den 23. und 30. Juni an. Auf den Champs-Elysées demonstrieren zur selben Zeit mehrere Hunderttausend Anhänger des Generals unter den französischen Nationalfarben.
Die KPF unterstützt de Gaulles Entscheidung noch am selben Abend und stellt sie als Erfolg der eigenen Politik dar. Sie bekennt sich zum legalen Rahmen der Fünften Republik und biedert sich an die Gaullisten an, indem sie die Einheit „der roten Fahne und der dreifarbigen Fahne der Nation“ beschwört. Am 31. Mai verkündet auch CGT-Chef Georges Séguy seine Zustimmung zu den Wahlen. „Die CGT wird den geordneten Ablauf der Wahlen nicht behindern“, sagt er, was angesichts der Paralyse des Landes einem Aufruf zum Abbruch des Generalstreiks gleichkommt. „Es ist im Interesse der Arbeiter ihren Veränderungswillen zu äußern.“
Die CGT verwendet nun ihre ganze Energie darauf, die Streiks und Besetzungen noch vor dem Wahltermin zu beenden. Das gelingt ihr zwar nur mit Mühe. Aber nach und nach bröckelt die Streikfront ab, Belegschaften kehren nach dem Abschluss von Betriebsvereinbarungen an die Arbeit zurück, die militantesten Teile werden isoliert, die Polizei beginnt mit der Räumung der Universitäten. Am 16. Juni, eine Woche vor dem Wahltermin, nehmen die Arbeiter von Renault-Billancourt die Arbeit wieder auf, die Sorbonne wird am selben Tag evakuiert.
Es dauert allerdings noch Wochen, bis die letzten Streiks und Besetzungen beendet sind, und das Land kommt auch in den folgenden Monaten und Jahren nicht zur Ruhe. Doch die Gelegenheit, die politische Macht zu ergreifen, hat die Arbeiterklasse versäumt. „Die CGT hat im Mai 1968 die Konfrontation mit dem Staat absichtlich vermieden, als sich das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu entwickeln schien“, fasst Michel Dreyfus, Autor einer Geschichte der CGT, die Haltung der einflussreichsten Gewerkschaft auf dem Höhepunkt des Generalstreiks zusammen.
Die Gegenoffensive der Rechten
In den ersten Maiwochen war das rechte politische Lager völlig gelähmt und isoliert. Nun gewinnt es, dank der Hilfe von KPF und CGT, nach und nach die Initiative und sein Selbstvertrauen zurück. Mit dem Beginn des Wahlkampfs verlagert sich die Auseinandersetzung von den Straßen und Betrieben an die Wahlurne, was de Gaulle und seinen Anhängern zugutekommt. Sie sind jetzt in der Lage, die passiven und rückständigen Teile der Gesellschaft ins Spiel zu bringen, die „schweigende Mehrheit“, und ihre Ängste zu schüren.
Erste Bemühungen in dieser Richtung gibt es schon im Mai. Die Regierung übt eine strikte Zensur über die staatlichen Medien aus. (Privatsender gibt es zu dieser Zeit noch nicht.) Am 19. Mai untersagt sie dem Fernsehen die Verbreitung von Informationen, die der Opposition nützen könnten. Am 23. Mai sperrt sie die Frequenzen, über die Reporter ausländischer Sender, die in Frankreich zu empfangen sind, life aus den Demonstrationen berichten.
Am 22. März entzieht die Regierung Daniel Cohn-Bendit die Aufenthaltsgenehmigung. Der Studentenführer mit deutschem Pass entstammt einer jüdischen Familie, die vor den Nazis nach Frankreich geflohen ist. Das Ende des Naziregimes liegt erst 23 Jahre zurück, und die Symbolik dieser Maßnahme bleibt niemandem verborgen. Die Empörung ist groß. Die Proteste der Studenten radikalisieren sich. Es kommt erneut zu gewaltsamen Straßenschlachten. Da die CGT die Studenten weiterhin isoliert und jede gemeinsame Aktion mit ihnen ablehnt, agieren diese oft ohne den Schutz der Arbeiter – was zur Eskalation der Lage beiträgt.
Am 24. Mai fordern die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwei Todesopfer. In Lyon stirbt ein Polizist, in Paris ein junger Demonstrationsteilnehmer. Der Schock ist groß. Die Medien beginnen eine ohrenbetäubende Kampagne gegen die „studentischen Gewalttäter“.
Einige Gaullisten gründen ein Komitee zur Verteidigung der Republik (CDR), das mit ultrarechten Elementen aus dem Milieu der Algerienfranzosen zusammenarbeitet. Letztere betrachten de Gaulle als Verräter, seit er Algerien in die Unabhängigkeit entlassen hat, doch angesichts der revolutionären Gefahr schließt sich das rechte Lager zusammen. Am 30. Mai vermischen sich auf den Champs-Élysées „Algérie française“-Rufe mit den Symbolen des Gaullismus. Die erste Großdemonstration zur Unterstützung de Gaulles ist gemeinsam vorbereitet worden. Am 17. Juni revanchiert sich de Gaulle, indem er General Salan sowie zehn weitere Mitglieder der Terrororganisation OAS begnadigt, die 1961 in Algerien gegen ihn geputscht hatten.
Auch der staatliche Repressionsapparat tritt mit Beginn der Wahlkampagne selbstbewusster auf. Am 31. Mai wird Innenminister Christian Fouchet durch Raymond Marcellin abgelöst. Er wird von de Gaulle mit den Worten begrüßt: „Endlich der wahre Fouché“. Joseph Fouché hatte nach dem Niedergang der französischen Revolution als Polizeiminister des Direktoriums und Napoleons einen gefürchteten Unterdrückungsapparat aufgebaut.
Marcellin geht mit äußerster Härte vor. Noch am Tag seiner Ernennung werden die Streikposten an den Treibstofflagern geräumt, um den Benzinnachschub und damit den Verkehr wieder in Gang zu bringen. Am 12. Juni verbietet er für die Zeit der Wahlkampagne sämtliche Straßendemonstrationen. Am selben Tag lässt er per Dekret alle revolutionären Organisationen auflösen und zweihundert „verdächtige Ausländer“ des Landes verweisen. Vom Verbot betroffen sind die trotzkistische OCI, deren Jugend- und Studentenorganisationen, die JCR Alain Krivines, die anarchistische „Bewegung des 22. März“ Daniel Cohn-Bendits sowie maoistische Organisationen. Der Inlandsgeheimdienst (Renseignements généraux) erhält den Auftrag, sie zu beobachten und über jedes Mitglied Daten zu sammeln.
Marcellin bleibt sechs Jahre im Amt und baut in dieser Zeit Polizei, Geheimdienst und die Einsatzpolizei CRS zu einem hochgerüsteten Bürgerkriegsapparat aus. Er verdoppelt die Ausgaben für die Polizei, rüstet sie mit moderner Technologie und mit Waffen aus und schafft 20.000 neue Polizeistellen.
Die Gaullisten führen einen Wahlkampf der Angst. Sie malen die Gefahr eines Bürgerkriegs an die Wand, warnen vor einer totalitären, kommunistischen Machtübernahme und beschwören die Einheit von Republik und Nation. Oppositionsparteien und Gewerkschaften stimmen in diesen Chor ein. Die anhaltende Hetze der KPF gegen „Linksradikale“ ist Wasser auf die Propagandamühlen der Rechten. François Mitterrand beteuert am Vorabend der Wahl im Fernsehen: „Wir haben vom ersten Tag an und trotz der Angriffe nur an die Einheit des Vaterlandes und die Aufrechterhaltung der Ruhe gedacht.“
Die Wahl gerät für die Linke zum Desaster. Die Gaullisten und ihre Verbündeten erhalten 46 Prozent der Stimmen, die KPF als stärkste Oppositionspartei nur 20, deutlich weniger als im Vorjahr. Bei der Sitzverteilung sieht das Ergebnis aufgrund des Mehrheitswahlrechts noch verheerender aus. Vier Fünftel der Mandate entfallen auf rein bürgerliche Parteien, davon 59 Prozent auf die Gaullisten, 13 auf die Liberalen und 7 auf die Zentristen. Mitterrands FGDS kommt auf 12, die KPF nur auf 7 Prozent. Vor allem das konservative Land hat mit großer Mehrheit für die Rechten gestimmt. Viele der aktivsten Elemente – Gymnasiasten, Studenten, junge Arbeiter und Immigranten – waren dagegen nicht wahlberechtigt. Das offizielle Wahlalter liegt bei 21 Jahren und die Wahllisten sind vor der kurzfristig anberaumten Wahl nicht aktualisiert worden.
Zwei Monate nach Beginn der revolutionären Krise hat die Bourgeoisie die Macht wieder im Griff. Sie hat nun Zeit, de Gaulle in Ruhe abzulösen und einen neuen politischen Mechanismus zu entwickeln, mit dem sie die Arbeiterklasse in den kommenden Jahrzehnten unter Kontrolle halten und ihre Herrschaft absichern kann: die Sozialistische Partei Mitterrands. Sie muss dafür einen ökonomischen Preis entrichten. Die Vereinbarungen von Grenelle treten schließlich in Kraft und die arbeitende Bevölkerung erlebt in den folgenden Jahren eine deutliche Verbesserung ihres Lebensstandards. Doch diese Verbesserungen sind nicht von Dauer. Inzwischen sind sie weitgehend wieder rückgängig gemacht worden.