Diese achtteilige Serie erschien erstmals im Mai und Juni 2008 zum vierzigsten Jahrestag des Generalstreiks in Frankreich auf der WSWS. Sie analysiert die damaligen Ereignisse und zieht die politischen Lehren für heute daraus.
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Die Organisation communiste internationaliste (OCI) brach zwar erst 1971 offiziell mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale, aber ihre politische Linie hatte sich 1968 schon weit von der revolutionären Perspektive entfernt, die sie Anfang der fünfziger Jahre gemeinsam mit den anderen Sektionen des Internationalen Komitees gegen den pablistischen Revisionismus verteidigt hatte. Sie vertrat 1968 einen Kurs, der den Traditionen des Zentrismus und des französischen Syndikalismus viel näher stand, als dem revolutionären Programm der Vierten Internationale. Wie die Pablisten trägt auch die OCI ein hohes Maß an Verantwortung dafür, dass es den Stalinisten gelang, den Generalstreik abzuwürgen und das gaullistische Regime zu retten.
Den Dreh- und Angelpunkt der politischen Linie der OCI bildete die Forderung nach einem zentralen Streikkomitee. Sie wurde begleitet vom alles übertönenden Ruf nach „Einheit“ oder – wie die Formel der OCI lautete – nach der „Klasseneinheitsfront der Arbeiter und ihrer Organisationen“. Beides zog sich in den entscheidenden Monaten des Jahres 1968 wie ein roter Faden durch sämtliche Verlautbarungen und Aufrufe der OCI und ihrer Frontorganisationen hindurch.
In einem 300-seitigen Buch, das sie ein knappes Jahr nach dem Generalstreik veröffentlichte, fasst die OCI ihre damalige Orientierung mit den Worten zusammen: „Die Strategie und Taktik des Proletariats im Kampf um die Macht ... besteht im Kampf für die Klasseneinheitsfront der Arbeiter und ihrer Organisationen, ein Kampf, der im Mai 1968 die spezifische Form der Parole des nationalen Generalstreikkomitees annahm.“
Autor dieses Buches, das als Sondernummer der OCI-Zeitung Informations Ouvrières herauskam, ist François de Massot, ein führenden Mitglied der Organisation seit 1950. De Massot gibt eine detaillierte Schilderung der täglichen Ereignisse und liefert ausführliches Material über das Eingreifen der OCI, einschließlich der Wiedergabe von Aufrufen und Flugblättern. Anhand seines Buches lässt sich deren politische Linie gut rekonstruieren. (1)
Die „Klasseneinheitsfront“
Leo Trotzki, der die Vierte Internationale in einem heftigen politischen Kampf gegen den Zentrismus gründete, fasste dessen Haltung zur Einheitsfront mit den Worten zusammen: „Der Zentrist schwört auf die Einheitsfrontpolitik, wobei er sie des revolutionären Inhalts beraubt und aus einer taktischen Methode zum obersten Grundsatz macht.“ Der zentristischen Sozialistischen Arbeiterpartei schrieb er 1932 ins Stammbuch: „Jedenfalls kann die Einheitsfront nicht einer revolutionären Partei als Programm dienen. Darauf ist aber die gesamte Tätigkeit der SAP aufgebaut.“ (2)
Dieser Vorwurf trifft auch auf die Tätigkeit der OCI im Jahr 1968 zu. Sie verwandelte die Einheitsfrontpolitik aus einer taktischen Methode zum obersten Grundsatz ihres Programms. Im Namen der Einheitsfront, unter der sie die Einheit aller Gewerkschaften verstand, verzichtete sie auf jede revolutionäre Initiative. Darin besteht die Bedeutung der merkwürdigen Formel „Klasseneinheitsfront der Arbeiter und ihrer Organisationen“, die sie in all ihren Aufrufen und Erklärungen gebetsmühlenhaft wiederholte. Während die OCI den Pablisten und den kleinbürgerlichen Studentenführern mit einer gewissen Berechtigung vorwarf, sie ignorierten die bestehenden Massenorganisationen, verwandelte sie diese selbst in einen Fetisch und beharrte darauf, dass alle Kämpfe der Arbeiter in ihrem Rahmen bleiben müssen.
Schon im Sommer 1967 hatte eine große, von der OCI organisierte Versammlung eine Resolution verabschiedet, in der es hieß: „Wir erklären feierlich, dass es nicht unsere Absicht ist, stellvertretend für die Arbeiterorganisationen und deren Zentralen die Aktionseinheit zu verwirklichen, eine Aufgabe, die natürlich den Gewerkschaften obliegt.“
De Massot zitiert diese Resolution in seinem Buch und rechtfertigt sie mit der Begründung, die Gewerkschaften verkörperten ganz unabhängig von der jeweiligen Politik ihrer Führung die Interessen der Arbeiterklasse. Wörtlich schreibt er: „Die Arbeiter werden zur Klasse durch die Organisationen, die sie im Kampf gegen die Ausbeutung aufgebaut haben und die ihnen als Mittel für den Zusammenschluss gegen den Klassenfeind dienen. Aufgrund ihrer objektiven Stellung im Kampf – das heißt unabhängig von der Politik ihrer momentanen Führung – verkörpern diese Organisationen Positionen der Arbeiterklasse in ihrem ständigen Kampf gegen die Ausbeutung. Die Arbeitereinheitsfront kann nur mittels der Klassenorganisationen des Proletariats verwirklicht werden.“ (3)
Ausgehend von dieser Einschätzung verzichtete die OCI 1968 darauf, das bürgerlich-reformistischen Programm der Gewerkschaften zu kritisieren. Der einzige Vorwurf, den sie gegen die Gewerkschaftszentralen erhob, lautete, diese verhinderten die Einheit der Arbeiter. Ihre eigenen politischen Initiativen beschränkten sich darauf, für eine Zusammenarbeit der verschiedenen Gewerkschaften auf allen Ebenen einzutreten. Das war der wesentliche Inhalt ihrer Forderung nach einem zentralen Streikkomitee, wie wir später noch sehen werden.
Auch gegenüber den stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien enthielt sich die OCI in ihren massenhaft verbreiteten Aufrufen und Flugblättern jeder offenen Kritik. Während sie in theoretischen Artikeln und Analysen, die für einen kleinen Leserkreis bestimmt waren, deren konterrevolutionäre Rolle offen beim Namen nannte, beschränkte sie sich in den für die Massen bestimmten Flugblättern auf Einheitsappelle an die reformistischen und stalinistischen Gewerkschaftsführer.
Mit der Taktik der Einheitsfront, wie sie von der marxistischen Bewegung entwickelt worden war, hatte diese Politik der OCI nichts gemein. Leo Trotzki hatte die Notwendigkeit der Einheitsfront 1922 mit dem Bedürfnis erklärt, „ungeachtet der aktuell unvermeidlichen Spaltung der politischen Organisationen, die sich auf die Arbeiterklasse stützen, dieser die Möglichkeit der Einheitsfront im Kampfe gegen die Kapitalisten zu sichern“. (4)
Im Jahr davor hatte der dritte Kongress der Kommunistischen Internationale darauf gedrängt, dass die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) der Taktik der Einheitsfront übernimmt. Die Komintern zog damit die Lehren aus der so genannten „Märzaktion“, einem Aufstandsversuch der KPD, der isoliert geblieben und gescheitert war. Sie folgerte aus dieser Niederlage, die KPD müsse erst die Massen erobern, bevor sie die Macht erobern könne. Sie verband die Einheitsfrontpolitik mit der Forderung nach einer Arbeiterregierung, Arbeit in den reformistischen Gewerkschaften und einer Reihe von Übergangsforderungen, denn, so Trotzki, „die Masse lebt auch in einer revolutionären Epoche ihr Alltagsleben, wenn auch auf etwas andere Art und Weise“. (5)
Zehn Jahre später trat Trotzki in Deutschland erneut für die Einheitsfronttaktik ein. Nun ging es darum, die Machtübernahme Hitlers zu verhindern. Trotzki drängte darauf, dass Kommunisten und Sozialdemokraten eine Einheitsfront gegen die heraufziehende nationalsozialistische Gefahr bilden. Die Führer beider Parteien lehnten dies strikt ab. Die Weigerung der stalinistischen KPD-Führer, mit den „Sozialfaschisten“ der SPD zusammenzuarbeiten, spaltete und lähmte die Arbeiterklasse und ermöglichte schließlich Hitlers Sieg.
In beiden Fällen war die Einheitsfront eine Taktik und kein Ersatz für eine revolutionäre Strategie. Sie beschränkte sich auf die Zusammenarbeit in praktischen Fragen und bedeutete nicht, dass die KPD ihr eigenes Programm aufgeben und auf Kritik an der SPD verzichten sollte. Trotzki gab sich nie der Illusion hin, die sozialdemokratischen Führer könnten mithilfe der Einheitsfront in Revolutionäre verwandelt werden. Die Einheitsfront diente vielmehr dazu, die Massen vom Einfluss der sozialdemokratischen Führer zu lösen. Wenn die Kommunisten den sozialdemokratischen Arbeitern ihre Bereitschaft bewiesen, ohne Vorbedingungen ihre Alltagsinteressen zu verteidigen und einen Block mit der SPD gegen die Faschisten zu bilden, schwächte das die SPD-Führer, die einer Zusammenarbeit mit dem bürgerlichen Staat den Vorzug gaben. Die SPD-Mitglieder konnten sich dann aus eigener Erfahrung überzeugen, was ihre Organisationen und ihre Führer wert waren.
Unter keinen Umständen bedeutete die Einheitsfront den Verzicht auf eine eigenständige revolutionäre Politik. „In dem Augenblick, da die Reformisten den Kampf zum Schaden der Bewegung oder im Gegensatz zur Lage und zur Stimmung der Massen zu bremsen beginnen, wahren wir uns als unabhängige Organisation stets das Recht, den Kampf bis zum Ende und ohne unsere zeitweiligen Halbverbündeten zu führen“, betonte Trotzki 1932. (6)
Syndikalismus statt Marxismus
Die OCI verwandelte die Einheitsfrontpolitik aus einer revolutionären Taktik in eine opportunistische Rechtfertigung für ihre Unterordnung unter die Gewerkschaften. Sie beharrte darauf, dass die Kämpfe der Arbeiter und Studenten auf den Rahmen dieser Organisationen beschränkt bleiben müssen, und verzichtete auf alle politischen Initiativen, die den Konflikt zwischen den Arbeitern und den Gewerkschaftsapparaten hätten verschärfen können.
Dabei war nur eine Minderheit der abhängig Beschäftigten in den Gewerkschaften organisiert. Damals waren es knapp 30 Prozent, heute sind es nur noch sieben. Zwei Drittel aller Arbeiter und die überwältigende Mehrheit der Jugend standen außerhalb der Gewerkschaften. Für sie hatte die OCI keine Perspektive. Sie verwies sie an die Gewerkschaften, gegen die sie zu Recht ein tiefes Misstrauen hegten.
Die Studenten orientierte sie auf den Studentenverband UNEF, der damals vom sozialdemokratischen Parti socialiste unifié (PSU) Michel Rocards dominiert wurde. „Für die Organisierung des Widerstands verfügten die Studenten über ein Instrument, eine Gewerkschaft, die Union Nationale des Étudiants de France“, schreibt de Massot. „Mit Beginn des wirklichen Kampfs gewinnt die UNEF trotz des Zögerns und der Schwächen ihrer Führung ihre volle Bedeutung zurück. Durch ihr verantwortungsvolles Eingreifen in ihrer Eigenschaft als studentische Gewerkschaftsorganisation macht sie den Kampf gegen die Repression zur Sache der Masse der Studenten und konfrontiert die Arbeiterorganisationen gleichzeitig mit ihrer Verantwortung. Sie ist das Mittel zur Mobilisierung der Studenten und ermöglicht gleichzeitig einen echten Kampf für die Einheitsfront.“ (7)
Gerichtet gegen die Pablisten schreibt de Massot: „Wer den Kampf für die Einheitsfront der Arbeiter und der Organisationen ablehnt und ihr eine vorgebliche Einheit an der Basis entgegenstellt, die schlicht und einfach die Organisationen außer Acht lässt, die von der Arbeiterklasse in eineinhalb Jahrhunderten Kämpfen und Opfern errichtet wurden – die Organisationen, durch die sie sich als Klasse konstituiert hat, die sich ihrer selbst und des Kampfs gegen das Kapital bewusst ist, und in denen sie sich notwendigerweise sammelt, um diesen Kampf zu führen –, wer die Massenorganisationen und ihre bürokratischen Führungen verwechselt, wer ‚CGT Verrat‘ schreit und die Gewerkschaften und politischen Parteien mit einer noblen Geste von der Karte des Klassenkampfs streicht, der ergreift in Wirklichkeit vor dem Kampf gegen die Bürokratien und vor dem Kampf gegen den kapitalistischen Staat die Flucht.“
Diese Glorifizierung der Gewerkschaften als Organisationen, durch die sich die Arbeiterklasse „als Klasse konstituiert hat, die sich ihrer selbst und des Kampfs gegen das Kapital bewusst ist“, entstammt nicht der marxistischen Tradition, sondern der Tradition des Syndikalismus, der in Frankreich eine lange und ausgeprägte Geschichte hat. Die marxistische Bewegung hat stets ein kritisches Verhältnis zu den Gewerkschaften gepflegt. So betonte Lenin, gewerkschaftliches Bewusstsein sei bürgerliches Bewusstsein. In Zeiten heftiger gesellschaftlicher Erschütterungen (wie 1914 bis 1918 in Deutschland) standen die Gewerkschaften in der Regel am äußersten rechten Flügel der Arbeiterbewegung. (8)
Die französischen Syndikalisten beharrten auf dem Prinzip der Nichteinmischung der Politik in die Gewerkschaften. 1906 verankerte die CGT den Grundsatz der vollständigen Unabhängigkeit der Gewerkschaften von allen politischen Parteien sogar in ihrer Charta von Amiens. Solange sich diese Unabhängigkeit gegen den wachsenden Konservativismus und den parlamentarischen Kretinismus der Sozialdemokratie richtete, wohnte dem französischen Syndikalismus eine gewisse revolutionäre Stoßrichtung inne. Obwohl er die Partei leugnete, „war er eigentlich nichts anderes, als eine antiparlamentarische Partei der Arbeiterklasse“, wie Trotzki einmal bemerkte. (9)
Doch das änderte sich, als sich der Grundsatz der politischen Unabhängigkeit der Gewerkschaften gegen den Einfluss der revolutionären Partei wandte. Trotzki schrieb dazu 1921, damals noch als führendes Mitglied der Kommunistischen Internationale: „Die Theorie der vollkommenen und unbedingten Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaften sowie der absoluten gegenseitigen Nichteinmischung ist in diesem extremen Ausdruck ein Produkt namentlich der französischen politischen Entwicklung. Die Grundlage dieser Theorie ist der reinste Opportunismus. So lange wie die gewerkschaftlich organisierte Arbeiteraristokratie Tarifverträge abschließt und die sozialistische Partei im Parlament Reformen verficht, sind Arbeitsteilung und gegenseitige Nichteinmischung noch einigermaßen möglich. Doch sobald die wirklich proletarische Masse in den Kampf hineingezogen wird und die Bewegung einen wirklich revolutionären Charakter annimmt, artet das Prinzip der Nichteinmischung in reaktionäre Scholastik aus. Die Arbeiterklasse kann nur dann siegen, wenn an ihrer Spitze eine Organisation steht, die die lebendige historische Erfahrung, theoretisch verallgemeinert, und praktisch ihren Kampf lenkend, verkörpert. ... Wer zugibt, dass das Proletariat einer geistigen und politischen Leitung ihrer zur kommunistischen Partei zusammengeschlossenen Avantgarde bedarf, der erkennt damit an, dass die Partei auch innerhalb der Gewerkschaften, d.h. der Massenorganisationen der Arbeiterklasse zur führenden Macht werden muss.“ (10)
In der OCI übte die Tradition des Syndikalismus seit langem großen Einfluss aus. Glaubt man Pierre Lambert, so beruhte das Verhältnis seiner Organisation zu den Gewerkschaften seit langem auf syndikalistischen und nicht auf marxistischen Grundsätzen. Als er in hohem Alter eine Art Autobiografie veröffentlichte, rühmte er sich, er habe schon 1947 der Charta von Amiens wieder zur Geltung verholfen. Ausgehend von seinen Erfahrungen mit der illegalen Gewerkschaftsarbeit im Krieg und mit der stalinistisch dominierten CGT habe er damals dem Kongress der trotzkistischen Organisation in Frankreich „einen Änderungsantrag vorgeschlagen, der einstimmig angenommen wurde und der die Punkte 9 und 10 der 21 Bedingungen durch die Anerkennung der beiderseitigen Unabhängigkeit der Parteien und der Gewerkschaften ersetzte“. (11)
Mit den „21 Bedingungen“ sind die Aufnahmebedingungen gemeint, die der Zweite Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1920 beschlossen hatte, um reformistische und zentristische Organisationen fernzuhalten. Punkt 9 verpflichtete die Mitgliedsparteien, „systematisch und beharrlich eine kommunistische Tätigkeit in den Gewerkschaften“ zu entfalten und „den Verrat der Sozialpatrioten und die Wankelmütigkeit des ‚Zentrums‘ zu entlarven“. Punkt 10 verlangte den Bruch mit der gelben Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale und die Unterstützung von Gewerkschaften, die sich der Kommunistischen Internationale anschließen. Die Ersetzung dieser beiden Punkte durch „die Anerkennung der beiderseitigen Unabhängigkeit der Parteien und der Gewerkschaften“ bedeutete den Verzicht auf den politischen Kampf gegen die reformistische und stalinistische Gewerkschaftsbürokratie.
Politisches Versteckspiel
Während die OCI die Gewerkschaften unkritisch verherrlichte, trieb sie ein politisches Versteckspiel und hielt ihre eigene Identität weitgehend verborgen. Ganz selten nur sprach sie im eigenen Namen. Meistens verbarg sie sich hinter Frontorganisationen wie den Comités d’alliance ouvrière (Arbeiterbündniskomitees), deren genaue politische Identität im Dunkeln blieb. Selbst de Massot nennt die OCI nur selten beim Namen. Meist schreibt er von der „revolutionären Avantgarde“, wobei er offen lässt, ob damit die OCI, eine ihrer Frontorganisationen oder einfach eine Gruppe von aktiven Gewerkschaftern gemeint sind.
Als am 29. Mai der Konflikt mit dem gaullistischen Regime seinem Höhepunkt zusteuerte und die reaktionäre Rolle der Gewerkschaften unübersehbar wurde, trat ein massenhaft verteiltes Flugblatt der Comités d’alliance ouvrière nicht etwa für den Aufbau der OCI oder gar der Vierten Internationale ein, sondern für den Aufbau eines fiktiven „Revolutionären Arbeiterbunds“.
Dieser „Revolutionäre Arbeiterbund“ war ein Luftschloss. Niemand hatte zuvor davon gehört. Er hatte weder Mitglieder, noch ein Programm, noch ein Statut. Er existierte physisch überhaupt nicht. Lediglich am Ende eines 40-seitigen Manifests, das die OCI im Dezember 1967 verabschiedet hatte, findet man einen kurzen Hinweis auf diesen Bund. Dort heißt es, der „Revolutionäre Arbeiterbund“ sei „eine Etappe auf dem Weg des Aufbaus der revolutionären Partei“. Die Perspektive des „Revolutionären Arbeiterbunds“ gehe davon aus, dass nur das Programm der OCI „die historische Krise der Menschheit beantworten kann, dass aber die organisatorischen Kader der französischen Arbeiterklasse unmittelbar nicht in der Lage sind, ihr beizutreten.“ (12)
Diese Art der politischen Camouflage zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte der OCI und ihrer Nachfolgeorganisationen. Sie erinnert an eine Matrjoschka. So wie sich eine russische Puppe in der anderen verbirgt, versteckt sich bei der OCI eine Front- oder Tarnorganisation hinter der nächsten. Der politische Betrachter weiß nie genau, womit er es zu tun hat.
Dieses Versteckspiel ist eine spezifische Form des Opportunismus. Die OCI scheute das revolutionäre Prinzip: „Aussprechen, was ist!“ Sie zeigte sich den Arbeitern nicht in ihrer wahren Gestalt. Während sie sich in kleinem Kreis auf die Vierte Internationale berief, präsentierte sie den Massen ein verwässertes Programm, von dem sie annahm, dass sie es für annehmbar hielten.
Nun kann es durchaus Fälle geben, in denen eine revolutionäre Partei nicht offen auftreten und ihr volles Programm vorbringen kann – z.B. unter einem diktatorischen Regime oder innerhalb einer reaktionären Gewerkschaft. Aber der OCI ging es nicht darum, den Staatsapparat oder die Gewerkschaftsbürokratie zu täuschen, die ihre Identität sehr gut kannten. Sie täuschte die Arbeiter und Jugendlichen, die neu in die Politik kamen und nach einer Orientierung suchten.
Vor allem wollte die OCI die unteren Ränge der Gewerkschaftsbürokratie nicht in Verlegenheit bringen, um deren Unterstützung sie intensiv warb. Wenn sie ihre eigene Identität versteckte, konnten diese Funktionäre eine Beziehung mit ihr eingehen, ohne deshalb in Konflikt mit den antitrotzkistischen Spitzen der Bürokratie zu geraten.
Die OCI bezeichnete diese unteren Funktionäre des Gewerkschaftsapparats als „organisatorische Kader der Arbeiterklasse“ oder als „natürliche Organisatoren der Klasse“ – zwei Begriffe, die sich in ihren Schriften ständig wieder finden. Sie war sich im Klaren darüber, dass diese Schicht für den Apparat von entscheidender Bedeutung war, um die Kontrolle über die Mitgliedschaft zu sichern. Trotzdem behauptete sie, der Gegensatz zwischen der oberen und der unteren Ebene der Bürokratie – zwischen „Apparat“ und „Kadern“ – werde letztere in eine revolutionäre Richtung treiben.
So heißt es in einer programmatischen Erklärung, die Anfang 1968 in la vérité erschien, die „Kader“ seien „sowohl die Vermittler, mittels denen der Apparat – und vor allem der stalinistische Apparat – seine Kontrolle über die Klasse sichert, als auch die militante Schicht, durch die sich das Proletariat als Klasse herausbildet und organisiert“. In derselben Erklärung werden diese „organisatorischen Kader“ auf „10 bis 15.000 Aktivisten“ beziffert, die „zum großen Teil durch die Kommunistische Partei kontrolliert und organisiert“ werden. (13)
Ihre eigene Aufgabe sah die OCI darin, „den objektiven Widerspruch zur Reife und zum Bruch zu treiben, der die pro-bürgerliche Orientierung des Apparats in Konflikt mit diesen Aktivisten und organisatorischen Kadern bringt, die notwendigerweise weiterhin Widerstand leisten und mit ihrer Klasse kämpfen müssen“.
Die eben zitierten Passagen sind mit heftigen Angriffen auf den Pablismus verbunden. Doch die Haltung, welche die OCI 1968 gegenüber den Gewerkschaften und dem Stalinismus einnahm, unterschied sich kaum mehr von jener der Pablisten im Jahr 1953. Pablo war damals zum Schluss gelangt, eine neue revolutionäre Offensive werde sich nicht in Form einer unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse unter dem Banner der Vierten Internationale entwickeln, sondern in Form eines Linksschwenks von Teilen des stalinistischen Apparats unter dem Druck objektiver Ereignisse. In ähnlicher Weise versprach sich die OCI eine revolutionäre Entwicklung aus der „internen Differenzierung innerhalb der Organisationen und dem Reifen des derzeitigen Widerspruchs zwischen dem Apparat und den organisatorischen Kadern der Klasse“.
Auch wenn es 1968 innerhalb der Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei heftige Spannungen und Differenzen gab, eine revolutionäre Strömung hätte sich nur durch einen offenen Kampf gegen den Stalinismus und den politischen Bruch mit ihm herausbilden können. Doch dieser Aufgabe ging die OCI aus dem Weg, indem sie die Einheitsfront zur Strategie erhob und ihre eigene Identität versteckte.
Es gibt in de Massots Buch auch viele Stellen, die nahe legen, die Stalinisten selbst könnten sich wieder der Revolution zuwenden. So lobt er einen Aufruf der stalinistischen Jugendorganisation vom 13. Mai, weil er kein böses Wort gegen die „Linksradikalen“ enthalte, zur Einheit der Studenten, Gymnasiasten und jungen Arbeiter aufrufe und für eine Arbeiterregierung eintrete, und kommentiert ihn mit den Worten: „Der Apparat sieht sich nicht nur gezwungen, der Bewegung zu folgen. Um die Kontrolle aufrecht zu erhalten und die Initiative in der Arbeiterklasse wieder zu gewinnen, muss er ihr auch in gewisser Form und gewissen Grenzen vorangehen: die Spitze übernehmen. ... Indem er so vorgeht, sammelt der Apparat die Aktivisten um sich herum, und diese radikalisieren dann auch die Arbeiterklasse als ganze.“
Anmerkungen
1) François de Massot, „La grève générale (Mai-Juin 1968)“, Supplément au numéro 437 d’ Informations Ouvrières. Alle in diesem Teil angeführten Zitate stammen, wenn nicht anders angegeben, aus diesem Buch.
2) Leo Trotzki, „Der Zentrismus und die IV. Internationale“, in „Schriften über Deutschland“, Frankfurt 1971, S. 671 / Leo Trotzki, „Was nun?“, ebd. S. 243
3) unsere Hervorhebung
4) Zitiert in Leo Trotzki, „Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats“, in „Schriften über Deutschland“, Frankfurt 1971, S. 222
5) Leo Trotzki, „Die Dritte Internationale nach Lenin“, Essen 1993, S. 100
6) Zitiert in „Was nun?“, op.cit. S. 222-223
7) de Massots Hervorhebung
8) Zur Haltung der marxistischen Bewegung zu den Gewerkschaften siehe David North, Marxismus und Gewerkschaften, http://www.wsws.org/de/sydney/gewerk.htm
9) Leo Trotzki, „Die neue Etappe“, in „Europa und Amerika“, Essen 2000, S. 80
10) ebd. S. 79
11) Daniel Gluckstein, Pierre Lambert, „Itinéraires“, Éditions du Rocher 2002, p.51
12) La vérité No. 541, avril-mai 1968
13) „Le bonapartisme gaulliste et les tâches de l’avant-garde“, la vérité No. 540, février-mars 1968