Diese achtteilige Serie erschien erstmals im Mai und Juni 2008 zum vierzigsten Jahrestag des Generalstreiks in Frankreich auf der WSWS. Sie analysiert die damaligen Ereignisse und zieht die politischen Lehren für heute daraus.
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Die Losung des „zentralen Streikkomitees“
Leo Trotzki hatte seinen französischen Mitstreitern 1935 die Losung der „Aktionskomitees“ vorgeschlagen. Damals entwickelte sich eine rasche Radikalisierung der Arbeiterklasse, die aber größtenteils unter dem Einfluss der Volksfront stand, einem revolutionsfeindlichen Bündnis von Stalinisten, Sozialdemokraten und bürgerlichen Radikalen. Unter diesen Umständen betrachtete Trotzki die Aktionskomitees als Mittel, den Einfluss der Volksfront über die Massen zu schwächen und deren unabhängige Initiative zu fördern.
„Die Führung der Volksfront muss direkt und unmittelbar den Willen der kämpfenden Massen widerspiegeln. Wie? Sehr einfach: durch Wahlen“, schrieb er. „Je zweihundert, fünfhundert oder tausend Bürger, die sich in einer bestimmten Stadt, einem Stadtteil, einer Fabrik, einer Kaserne, in einem bestimmten Dorf der Volksfront anschließen, müssen während der Kampfhandlungen ihren Vertreter in ein lokales Aktionskomitee wählen. Alle Teilnehmer des Kampfes verpflichten sich, die Disziplin dieses Komitees anzuerkennen.“ (14)
Die Losung des „zentralen Streikkomitees“, die 1968 im Mittelpunkt des Eingreifens der OCI stand, lehnte sich an Trotzkis Vorschlag an. In den Aufrufen der OCI finden sich Formulierungen, die fast wörtlich aus seinen Schriften entnommen sind. Aber wie im Falle der Einheitsfront, beraubte die OCI auch diese Losung jedes revolutionären Inhalts.
Viele ihrer Aufrufe beschränkten sich auf die bürokratisch penible Aufzählung der verschiedenen Ebenen der hierarchischen Struktur, auf die sich das nationale Streikkomitee stützen sollte. Typisch ist eine Erklärung mit der Überschrift: „Ja, die Arbeiter können siegen: Schmieden wird die Waffe des Siegs. DAS ZENTRALE STREIKKOMITEE!“, die am 23. Mai, mitten im Generalstreik, massenhaft als Sondernummer von Informations Ouvrières verbreitet wurde.
Darin heißt es: „Wie kann die allgemeine Bewegung der Arbeiterklasse und der Jugend zu einer einzigen, unbesiegbaren und siegreichen Kraft vereint werden? Auf diese Frage eine einzige Antwort: Organisation der Streikkomitees auf örtlicher Ebene zu einem interprofessionellen Streikkomitee, im Departement müssen die Delegierten departementale oder regionale interprofessionelle Streikkomitees schaffen. Auf nationaler Ebene müssen die Föderation der Streikkomitees und die Arbeiterorganisationen ein zentrales Streikkomitee bilden. Jeder Aktivist, der sich an einem Streikkomitee beteiligt, jeder Arbeiter, der einem Streikposten angehört, muss die Initiative in diesem Sinn ergreifen. Die Führung und die Entscheidungen der flächendeckenden Klassenbewegung müssen in den interprofessionellen Streikkomitees gebündelt werden, die aus den Streikkomitees in den Unternehmen hervorgegangen sind. Die Versammlung der Streikenden im Unternehmen, die Versammlung aller Streikenden aller Unternehmen im Ort müssen die Entscheidungsmacht bündeln.“
Nicht nur die Sprache, sondern auch der Inhalt dieses Aufrufs entsprechen eher der bürokratischen Mentalität eines Buchhalters, als dem Kampfgeist eines revolutionären Arbeiters. Sein Ziel ist die Überwindung der Spaltung zwischen den verfeindeten bürokratischen Apparaten und nicht die Befreiung der Arbeiter vom Würgegriff aller bürokratischen Apparate. Hatte Trotzki erklärt, die Aktionskomitees seien „das einzige Mittel, den antirevolutionären Widerstand der Partei- und Gewerkschaftsapparate zu brechen“, so sind sie für die OCI der „höchste Ausdruck der Einheitsfront von Gewerkschaften und Arbeiterparteien“.
Trotzki betrachtete die Aktionskomitees als Foren der Auseinandersetzung und des politischen Kampfs: „Im Hinblick auf die Parteien kann man die Aktionskomitees ein revolutionäres Parlament nennen: die Parteien sind nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil notwendig vorausgesetzt: gleichzeitig werden sie in der Aktion geprüft, und die Massen lernen sich von dem Einfluss der verrotteten Parteien zu befreien.“ Für die OCI dagegen dienen sie dazu, die „Einheit“ der Arbeiter mit den verrotteten Gewerkschaften und Parteien herzustellen.
Sie verzichtet sogar darauf, die Losung der Streikkomitees mit einem eigenen Programm von Übergangsforderungen zu verbinden. Das Streikkomitee ist für sie das Programm, wie folgender Absatz aus dem Buch de Massots deutlich macht: „Wie man sehen kann, steht über die Frage des zentralen Streikkomitees des Schicksal des Generalstreiks selbst auf dem Spiel. Dieses Ziel fasst organisatorisch – das heißt auf dem höchsten politischen Niveau – sämtliche Aspekte einer Organisation zusammen, die den Bedürfnissen der Bewegung entspricht: den Aspekt der Definition der grundlegenden Ziele des Generalstreiks und ihrer politischen Konsequenzen, die Aspekte der Vereinheitlichung des Streiks, die Aspekte der Verwirklichung der Arbeitereinheitsfront ...“
Dieses „organisatorisch – das heißt auf dem höchsten politischen Niveau“ bringt die zentristische Philosophie der OCI auf den Punkt. Für Marxisten sind Perspektivfragen die höchsten politischen Fragen, für Zentristen sind es Organisationsfragen. Doch wie der Generalstreik von 1968 und unzählige andere Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung gezeigt haben, kann der Ruf nach organisatorischer Einheit die komplexen Fragen, die mit einer sozialistischen Umwälzung verbunden sind, nicht beantworten. Das erfordert eine politische Perspektive und eine klare Abgrenzung von der Bourgeoisie und ihren reformistischen und zentristischen Agenturen.
Die Konzeptionen der OCI erinnern stark an jene Marceau Piverts, eines notorischen Zentristen, den Trotzki in seinem Artikel über die Aktionskomitees explizit angriff. „So sehr die Zentristen auch von den ‘Massen’ schwätzen, stets orientieren sie sich nach dem reformistischen Apparat“, schrieb er. „Wenn Marceau Pivert diese oder jene revolutionäre Losung nachspricht, ordnet er sie dem abstrakten Prinzip der ‘organischen Einheit’ unter, die in Wirklichkeit Einheit mit den Patrioten gegen die Revolutionäre bedeutet. Während es für die revolutionären Massen eine Lebensfrage ist, den Widerstand der vereinigten sozialpatriotischen Apparate zu brechen, betrachten die linken Zentristen die ‘Einheit’ dieser Apparate als ein absolutes, über den Interessen des revolutionären Kampfes stehendes Gut.“
Anschließend verdeutlichte Trotzki noch einmal seine Konzeption der Aktionskomitees: „Nur der kann Aktionskomitees schaffen, der restlos die Notwendigkeit begriffen hat, die Massen von der verräterischen Führung der Sozialpatrioten zu befreien. (...) Voraussetzung für den Sieg des Proletariats ist die Beseitigung der heutigen Führung. Die Losung der ‘Einheit’ wird unter all diesen Umständen nicht nur eine Dummheit, sondern auch ein Verbrechen. Keine Einheit mit den Agenten des französischen Imperialismus und des Völkerbundes. Ihrer treubrüchigen Führung heißt es die revolutionären Aktionskomitees gegenüberstellen. Diese Komitees kann man nur schaffen, wenn man unbarmherzig die antirevolutionäre Politik der so genannten ‘Revolutionären Linken’ mit Marceau Pivert an der Spitze anprangert.“
Die OCI während des Generalstreiks
Die OCI verfügte zwar 1968 nur über relativ bescheidene Kräfte, diese waren aber stärker als die der Pablisten. Mit der Fédération des etudiants révolutionnaires (FER) verfügte die OCI über ihre eigene Studentenorganisation, und im Gegensatz zu den Pablisten war sie in mehreren Betrieben verankert.
Die FER lehnte die Konzeptionen der Pablisten und der Neuen Linken ab, die den Studenten die Rolle einer „revolutionären Avantgarde“ zuschrieben und deren teilweise abenteuerlichen Aktionen unkritisch unterstützten. Sie setzte sich für eine Orientierung auf die Arbeiterklasse ein und gewann auf dieser Grundlage zahlreiche neue Mitglieder. Doch diese Orientierung beruhte auf einer zentristischen Grundlage, sie blieb auf organisatorische Initiativen beschränkt. Sie bewegte sich im Rahmen der „Einheitsfrontpolitik“ der OCI, das heißt, sie bestand hauptsächlich aus Appellen an die Gewerkschaften, große, gemeinsame Demonstrationen von Arbeitern und Jugendlichen durchzuführen, und aus Aufrufen für ein zentrales Streikkomitee. Die FER führte keine systematische Offensive gegen die Politik der Stalinisten und Sozialdemokraten und gegen die Theorien der neuen Linken, was gerade an den Universitäten, den Brutstätten der bürgerlichen Ideologie, unbedingt notwendig gewesen wäre.
De Massot schildert in seinem Buch das Eingreifen der FER auf einer Versammlung, die am 8. Mai, während der Straßenschlachten im Quartier Latin, von der pablistischen Jeunesse communiste révolutionnaire (JCR) in der Pariser Mutualité durchgeführt wird. Ein Redner der JCR spricht sich dort unter dem Beifall des Anarchisten Daniel Cohn-Bendit, der ebenfalls das Wort ergreift, gegen eine Klärung der politischen Linie aus, weil dies die Bewegung spalten würde. Stattdessen gelte es Themen zu finden, mit denen alle übereinstimmen könnten. „In Abwesenheit einer revolutionären Partei sind die wirklichen Revolutionäre diejenigen, die gegen die Polizei kämpfen“, fügt er hinzu.
Dem widersprechen die Vertreter der FER. Sie schlagen vor, alle Energie der Studenten auf die Verwirklichung der Parole „zentrale Demonstration der Arbeiter und der Jugend“ zu konzentrieren. Der Kampf müsse „weiter ausgedehnt, koordiniert und organisiert werden durch die Bildung von Streikkomitees und eines von der UNEF unterstützten nationalen Streikkomitees“. Zwei Tage später veranstaltet die FER eine eigene Versammlung unter der Parole „500.000 Arbeiter ins Quartier Latin“. Diese Parole verbreitet sie zehntausendfach als Flugblatt in den Betrieben.
Wenige Tage später, am 13. Mai, sehen sich die Gewerkschaften dann tatsächlich gezwungen, zu einem eintägigen Generalstreik und zu gemeinsamen Demonstrationen von Arbeitern und Studenten aufzurufen, an denen sich Millionen beteiligen. Nun entgleitet die Bewegung ihrer Kontrolle. In den folgenden Tagen breitet sich der Generalstreik mit einer Welle von Betriebsbesetzungen über das ganze Land aus. An die zehntausend Arbeiter beteiligen sich und legen ganz Frankreich lahm.
Aber die OCI und FER halten weiterhin an ihrem syndikalistischen Kurs fest. Sie konzentrieren sich nun ganz auf die Forderung nach einem nationalen Streikkomitee. Noch am 13. Mai veröffentlicht die OCI – ausnahmsweise im eigenen Namen – ein entsprechendes Flugblatt, das in den folgenden Tagen in hoher Auflage an den Betrieben verteilt wird.
Dieses Flugblatt umfasst kaum zwanzig Zeilen. Es enthält kein politisches Wort. Es besteht aus einer Sammlung von hohlen Phrasen („Der Kampf hat begonnen“; „Es lebe die Einheit“; „Für den Sieg“; „Vorwärts“), Ausrufen („Alle vereint, Arbeiter und Studenten, können wir siegen“) und allgemeinen Parolen („Nieder mit de Gaulle“; „Nieder mit dem Polizeistaat“). Als wäre der Ton nicht schreierisch genug, wird ein Großteil des Textes durch Großbuchstaben und Fettdruck hervorgehoben. Das Flugblatt gipfelt in den Worten: „Arbeiter von Renault, Panhard, S.N.E.C.M.A, Arbeiter in allen Betrieben, Büros, Werkstätten, von uns hängt der Sieg ab. Wir müssen die Arbeit niederlegen, demonstrieren, unsere Streikkomitees wählen.“
Es gibt keinen Versuch, die neue Lage zu analysieren, die politischen Aufgaben zu formulieren und sie den Arbeitern zu erklären. Angesichts einer sich rasch entwickelnden revolutionären Situation hat die OCI nur allgemeine Aufrufe zum gemeinsamen Kampf zu bieten. Kein Wort über die Rolle der Kommunistischen Partei und Mitterrands FGDS; keine Warnung vor der verräterischen Rolle der Gewerkschaftsbürokratie; kein Silbe zur Frage der Arbeiterregierung.
Zwei Wochen später, am 27. Mai, lehnen die streikenden Arbeiter das Abkommen von Grenelle ab, das Regierung, Unternehmerverbände und Gewerkschaften ausgehandelt haben. Die Frage der Macht steht nun offen im Raum. Das steht auch für de Massot fest, der schreibt: „Die Millionen Streikenden haben auf einen Schlag den Staatsapparat erschüttert, die sorgfältig zwischen Regierung, Unternehmern und den Führern der Arbeiterbewegung entworfenen Pläne beiseite gewischt ... Jetzt stellt sich die Frage der Macht unmittelbar ... Damit die Forderungen des Generalstreiks erfüllt werden, muss die Regierung weggefegt werden.“
Doch die OCI rennt mittlerweile den Ereignissen hinterher. In dem Flugblatt, das sie – diesmal im Namen der Comités d’alliance ouvrière – massenhaft verbreitet, findet sich zur Frage der Regierung kein Wort. Auf einer halben Seite wird fünf Mal der Aufruf „Unterzeichnet nicht!“ wiederholt – in Großbuchstaben und in Fettschrift. Doch von einer Unterzeichnung des Grenelle-Abkommens kann zu diesem Zeitpunkt gar keine Rede mehr sein. Nachdem die Renault-Arbeiter CGT-Chef Georges Séguy ausgepfiffen haben, hat die Gewerkschaft kalte Füße bekommen und einen vorübergehenden Rückzieher gemacht. Das Flugblatt der OCI gipfelt in der Forderung: „Führer der CGT, der CGT-FO, der FEN, ihr müsst mit der UNEF die Klasseneinheitsfront gegen die Regierung und den Staat verwirklichen.“
Am selben Tag findet die Großveranstaltung der PSU, der UNEF und der Gewerkschaft CFDT im Pariser Stadion Charléty statt, die einer bürgerlichen Übergangsregierung unter Pierre Mendès-France den Weg ebnen soll. De Massot bezeichnet diese Versammlung rückblickend als „Jahrmarkt der Zweideutigkeiten“, auf dem „eine doppelte politische Operation“ vorbereitet worden sei: „Zuerst geht es darum, jenen Teil der Kämpfenden des Generalstreiks, insbesondere die Jugend, ‘zurückzuholen’, über den der Stalinismus die Kontrolle verliert. ... Außerdem – und in direkter Verbindung mit dem ersten Ziel – muss der Boden für eine bürgerliche Lösung der Regierungskrise vorbereitet werden. Mendès-France ... wird als Mann der Stunde präsentiert...“
Doch auch hier passt sich die OCI an, obwohl sie eine gute Gelegenheit hat, ihren Standpunkt deutlich zu machen. Pierre Lambert tritt nämlich in Charléty als Redner auf. Er spricht zu den 50.000 anwesenden Studenten und Arbeitern allerdings nicht in seiner Funktion als OCI-Vorsitzender, sondern als Gewerkschafter – im Namen der „Gewerkschaftskammer der Angestellten und Führungskräfte der Sozialversicherung ‘Force Ouvrière’“, für die er arbeitet. Er erklärt, „dass die entscheidende Schlacht bevorsteht, dass der Generalstreik die Frage der Regierung in den Vordergrund gerückt hat, dass die Regierung de Gaulle-Pompidou die Forderungen der Streikenden nicht erfüllen kann“. Doch er warnt weder vor den Gefahren einer bürgerlichen Übergangsregierung noch spricht er die Frage einer Arbeiterregierung an. Zumindest geht dies aus dem Bericht de Massots nicht hervor. Stattdessen beschränkt sich Lambert darauf, zum Aufbau von lokalen Streikkomitees sowie eines zentralen Streikkomitees aufzurufen, was er als Weg zum Sieg darstellt.
Auf den Straßen erschallt indes der Ruf nach einer „Volksregierung“. Die Arbeiter sind offenbar weiter als Lambert. Wir folgen hier wiederum der Darstellung de Massots, der schreibt: „In ganz Frankreich finden an diesem 27. Mai Demonstrationen statt, wo die Folgen des ‘Unterzeichnet nicht’ in politische Begriffe übersetzt werden, die sich auf Regierung und Staat beziehen ... ‘Volksregierung!’ rufen die Demonstranten und drücken damit aus, dass sie eine Regierung wollen, die auf die Ziele des Generalstreiks eingeht. ‘De Gaulle muss zurücktreten’, ‘Nieder mit de Gaulle’ skandieren überall Zehntausende und Zehntausende von Leuten, die deutlich bekräftigen, dass es um das Schicksal des Regimes geht.“
Die OCI bemüht sich nicht, diesen Ruf nach einer „Volksregierung“ mit politischem Inhalt zu füllen. Vor allem erklärt sie nicht, wer eine solche Regierung bilden und was ihr politisches Programm sein soll. Das ermöglicht es den Stalinisten der KPF und der CGT, selbst die Parole der „Volksregierung“ zu erheben, obwohl sie überhaupt nicht daran denken, die Macht zu ergreifen, und hinter den Kulissen mit Mitterrand über die Beteiligung an einer bürgerlichen Übergangsregierung verhandeln.
Wie wir in Teil 4 dieser Serie erklärt haben, hätte die Forderung nach einer Regierung von KPF und CGT Macht diesem Zeitpunkt große politische Wirkung entfaltet. Sie hätte die Manöver der stalinistischen Führer empfindlich gestört und den Konflikt zwischen ihnen und den Arbeitern verschärft. Trotzki hatte eine solche Taktik im „Übergangsprogramm!“ vorgeschlagen. Gestützt auf die von den Bolschewiki im Laufe der russischen Revolution gemachten Erfahrungen hatte er geschrieben: „Die an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre gerichtete Aufforderung der Bolschewiki: ‘Brecht mit der Bourgeoisie, nehmt die Macht in eure Hände!’ war für die Massen von unschätzbarem erzieherischen Wert. Das beharrliche Widerstreben der Menschewiki und Sozialrevolutionäre gegen die Machtübernahme... verurteilte sie endgültig in den Augen des Volkes und bereitete den Sieg der Bolschewiki vor.“ (15)
Die OCI erhebt keine derartige Forderung. Sie unterstützt aber die Großdemonstration der CGT vom 29. Mai, die unter der Parole „Volksregierung“ steht, ohne das Doppelspiel der Stalinisten zu kritisieren. Sie greift die UNEF und die CFDT an, weil sie sich nicht an der Demonstration beteiligen (der Grund ist die Weigerung der CGT, die Ausweisung Daniel Cohn-Bendits aus Frankreich zu verurteilen), und behauptet, eine gemeinsame Demonstration aller Gewerkschaften würde unabhängig vom Willen der CGT einer Arbeiterregierung den Weg ebnen. „Einheitlich, von allen Gewerkschaftsorganisationen organisiert, hätte sie den Weg für eine Regierung geebnet, die sich auf den Generalstreik stützt, auf die Arbeiterorganisationen“, behauptet de Massot.
In dem Flugblatt, das die Comités d’alliance ouvrière auf der Demonstration verbreiten, wird die Arbeiterregierung mit dem von der OCI propagierten „zentralen und nationalen Streikkomitee“ gleichgesetzt. „Es ist die einzige Regierung, die Arbeiterregierung, die alle Forderungen der Arbeiter, der Studenten, der Bauern und der Jugend erfüllen kann“, heißt es darin.
Betrachtet die OCI das Streikkomitee also als eine Art Arbeiterrat oder Sowjet, auf die sich eine Arbeiterregierung stützen kann? Die Formulierung in dem Flugblatt legt dies nahe. Doch sie bleibt ein Einzelfall, die OCI schwankt offenbar in dieser Frage. Zudem lösen auch Streikkomitees und Arbeiterräte nicht das Problem der revolutionären Führung. Sie sind ein politischer Kampfplatz für die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, aber kein Ersatz für diese Auseinandersetzung. Doch in dem Flugblatt der OCI findet sich kein kritisches Wort über die KPF und die CGT. Sie werden noch nicht einmal erwähnt.
Am Tag nach der CGT-Demonstration, die allein in Paris über eine halbe Million Teilnehmer versammelt, wendet sich Präsident de Gaulle über das Radio an die Nation und löst das Parlament auf. Die KPF und die CGT begrüßen die Ankündigung von Neuwahlen und verpflichten sich, deren geordneten Ablauf zu garantieren, was einem Aufruf zum Abbruch des Generalstreiks gleichkommt.
Die OCI reagiert mit der Aufforderung, den Streik fortzusetzen, und appelliert an die Gewerkschaften: „Alles hängt von unserer unmittelbaren Antwort ab! Alles hängt vom Aufruf der Gewerkschaftszentralen und der Arbeiterparteien ab! Der Generalstreik wird den Polizeistaat besiegen.“ Das bleibt auch in den folgenden Tagen die politische Linie der OCI: Appelle an die Gewerkschaften und Parteien, die dabei sind, den Generalstreik abzuwürgen, sie sollen weiterkämpfen, zusammenhalten, und nicht nachgeben.
Am 12. Juni wird die OCI gemeinsam mit einem Dutzend weiterer Organisationen, einschließlich ihrer Studenten- und Jugendorganisation, vom Innenminister verboten.
Anmerkungen
14) Dieses und die folgenden Zitate in diesem Abschnitt: Leo Trotzki, „Die Volksfront und die Aktionskomitees“ (26. November 1935), http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1935/11/volksfront.htm
15) Leo Trotzki, „Das Übergangsprogramm“, Essen 1997, S. 109-110