Diese achtteilige Serie erschien erstmals im Mai und Juni 2008 zum vierzigsten Jahrestag des Generalstreiks in Frankreich auf der WSWS. Sie analysiert die damaligen Ereignisse und zieht die politischen Lehren für heute daraus.
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Die Rechtsentwicklung der OCI
Die Ereignisse von 1968 markieren einen Wendepunkt in der Geschichte der OCI. Zur Zeit des Generalstreiks war sie eine zentristische Organisation, deren Wurzeln in der trotzkistischen Bewegung lagen, deren Politik sich aber in wachsendem Maße an der stalinistischen und reformistischen Bürokratie orientierte. Drei Jahre später brach sie alle Kontakte zur internationalen trotzkistischen Bewegung ab und entwickelte sich zu einer wichtigen Stütze der Sozialistischen Partei und, durch sie, des bürgerlichen Staats.
Die Studentenbewegung und der Generalstreik hatten der OCI mehrere Tausend junge Mitglieder und Kontakte zugeführt. Sie schlossen sich einer vermeintlich trotzkistischen Organisation an, doch der zentristische Kurs der OCI orientierte sie in Richtung der bürokratischen Apparate. Sie wurden nicht als Marxisten ausgebildet, sondern zu Opportunisten erzogen. Diese Jugendlichen, die nach und nach den älteren Kader verdrängten, spielten eine wichtige Rolle bei der Rechtsentwicklung der OCI. Viele wechselten später zur Sozialistischen Partei und absolvierten eine steile politische Karriere, die sie in höchste Staatsämter brachte.
Die Rechtsentwicklung der OCI war aber auch eng mit dem Aufstieg der sozialen Schicht verbunden, der 1968 ihre besondere Aufmerksamkeit galt: den unteren Rängen der Gewerkschaftsbürokratie, die sie als „organisatorische Kader der Arbeiterklasse“ bezeichnete.
Wie wir gesehen haben, hoffte die OCI, die Verschärfung der politischen Krise werde diese „Kader“ in Konflikt zu den „Apparaten“ bringen und nach links treiben. Diese Hoffnung beruhte nicht nur auf einem falschen Verständnis des Charakters der Gewerkschaften, sondern auch auf einer falschen Einschätzung des gaullistischen Regimes, dessen Stärke die OCI maßlos überschätzte.
Seit General de Gaulle 1958 auf dem Höhepunkt der Algerienkrise an die Macht zurückgekehrt war und eine auf seine Person zugeschnittene Verfassung erlassen hatte, charakterisierte die OCI seine Herrschaft als Bonapartismus. „De Gaulle ist nicht einfach ein Element des politischen Personals der französischen Bourgeoisie unter anderen“, heißt es dazu in einem programmatischen Artikel, der Anfang 1968 unter dem Titel „Der gaullistische Bonapartismus und die Aufgaben der Avantgarde“ in la vérité erschien. De Gaulle habe sich seiner Klasse aufgezwungen und werde von dieser ertragen, weil sie „ihren Kampf gegen das Proletariat und ihre internationalen Rivalen nur eingezwängt in einen starken Staat führen (kann), der alle sozialen Schichten unterwirft, alle Ressourcen der Wirtschaft mobilisiert und alle Bereiche der Gesellschaft ausschließlich zugunsten des großen Kapitals einspannt.“ (16)
De Gaulle schrieb die OCI nahezu übermenschliche Kräfte zu. „Der von ihm errichtete Staat ist das eiserne Korsett, das es einer senilen und ohnmächtigen Bourgeoisie erlaubt, sich auf den Beinen zu halten“, heißt es im selben Artikel. Das Parlament sei nur noch eine Fassade, die „es den Arbeiterführern ermöglicht, unter den Massen die Wahlillusionen aufrecht zu erhalten“.
Lange Zeit führte die OCI eine Art Untergrundexistenz, weil sie erwartete, de Gaulle werde zu offen diktatorischen Herrschaftsformen übergehen. Sie war überzeugt, dass er im Falle einer schweren Krise die Arbeiterbewegung zerschlagen werde, mit Unterstützung der in den Staat integrierten Gewerkschaftsspitzen: „Die Arbeiterbewegung politisch zerschlagen, die organisatorischen Kader der Klasse zerstören und zerstreuen, darin besteht das gemeinsame Ziel de Gaulles und der Apparate.“ Die „Apparate“ stünden vor der Alternative, „unterzugehen oder sich in den Staat zu integrieren und zum direkten Agenten der mörderischen Pläne des Bonapartismus zu werden“, während „die organisatorischen Kader, die auf dem Boden des Klassenkampfs bleiben, dazu neigen, sich von der Politik des Apparats ‘abzunabeln’.“
Die Wirklichkeit sah dann 1968 ganz anders aus, als sich die OCI das vorgestellt hatte. Das gaullistische Regime erwies sich als weitaus schwächer, als sie dachte. Es konnte nicht wagen, den Generalstreik von zehn Millionen Arbeitern gewaltsam zu unterdrücken. Um ihn unter Kontrolle zu bringen, bediente es sich nicht nur der „Apparate“, sondern vor allem auch jener „Kader“, auf die die OCI ihre Hoffnungen gesetzt hatte. Und während die materiellen Zugeständnisse, die es an die Arbeiter machte, relativ gering blieben, waren die eigentlichen Gewinner des Generalstreiks diese „Kader“.
Für eine breite Schicht von Gewerkschaftsbürokraten markierte 1968 den Beginn eines sozialen Aufstiegs, der ihnen sichere und gut dotierte Stellungen sowie politischen Einfluss bescherte. Das Abkommen von Grenelle sah die Stärkung und die juristische Absicherung der Stellung der Gewerkschaften in den Betrieben vor. Vor allem die Regierung hatte gegen den anfänglichen Widerstand der Unternehmerverbände darauf gedrängt. Es wurde auch sichergestellt, dass die Mitverwaltung der Sozialkassen durch die Gewerkschaften bestehen blieb. Deren milliardenschweren, staatlich subventionierten Etats sicherten zahlreichen Gewerkschaftsfunktionären (darunter vielen führenden Mitgliedern der OCI) ein stetig wachsendes Einkommen, auch wenn die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften zurückgingen.
Hinzu kam, dass die Vereinigung der zersplitterten sozialdemokratischen Gruppen zur Sozialistischen Partei und deren Wahlbündnis mit der Kommunistischen Partei vielen Funktionären politische Aufstiegschancen eröffnete. Die „Linke“, diskreditiert durch ihre schändliche Rolle im Algerienkrieg und der Vierten Republik, war wieder eine politische Kraft. Sie lockte mit zahlreichen Ämtern auf kommunaler, regionaler und (nach Mitterrands Wahl zum Präsidenten) nationaler Ebene.
Die OCI hielt nach 1968 an ihrer Orientierung auf die Bürokratie fest und passte ihr politisches Programm an ihren sozialen Aufstieg an. 1971 machte sie keinen Unterschied mehr zwischen „Kadern“ und „Apparaten“, nun warb sie auch um die „Apparate“. François Mitterand, den sie 1968 noch heftig angegriffen hatte, trat auf einer Großveranstaltung der OCI zum hundertsten Jahrestag der Pariser Kommune als Redner auf. Als „Klasseneinheitsfront“ bezeichnete sie nun nicht mehr das „zentrale Streikkomitee“, sondern das Wahlbündnis zwischen Sozialistischer und Kommunistischer Partei.
Sie griff sogar die Pablisten an, weil sie mit eigenen Kandidaten gegen dieses Wahlbündnis antraten. Schon 1969 hatte sie die LCR heftig attackiert, weil sie mit Alain Krivine einen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt hatte. Das spalte „die ‘fortgeschrittenen’ Arbeiter von den Arbeitern, die ihren Organisationen und Parteien treu bleiben“, und liefere „der Bourgeoisie und dem stalinistischen Apparat Munition“, behauptete ihre Jugendzeitung Jeunesse révolutionnaire. 1974 verurteilte sie dann die Wahlteilnahme von Krivine und Arlette Laguiller (Lutte ouvrière) als „prinzipienlose Kandidaturen gegen die Arbeitereinheitsfront“. (17)
1971 schickte die OCI mehrere Mitglieder in die Sozialistische Partei hinein. Sie sollten dort keine Fraktion aufbauen, sondern François Mitterrand unterstützen. Das erfolgreichste dieser OCI-Mitglieder, Lionel Jospin, stieg schnell in den engsten Beraterkreis des zukünftigen Präsidenten auf und beerbte ihn 1981 im Vorsitzend der Sozialistischen Partei. Zu diesem Zeitpunkt war er immer noch Mitglied der OCI und traf sich regelmäßig zu Beratungen mit Pierre Lambert. Mitterrand, das haben Zeugen inzwischen bestätig, wusste über die wahre politische Identität seines Schützlings Bescheid. Von 1997 bis 2002 war Jospin dann Premierminister Frankreichs.
Auch im drittgrößten französischen Gewerkschaftsverband Force Ouvrière und dem Studentenverband UNEF vereinnahmte die OCI den „Apparat“. Parteimitglieder oder ihr nahe stehende Personen standen jahrelang an der Spitze beider Organisationen. 1986 wechselte Jean-Christophe Cambadélis, lange Zeit verantwortlich für die Studentenarbeit der OCI, vom Zentralkomitee der OCI direkt in die Führungsebene der Sozialistischen Partei und nahm 450 weitere Mitglieder mit sich.
Ab 1985 distanzierte sich die OCI vorsichtig von der Sozialistischen Partei, die seit 1981 den Präsidenten und die Regierung stellte und eine Politik im Interesse der Wirtschaft verfolgte. Sie gründete das Mouvement pour un Parti des travailleurs (Bewegung für eine Arbeiterpartei, MPPT). Obwohl es sich dabei um eine reine Schöpfung der OCI handelte, betonte sie stets, dass die „Trotzkisten“ darin lediglich eine Minderheit bildeten und sie auch für sozialdemokratische, kommunistische und anarcho-syndikalistische Strömungen offen sei. Das MPPT war ein Sammelbecken für unzufriedene Gewerkschafts- oder Parteibürokraten, die sich mit der Führung ihrer Organisationen überworfen hatten oder bei einem Karrieresprung übergangen worden waren.
1985 wurde das MPPT in Parti des travailleurs (Arbeiterpartei, PT) umbenannt, und im Juni 2008 löste sich diese ihrerseits im Parti ouvrier independent (Unabhängige Arbeiterpartei, POI) auf. Das Motto dieser neuen Partei, „Für den Sozialismus, die Republik und die Demokratie“, steht unverkennbar in der Tradition der rechten Sozialdemokratie. Sie spricht für die Schichten des Kleinbürgertums und der Gewerkschaftsbürokratie, die auf die Folgen der Globalisierung reagieren, in dem sie sich an den Nationalstaat klammern. Der politische Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Agitation gegen die Europäische Union. Sie stellt ihr kein sozialistisches Europa entgegen, sondern „eine freie und brüderliche Union aller Völker Europas“. Eine weitere Losung der POI lautet: „Ja zur Souveränität der Völker Europas“. Der nationalistische Unterton dieser Losungen ist unüberhörbar.
Die Wurzeln des Zentrismus der OCI
Das Abgleiten der OCI in den Zentrismus hatte sich lange vor 1968 abgezeichnet. Im Juni 1967 hatte die britische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale der OCI einen langen Brief geschrieben, in dem sie die Standpunkte, die 1968 die Politik der OCI bestimmen sollten, einer scharfen Kritik unterzog. Im Mittelpunkt dieses Briefs der Socialist Labour League (SLL) stand die wachsende Skepsis, welche die OCI gegenüber der Lebensfähigkeit des Internationalen Komitees und der Bedeutung des Kampfs gegen den Pablismus an den Tag legte. (18)
Ein Jahr zuvor, auf dem Dritten Weltkongress des IKVI, hatte die OCI noch einen Ergänzungsantrag der SLL unterstützt, der feststellte, dass die Vierte Internationale die Bemühungen der Revisionisten, sie zu zerstören, erfolgreich abgewehrt hatte. Der Kongress betonte, dass der Kampf gegen den Revisionismus keine Ablenkung von wichtigeren Fragen des Parteiaufbaus sei. Vielmehr habe die trotzkistische Bewegung im beharrlichen Bemühen, den Marxismus gegen die pablistischen Revisionen zu verteidigen, den ideologischen Druck der Bourgeoisie bekämpft und ihre revolutionäre Perspektive entwickelt. Der Kampf gegen den pablistischen Revisionismus verkörpere die Kontinuität der Vierten Internationale und sei die notwendige Voraussetzung zum Aufbau einer neuen proletarischen Führung.
Der Ergänzungsantrag der SLL richtete sich gegen die Spartacist-Tendenz und die Gruppe Voix Ouvrière (heute: Lutte Ouvrière), die als Gäste am Kongress teilnahmen. Sie hatten den etwas zweideutigen Titel der Hauptresolution, „Wiederaufbau der Vierten Internationale“, dahingehend interpretiert, dass diese zerstört und der Kampf, den das Internationale Komitee seit 1953 gegen den pablistischen Revisionismus geführt hatte, ohne theoretische und politische Bedeutung sei. Sie strebten einen „Wiederaufbau“ der Vierten Internationale auf der Grundlage einer gegenseitigen politischen Amnestie an, wobei die entscheidenden programmatischen Fragen, die 1953 zur Spaltung geführt hatten, keine Rolle spielen sollten. Als sie merkten, dass sich das Internationale Komitee einem solchen Liquidationskurs widersetzte, verließen sie die Konferenz.
Angesichts der hysterischen Feindschaft, die Spartacist und Lutte Ouvrière gegenüber dem historischen Kampf des IKVIs gegen den Pablismus an den Tag legten, stellte sich die OCI während des Dritten Kongresses auf die Seite der SLL und stimmte für deren Ergänzungsantrag. Doch bald wurde deutlich, dass auch sie erhebliche Vorbehalte hegte. Im Mai 1967 veröffentliche sie eine Erklärung, die die Errungenschaften des Dritten Weltkongresses offen in Frage stellte. Unter dem Vorwand, eine „Bilanz der Aktivität des IKs“ seit dem Dritten Weltkongress zu ziehen und „die notwendigen Diskussionen zur Lösung von Problemen zu beginnen, welche die Dritte IK-Konferenz nicht diskutieren konnte“, verneinte die OCI die Kontinuität der Vierten Internationale. (19)
„Nachdem wir den Bankrott der pablistischen Führung festgestellt haben, können wir nicht einfach sagen, dass die Vierte Internationale schlicht und einfach weiter existiert, wobei das IK die Stelle des pablistischen IS einnimmt,“ hieß es in dem OCI-Dokument. Es sei keine Kleinigkeit, dass die gesamte alte Führung der Vierten Internationale unter dem Druck des Imperialismus und Stalinismus kapituliert habe. Die pablistische Krise habe „die Vierte Internationale desorganisiert“ und „ungelöste theoretische und politische Probleme angehäuft“. „Wir können nicht rufen: ‘Der König ist tot, lang lebe der König’. Wir müssen eine Diskussion über diese Fragen beginnen, was innerhalb des IKs noch nicht gründlich geschehen ist.“ Die Erklärung gipfelte in den Sätzen: „Im Wesentlichen wurde die Vierte Internationale unter dem Druck feindlicher Klassenkräfte zerstört,“ und „Das IK ist nicht die Führung der Vierten Internationale. ... Das IK ist die Triebkraft für den Wiederaufbau der Vierten Internationale.“ (20)
Es folgte eine Darstellung des Pablismus, die völlig von der bisherigen Einschätzung des Internationalen Komitees abweicht. Die OCI beschuldigte die Pablisten nicht, das marxistische Programm revidiert, den Kampf für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse aufgegeben und die Vierte Internationale liquidiert zu haben. Stattdessen warf sie ihnen vor, sie hätten „das Konzept einer fertigen, ultra-zentralistischen Vierten Internationale und entsprechender Parteien, versehen mit einer pyramidenartigen Hierarchie und Weltkongressen“, vertreten. Trotzki dagegen sei „der Ansicht gewesen, dass die Vierte Internationale weder aufgebaut sei, noch eine endgültige Struktur besitze“. (21)
Im Lichte der Auseinandersetzungen mit Spartacist und Voix Ouvrière fiel es der britischen SLL nicht schwer, den Sinn dieser Worte zu erfassen. Sie wies die Infragestellung des Internationalen Komitees durch die OCI scharf zurück. „Die Zukunft der Vierten Internationale“, hieß es in ihrer Antwort, „ist im angestauten Hass von Millionen Arbeitern gegen die Stalinisten und Reformisten enthalten, die ihre Kämpfe verraten. Die Vierte Internationale muss bewusst um Führung kämpfen, um diesen Bedürfnissen entgegenzukommen... Nur der Kampf gegen den Revisionismus kann den Kader darauf vorbereiten, die Führung der Millionen Arbeiter zu übernehmen, die in den Kampf gegen den Kapitalismus und die Bürokratie hineingezogen werden.... Der lebendige Kampf gegen den Pablismus und das Training von Kadern und Parteien auf der Grundlage dieses Kampfs war in den Jahren seit 1952 das Leben der Vierten Internationale.“ (22)
Die SLL ließ es nicht dabei bewenden, die historische Kontinuität der Vierten Internationale zu verteidigen. Sie zeigte den Zusammenhang zwischen den objektiven Veränderungen im Klassenkampf und der wachsenden Skepsis der OCI auf. Angesichts der Radikalisierung von Arbeitern und Jugendlichen, die sich weltweit abzeichnete, und der zahlenmäßigen Schwäche des eigenen Kaders suchte die OCI nach einer opportunistischen Abkürzung, die es ihr erlauben würde, Einfluss zu gewinnen, ohne den mühsamen Kampf für marxistisches Bewusstsein in der Arbeiterklasse zu führen. Ihr Vorwurf an die Pablisten, sie hätten eine „ultra-zentralistische“ Internationale befürwortet, ihre Behauptung, Trotzki sei für eine Internationale ohne feste Struktur eingetreten, ihr Herumreiten auf organisatorischen Schwächen und Versäumnissen des Internationalen Komitees nach dem Dritten Weltkongress, wiesen alle in diese Richtung.
Die SLL warnte deshalb: „Die Radikalisierung der Arbeiter in Westeuropa schreitet jetzt rasch voran, besonders in Frankreich... In einem solchen Entwicklungsstadium besteht immer die Gefahr, dass eine revolutionäre Partei nicht in revolutionärer Weise auf die Lage in der Arbeiterklasse reagiert, sondern sich an das Niveau anpasst, auf das die Arbeiter durch ihre eigene Erfahrung unter der alten Führung beschränkt sind, d.h. an die unvermeidliche anfängliche Verwirrung. Solche Revisionen des Kampf für die unabhängige Partei und das Übergangsprogramm werden üblicherweise unter dem Deckmantel ‘näher an die Arbeiterklasse’, ‘Einheit mit allen, die sich im Kampf befinden’, ‘keine Ultimaten stellen’, ‘kein Dogmatismus’ usw. versteckt.“ (23)
Besonders deutlich wurde die opportunistische Orientierung der OCI in ihrer Haltung zur „Einheitsfront“. „Zwischen 1944 und 1951“, schrieb sie, „hat der PCI regelmäßig Briefe an das Politische Büro der französischen KP geschickt und ihr eine Einheitsfront von Organisation zu Organisation angeboten.“ Diese Politik sei angesichts der zahlenmäßigen Schwäche des PCI unrealistisch gewesen, denn: „Welche Abteilung führte der PCI, die die Grundlage für eine Einheitsfront zwischen ihr und der französischen KP hätte bilden können?“ „Jetzt ist unsere Politik der Einheitsfront anders“, fuhr die OCI fort. „Wir verleihen den Forderungen der fortgeschrittenen Arbeitern gegenüber den von der Arbeiterklasse anerkannten Führungen (SFIO, französische KP, Gewerkschaftsführungen) Ausdruck: ‘Man muss mit der Bourgeoisie brechen und eine Klasseneinheitsfront bilden.’ ... Wir bringen Schichten von Jugendlichen, Arbeitern und Aktivisten zusammen und organisieren sie, um für die Einheitsfront zu kämpfen. Durch diese Kämpfe für die Einheitsfront bauen wir die OCI auf...“ (24)
Die SLL protestierte heftig gegen diese Konzeption der „Einheitsfront“. Sie beharrte darauf, dass die Partei „offen, auf der Grundlage ihrer eigenen Politik kämpfen und die opportunistischen und zentristischen politischen Führungen der Arbeiterklasse herausfordern“ müsse. Wenn „die Einheitsfront dem Kampf für eine unabhängige Führung als Alternative, als leichterer Weg, entgegengestellt“ werde, lenke dies die Arbeiter vom Weg einer revolutionären Führung ab. „Wird in diesem Stadium der Weltkrise, in diesem Stadium des Kampfs gegen den Revisionismus, das ganze Gewicht vom Aufbau der bolschewistischen Partei weggenommen, öffnet dies sofort die Schleusen für den vollen Druck des Klassenfeinds. Die sogenannte Klasseneinheitsfront ist ein Ausdruck dieses gefährlichen Kurses, eines verheerenden Kurses“, warnte die SLL. (25)
Im Wesentlichen bedeute die Politik der OCI, „als erstes die Einheitsfront, und als zweites, durch sie, die Partei. Wir lehnen das ab,“ schrieb die SLL weiter. Die Einheitsfront sei eine Taktik mit dem Ziel, die Massen von den reformistischen Parteien zu brechen. „In der von der OCI vorgeschlagenen Form bereitet sie ebenso sicher wie die pablistische Theorie des ‘Entrismus sui generis ‘ die Liquidation vor. ... Das Entscheidende ist in beiden Fällen die Aufgabe der zentralen Bedeutung des Aufbaus der revolutionären Partei.“ (26)
Wie wir gesehen haben, wies die OCI die Kritik der SLL zurück. Ihr Eingreifen in die revolutionären Ereignisse von 1968 beruhte auf der von der SLL kritisierten politischen Linie, was, wie von der SLL vorausgesagt, schließlich zu ihrer Liquidation als trotzkistische Partei führte.
Der Brief vom 19. Juni 1967 war die letzte umfassende Kritik, welche die britische Sektion am politischen Kurs der OCI übte. In den darauffolgenden Jahren unterzog die SLL die Linie der OCI nie wieder einer gründlichen Analyse. Sie veröffentliche zwar eine oberflächliche, von Tom Kemp verfasste Artikelserie über die französischen Ereignisse vom Mai-Juni 1968, aber die Rolle der OCI wurde darin weitgehend ausgespart. Konnte dies 1968 noch mit der offiziellen Mitgliedschaft der OCI im Internationalen Komitee begründet werden, die einen öffentlichen politischen Angriff verbot, so verzichtete die SLL auch nach der Spaltung von 1971 darauf, die Wurzeln der zentristischen Degeneration der OCI zu untersuchen.
Eine solche Untersuchung wäre erforderlich gewesen, um den Kader des Internationalen Komitees politisch und theoretisch zu bewaffnen. Sie hätte weit vor die Ereignisse von 1968 und 1966 zurückgehen und aufzeigen müssen, wie sich die zentristische Orientierung der OCI entwickelte und welche politischen Probleme damit verbunden waren. Doch die SLL wich dieser Aufgabe aus, indem sie behauptete, politische Differenzen seien lediglich zweitrangige Erscheinungsformen philosophischer Meinungsverschiedenheiten, die konkrete Untersuchung politischer Fragen könne daher durch die abstrakte Diskussion erkenntnistheoretischer Probleme ersetzt werden. Sie begründete den Bruch mit der OCI schließlich mit deren Ablehnung des dialektischen Materialismus als marxistische Erkenntnistheorie.
Der Grund für das ausweichende Verhalten der SLL waren Meinungsverschiedenheiten in ihren eigenen Reihen, die die Führung der Partei nicht diskutieren wollte. Eine Auseinandersetzung mit der OCI hätte diese Differenzen aufbrechen lassen und die praktischen und organisatorischen Erfolge der SLL gestört. Die SLL zahlte schließlich einen hohen Preis für ihre Weigerung, die Hintergründe der Degeneration der OCI auszuleuchten. Weil die damit verbundenen politischen Probleme nicht geklärt wurden, fanden sie Eingang in die SLL. 1974 gelang es der OCI, über Alan Thornett, den Leiter ihrer Gewerkschaftsarbeit, erhebliche Spannungen in die Reihen der Workers Revolutionary Party, wie die SLL inzwischen hieß, zu tragen. In der resultierenden Krise verlor die WRP einen großen Teil ihrer Mitglieder in den Betrieben. Ende der 70er Jahre verfolgte sie schließlich in Großbritannien einen ähnlich opportunistischen Kurs, wie die OCI in Frankreich – vor allem was die Beziehung zu den Gewerkschaften, der Labour Party und nationalistischen Bewegungen in den ehemaligen Kolonien anging. 1985 zerbrach die WRP an ihren inneren Gegensätzen.
Anmerkungen
16) „Le bonapartisme gaulliste et les tâches de l’avant-garde“, la vérité No. 540, février-mars 1968
17) zitiert in Jean-Paul Salles, „La ligue communiste révolutionnaire“, Rennes 2005, p. 98
18) „Reply to the OCI by the Central Committee of the SLL, June 19, 1967“ in „Trotskyism versus Revisionism“, Volume 5, London 1975, p. 107-132
19) „Statement by the OCI, May 1967“ in „Trotskyism versus Revisionism“, Volume 5, London 1975, p. 84
20) ibid. p. 91-92 / 95
21) ibid. p. 92
22) „Reply to the OCI by the Central Committee of the SLL, June 19, 1967“, ibid., p. 107/114
23) ibid., pp. 113-114
24) „Statement by the OCI, May 1967“, ibid. p. 95
25) ibid. pp. 123-124
26) ibid. p. 125